28 Jun

Lakatos‘ Synthese von Popper und Kuhn

Von Gerhard Schurz (Düsseldorf)


Als ich die Arbeit von Imre Lakatos „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme“ (1974) als Student das erste Mal las, war ich beeindruckt. Lakatos schaffte es darin nämlich, zwei wissenschaftstheoretische Perspektiven zu verbinden, die mir bis dahin als unversöhnlich erschienen waren: die von Karl Poppers „Logik der Forschung“ (1935) und die von Thomas Kuhns „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1967). Karl Popper vertritt in seiner Wissenschaftstheorie ein rigides Konzept von Theorienfalsifikation. Sobald sich auch nur ein Gegenbeispiel zu einer wissenschaftlichen Theorie findet, gilt diese Theorie als falsifiziert, also durch die Erfahrung widerlegt. Dies liegt daran, dass Popper zufolge alle Theorien die Form von strikten Allhypothesen haben, beispielsweise „Für all x gilt: wenn x ein Metall x, dann leitet x Strom“. Solche Allhypothesen können aus streng logischen Gründen, durch ein einziges Gegenbeispiel (ein Stück Metall, das nicht den Strom leitet) widerlegt werden. Dagegen können sie durch keine endliche Menge von positiven Beispielen verifiziert bzw. bewahrheitet werden; Popper nannte dies die „Asymmetrie von Verifikation und Falsifikation“.

Poppers rigider Falsifikationismus (von Lakatos später auch „naiver“ Falsifikationismus genannt) wurde von Thomas Kuhn stark kritisiert. Kuhn zufolge vollzieht sich Wissenschaftsentwicklung auf der Grundlage sogenannter Paradigmen, wie etwa das Paradigma der klassischen (New­tonschen) Physik oder das der (Darwinschen) Evolutionstheorie. Ein Kuhnsches Paradigma enthält zumindest zwei Komponenten: (i) allgemeine theoretische Prinzipien und (ii) Musterbeispiele erfolgreicher Anwendungen. Das wissenschafts­soziolo­gische Korrelat eines Paradigmas ist eine Scientific Community, die am akzeptierten Paradigma festhält und an seiner Weiterentwicklung arbeitet. Wissenschaftsentwicklung vollzieht sich Kuhn zufolge in zwei sich ablösenden Phasen, einer normalwissenschaftlichen und einer revolutionären Phase. Die gemeinsame Akzeptanz eines sogenannten Paradigmas er­möglicht in der normalwissen­schaftlichen Phase kontinuier­lichen Wissens­fortschritt. Wenn sich gewisse Daten, sogenannte Anomalien, einer kohä­renten Erklärung durch das Paradigma wider­setzen, werden diese Kon­flikte durch Modifikationen der aktuell akzeptierten Theorie oder ihrer Anwendungen innerhalb des akzeptierten Para­digmas be­reinigt. Kuhns zentrale These ist nun, dass eine derartige Bereinigung eines Konfliktes zwischen akzeptierter Theorie und widerspenstigen Daten im Prinzip immer möglich ist. Würde dies tatsächlich zutreffen, so wäre Poppers logisch-deduktiver Falsifikationsbegriff damit erledigt.

     Kuhn führte für seine These einen radikalen Grund an: Er behauptet, dass ein Paradigma nicht nur die grund­legenden Prinzipien und Problemstellungen einer Theorie bestimmt – nein, es bestimmt sogar die Beobachtungsdaten selbst. Mit anderen Worten, Beobachtung ist grundsätzlich theoriegeladen; es gibt gar keine theorie- bzw. paradig­menneutrale Beobachtung. Als ich dies als Student las, war mir klar: wenn dies zuträfe, würde nicht nur Falsifikation in der Wissenschaft nicht mehr funktionieren; es wäre dann überhaupt kein rationaler Vergleich von  paradigmatisch unterschiedlichen Theorien anhand einer gemeinsamen theorieneutralen Beobachtungsbasis mehr möglich. In der Tat vollzieht sich Kuhn zufolge die Entscheidung zwischen konkurrierenden Paradigma im wesentlichen als politischer Prozess. Häufen sich die Widersprüche zwischen dem akzeptierten Paradigma und den Beobachtungen, so beginnen jüngere Gelehrte nach einem neuen Paradigma zu suchen. Sobald ein solches gefun­den ist, tritt die Wissenschaftsentwicklung für eine gewisse Zeit in eine re­volutionäre Phase ein, in der zwei Paradigmen um die Vorherrschaft kämp­fen. Als Beispiele führt Kuhn den Über­gang von der ptolemäischen zur kopernikanischen Kosmologie, von der Linnèschen zur Darwinschen Biologie oder von der New­tonschen zur Ein­steinschen Physik an. Da während eines Wechsel des Paradigmas alle gemeinsamen Rationalitätsstandards weg­gefallen sind und alle bisherigen Erfahrungs­daten neu interpretiert werden, sind die zwei konkurrierenden Paradigmen, gemäß Kuhns bekannter Inkommensura­bilitätsthese, rational unver­gleichbar, und der Kampf um die Vorherrschaft findet in Form eines wissenschaftspolitischen Macht­kampfes statt, in dem die Anhänger des alten Paradigmas schließlich aus­sterben, wodurch sich das neue Paradigma durchsetzt und eine neue nor­malwissen­schaftliche Phase einläutet.

     Das sind radikale Thesen, die sich mit der tatsächlichen Wissenschaftsentwicklung nur schwer in Einklang bringen lassen. Es scheint unkontrovers zu ein, dass, entgegen Kuhn, die kopernikanische der ptolemäischen Kosmologie, die Darwinsche der Linnéschen Biologie oder die Einsteinsche der Newtonschen Physik rational überlegen ist, da in allen drei Fällen von der Nachfolgetheorie weitaus mehr erfolgreiche Erklärungen oder Voraussagen geliefert werden und weniger Konflikte mit den Beobachtungen auftreten. Worin Kuhn andererseits zweifellos Recht hat, ist, dass keine widerspenstige Beobachtung die Preisgabe eines Paradigmas mit logischer Notwendigkeit zur Folge hat. In meinen Augen liegt Lakatos‘ große Errungenschaft darin, dass sein Wissenschaftsmodell elegant erklären kann, wieso in der Tat logische Widersprüche zwischen Theorien und Beobachtungen jederzeit  durch ad hoc Modifikationen zum Verschwinden gebracht werden können, ohne die grundlegende Annahme jeder erfahrungsorientierten Wissenschaftstheorie preiszugeben, der zufolge konkurrierende Theorien über eine gemeinsame Erfahrungsbasis verfügen, anhand derer sie rational überprüft und verglichen werden können. Diese Erfahrungsbasis ist unabhängig von den zu bewertenden Theorien und relativ zu diesen theorieneutral – auch wenn die Erfahrungsbasis selbst noch von gewissen basalen Theorien wie z.B. Alltagstheorien abhängen mag (Schurz 2014, Kap. 2.7.2) .

     Auf diese Weise hatte Lakatos eine alternative Interpretation von Kuhns wissenschaftshistorischen Einsichten ermöglicht. Sein Programm des „raffinierten Falsifikationismus“ geht von folgender Grundannahme aus: Jede (physikalische) Theorie benötigt spezielle Hilfshypothesen, um zu empirischen Prognosen zu gelangen. Meistens haben diese Hilfshypothesen die Form von exklusive Ceteris-Paribus (eCP) Hypothesen. Eine eCP-Hypothesen besagt, dass auf das fragliche Objekt (z.B. ein Planet, wenn seine Bahn vorausgesagt werden soll) im betrachteten Voraussagezeitraum nur die-und-die Kräfte bzw. Kausalfaktoren wirken und sonst keine. Solche Hilfshypothesen lagern sich nach Lakatos wie ein Schutzgürtel in der äußeren Peripherie um den Kern der fraglichen Theorie. Es ist nur der Theoriekern ist, der die Identität einer Theorie in ihren historischen Erweiterungen und Wandlungen bestimmt, nicht die Peripherie. Den Theoriekern zusammen mit der aktuell akzeptierten Peripherie nennt man auch die akzeptierte Theorieversion. Eine Anomalie – d.h., ein Beobachtungsdatum, das der akzeptierten Theorieversion widerspricht – würde nur dann zu einer Falsifikation der Theorie führen, wenn an der in der Peripherie enthaltenen eCP-Hypo­these festgehalten wird, was implizieren würde, dass der Theoriekern falsch war und verändert werden muss. Im Regelfall wird der Verfechter einer Theorie angesichts einer Anomalie jedoch die ursprüngliche eCP-Hypothese fallen lassen und stattdessen neue Hilfshypothesen annehmen, in denen unbekannte Störfaktoren postuliert werden, die für die Abweichung der Beobachtungen von den ursprünglichen Voraussagen verantwortlich sind. Auf diese Weise ist es immer möglich, den Konflikt zu beseitigen. Lakatos‘ These erklärt damit höchst elegant, weshalb kein empirisches Gegenbeispiel einen Theoriekern bzw. ein Paradigma endgültig widerlegen kann. Durch das ad-hoc Postulat von bisher übersehenen Störfaktoren lässt sich die Theorie im nachhinein immer „retten“ – ein Mechanismus, der insbesondere von Verschwörungstheorien bekannt ist. Lakatos (1974, S. 98f.) bringt dazu eine fiktive Geschichte von einer falsch vorausgesagten Planetenbahn, die durch einen kleinen Störplaneten erklärt wird, dessen Nichtbeobachtbarkeit durch eine kosmische Staubwolke erklärt wird, deren Nichtbeobachtbarkeit durch ein ungewöhnliches Magnetfeld erklärt wird (usw.).

     Hilfshypothesen sind zunächst immer ad-hoc, denn durch sie wird werden unbeobachtete Faktoren postuliert, die lediglich den Zweck haben, den Widerspruch zwischen dem widerspenstigen Datum E und der Gesamttheorie T wegzuerklären, ohne jedoch, wenn auch nur in indirekten Weise, unabhängig empirisch bestätigt worden zu sein. Solange dies der Fall ist, bleibt die abweichende  Beobachtung auch nach der ad-hoc Anpassung der Theorie ein Misserfolg der Theorie. Es ist aber durchaus möglich, dass eine solche ad-hoc Hypothese im Nachhinein unabhängig bestätigt wird. In diesem Fall verliert sie ihren ad-hoc Charakter und erhöht den empirischen Gehalt der Theorie. Als beispielsweise J. Adams und U. Le Verrier 1846 eine beträchtliche Ab­weichung des Planeten Uranus von der vorausgesagten Bahn entdeckten, postulierten sie ad-hoc einen bisher unbekannten Planeten Neptun, dessen Gravitationswirkung auf den Uranus für dessen Abweichung von der vorausgesagten Bahn verantwortlich sei, und erklärten die Tatsache, dass ihn bislang noch niemand beobachtet hatte, damit, dass er zu klein sei, um von den bisherigen Teleskopen gut gesehen zu werden. In der Tat konnte der Planet Neptun ein wenig später mit stärkeren Teleskopen beobachtet werden, wodurch die Neptun-Hypothese ihren ad-hoc Status verlor, was als glänzender Erfolg der Newtonschen Physik gewertet wurde. Andererseits beobachtete Le Verrier auch eine Abweichung des Planeten Merkur von seiner vorausgesagten Bahn und postulierte zur Erklärung dieser Abweichung ca. 1856 einen noch kleineren Planeten namens Vulkan. Dieser Planet konnte trotz hartnäckiger Versuche nicht teleskopisch aufgefunden werden; die Vulkan-Hypothese blieb also ad-hoc. Erst wesentlich später gelang es, die Abweichungen des Merkur von seiner vorausgesagten Bahn zu erklären – aber nicht durch Preis­gabe einer Hilfshypothese, sondern durch Übergang zu einem neuen Theoriekern: die Abweichung des Merkur konnte nämlich in der speziellen Relativitätstheorie erklärt werden.

     Eine ad-hoc Anpassung einer Theorie im Angesicht einer Anomalie ist Lakatos zufolge nur zulässig, wenn sie wissenschaftlich progressiv ist. Eine ad-hoc Anpassung ist theoretisch progressiv, wenn die neue Theorieversion den gesamten empirischen bewährten Gehaltsanteil der Vorgängerversion enthält, aber darüber hinaus neuen empirischen Überschussgehalt besitzt, der noch nicht unbedingt überprüft worden sein muss. Wurde ein Teil des empirischen Überschussgehaltes der neuen Version auch bestätigt, dann ist sie auch empirisch progressiv. Ein Theorienübergang gilt als progressiv, wenn er zumindest theoretisch progressiv ist; andernfalls heißt er degenerativ.         Lakatos‘ raffiniertem Falsifikationismus zufolge ist eine Theorieversion aufgrund widerspenstiger Daten erst dann als gescheitert bzw. weich falsifiziert anzusehen, wenn eine bessere Theorieversion entwickelt wurde, also eine, die gegenüber alten Theorieversion progressiv ist. In der Wissenschaft gibt es daher keine Sofortrationalität, keine rationale Sofortentscheidung. Erst aufgrund der historischen Entwicklung gegen­über einem permanenten Input von neuen Daten kann eine Entscheidung über den Erfolg eines Theoriekerns bzw. Forschungsprogrammes getroffen werden.  

     Das Lakatossche Analogon zu Kuhns Paradigmenbegriff ist der Begriff des Forschungsprogramms. Darunter versteht Lakatos einen harten Theoriekern zusammen mit einer negativen und einer positiven Heuristik. Die negative Heuristik besagt, dass Theorieanpassungen nicht am Kern, sondern immer im Schutzgürtel der Peripherie vorgenommen werden sollen; die positive Heuristik skizziert ein Programm, wie durch immer komplexere theoretische Modelle und Hilfshypothesen mit widerspenstigen Daten umgegangen werden kann. Wichtig dabei ist, dass Lakatos‘ Methodologie auch auf Folgen von Theorieversionen anzuwenden ist, in denen eine Veränderung des Theoriekerns bzw. Paradigmas stattfindet. Daher lassen sich Lakatos‘ zufolge, entgegen Kuhn, auch konkurrierende Paradigmen bzw. Forschungsprogramme rational miteinander vergleichen, nämlich über die Erfolge in ihrem Rahmen entwickelten Theorien.


Literatur

Lakatos, Imre (1974): „Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme“, in: Lakatos, I., und Musgrave, A., Kritik und Erkenntnisfortschritt, Vieweg, Braunschweig (engl. Original 1970).

Popper, Karl (1935): Logik der Forschung, J.C.B. Mohr, Tübingen 1976 (10. Aufl. 2004).

Kuhn, Thomas S. (1967): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp, Frankfurt/M. (2. rev. Aufl. 2002, engl. Original 1962).

Schurz, Gerhard (2014): Einführung in die Wissenschaftstheorie (4. überarb. Aufl.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt.


Zum Autor: Gerhard Schurz, Magister der Chemie und Doktor der Philosophie, Lehrstuhlinhaber für Theoretische Philosophie an der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Weitere Funktionen siehe hier.

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