08 Jun

Was wir dafür tun dürfen. 50 Jahre Rote Armee Fraktion und die Frage der Bruchs in der politischen Philosophie

Von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Dieser Text, der das „Jubiläum“ der Gründung der Roten Armee Fraktion (RAF) vor knapp 50 Jahren zum Anlass nimmt, um über politische Gewalt nachzudenken, war schon fertig als in den USA nach der Tötung von George Floyd durch einen Polizisten Unruhen und Proteste ausbrachen. Die Frage dieses kurzen Essays wird durch die Ereignisse der letzten Tage aber in einen neuen und unmittelbar aktuellen Kontext gestellt. Bislang verlaufen die Proteste und Demonstrationen relativ ruhig und gewaltlos (vor allem gemessen am Maßstab der Bewaffnung der Bevölkerung in den USA) – die Situation kann aber jederzeit kippen und der Präsident der USA, Donald Trump, hat relativ rasch offen mit Gewalt und Waffeneinsatz gedroht. Die Aussicht auf ein besseres Leben und soziale Gerechtigkeit ist auch Jahrzehnte nach der Bürgerrechtsbewegung für einen Großteil der schwarzen Bevölkerung in den USA nicht gegeben und sie ist mit alltäglichen Nachteilen, Schikanen durch die Gesellschaft und die Behörden konfrontiert, die, wie der Tod von George Floyd eindrücklich zeigt, ihr Leben bedrohen. Daher auch der eindrückliche Slogan, der eine moralische Minimalbedingung beschreibt: „Black Lives Matter“. Ein weitere aktuelle Ungerechtigkeit zeigt sich in den Auswirkungen der COVID-19 Pandemie, die benachteiligte Bevölkerungsgruppen und insbesondere AfroamerikanerInnen viel stärker trifft als die weiße Bevölkerung. Die Situation zwischen Deutschland 1970 als die RAF sich gründete und den USA 2020 sind natürlich nicht vergleichbar, da die sozialen und politischen Verhältnisse, die Strukturen der sozialen Bewegungen und die Akteure gänzlich andere sind – die Frage der Legitimität der Gewalt, um eine gerechtere Gesellschaft zu errichten, betrifft allerdings beide.

Der 14. Mai 1970 gilt als Gründungsdatum der RAF. Es war der Tag an dem Andreas Baader gewaltsam aus der Haft befreit wurde. Die Journalistin Ulrike Meinhof schloss sich, offensichtlich spontan, den BefreierInnen an und ging mit ihnen gemeinsam in die Illegalität. Wenige Wochen später veröffentlichte Gudrun Ensslin eine erste Stellungnahme über den Aufbau einer „roten Armee“ und knapp ein Jahr danach, im April 1971, wurde das Konzept der „Stadtguerilla“ vorgelegt. War das 40 Jahre Jubiläum des „Deutschen Herbsts“ 2017 noch ausführlich medial begleitet worden, so ging der nun erfolgte runde Geburtstag der RAF in Zeiten von Corona fast vollständig unter.

Heute erscheint die RAF, die sich erst 1998 auflöste, als eine historische Sonderbarkeit, ihre bloße Existenz und ihre Ziele sowie das sie ermöglichende Umfeld als längst überholt. Die radikale Linke in Deutschland und anderswo spielt gesellschaftlich oder politisch (fast) keine Rolle mehr – wenn man von der Mobilisierung zu Großereignissen wie dem G20-Gipfel in Hamburg oder in manchen Bereichen der Ökologie absieht, wobei auch hier zu konstatieren ist, dass etwa die G20-Proteste gescheitert sind. Die Gewaltfrage ist noch mehr als die Systemfrage abgehakt und erledigt. Gewaltfreiheit gilt als selbstverständlich. Alleine schon die Sprache der RAF, ja der gesamten radikalen Linken, ist für viele Menschen unzugänglich und der Sinn ihrer zentralen Begriffe wie Revolution, Bruch, Befreiung, Widerstand bleiben im Dunkeln.

Es ist hier nicht mein Anliegen die RAF, ihr politisches Programm und ihre Taten sowie auch die Taten des Staates, der viele ihrer Mitglieder jahrzehntelang unter teils unwürdigen Bedingungen einsperrte, zu analysieren. Dazu ist aus vielen Perspektiven viel geschrieben worden und manche Hintergründe und Taten, etwa der 3. Generation, liegen noch immer im Dunkeln. Die Kurzfassung lautet wohl: der Staat hat gesiegt, die RAF eindeutig verloren, nicht nur militärisch, sondern vor allem auch politisch und sozial. Der Weg der RAF war ein Irrweg. Die RAF ist, nicht ganz so extrem, aber ähnlich wie Ernesto Che Guevara, zu einer popkulturellen Ware geworden und schon lange keine Inspiration mehr für eine wie auch immer geartete Revolution oder einen Bruch mit dem System. Einige ehemalige Mitglieder der RAF, die sich allesamt früher oder später erschöpft und resignativ vom bewaffneten Kampf losgesagt haben, sind zu lebenden Fossilien der radikalen Linken geworden.

Dennoch ist mit der RAF nicht die Frage nach der Legitimität von Gewalt und sicherlich auch nicht die Frage nach der Legitimität eines radikalen Bruchs mit dem bestehenden wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen System beantwortet worden. Wie auch? Die Gesellschaft, in der wir leben, ist nicht die der 1970er oder 1980er Jahre und ein gescheiterter und fehlgeleiteter Versuch der gewaltsamen Revolte sollte nicht verallgemeinert werden. Klar scheint aus Perspektive der politischen Philosophie und der Unzahl der von ihr produzierten Theorien über eine gerechte Gesellschaft und einen gerechten Staat, dass wir in Zeiten sozialer, vor allem aber radikaler globaler Ungerechtigkeit leben. Es gibt überall Ungleichheit, Armut, Ausbeutung, Sexismus, Rassismus usw. Noch immer herrschen in den Ländern des Globalen Südens großteils Zustände, die „wir“ uns hier im Globalen Norden gar nicht vorstellen, geschweige denn ernsthaft nachfühlen können. Noch immer sterben noch immer Millionen Menschen an vermeidbaren Krankheiten. Auch inmitten des Reichtums und der Flotte an SUVs und zwischen den Hochhausschluchten in den Metropolen des Globalen Nordens leben Menschen auf der Straße, müssen zu Tafeln oder Suppenküchen gehen. Hunderttausende, die Schutz benötigen würden, werden an den Grenzen zurück in ihr Elend gedrängt oder in Lager gepfercht. Das ist alles bekannt.

Wie der Übergang von der herrschenden Ungerechtigkeit zu einem gerechteren System, zu einer gerechteren Gesellschaft, in einem Land oder auch global, funktionieren könnte, darüber wird, so mein Eindruck, in der politischen Philosophie sehr viel weniger nachgedacht als darüber, wie dieses Paradies, was dann kommen soll, aussehen sollte. Ohne die Frage des Übergangs zu beantworten, ist die gerechte Gesellschaft aber nicht einmal eine Hoffnung im Sinne von Ernst Bloch, sondern nur Träumerei. In diesem Sinne ist die Leerstelle der Frage des Bruchs ein Skandalon.

Eine mögliche Strategie ist die des langsamen Fortschritts und Umbaus. Der Bruch kriecht quasi ins System hinein und wird nicht von außen an es herangetragen. Ob man das für realistisch hält, hängt auch davon ab, für wie stark man die Gegenkräfte hält und wie man erreichte wirtschaftliche, soziale und politische Fortschritte einschätzt. Sind diese Ausdruck einer langsamen, aber radikalen Veränderbarkeit des System oder sind diese Fortschritte nicht vielmehr Ausdruck der Absorptionsfähigkeit dieses Systems? In ihrem erhellenden Buch „Der neue Geist des Kapitalismus“, welches nun auch schon 20 Jahre alt ist, haben Luc Boltanski und Eve Chiapello gezeigt, dass der Kapitalismus die ungeheure Fähigkeit hat, kritische Ideen wie etwa das Streben nach Authentizität oder Selbstverwirklichung aufzusaugen und für sich nutzbar zu machen, ohne aber dass der Kapitalismus dadurch in seinen ausbeuterischen Fähigkeiten oder in seinen ungerechten Strukturen tangiert werden würde. Auch die Fortschritte bei der Bekämpfung globaler Armut können wegen der Zählmethoden kritisch gesehen werden und selbst wenn sie so stimmen, dann bleiben noch immer Hunderte Millionen Menschen, die fast nichts zum Leben haben und eine kleine Elite, die fast allen Besitz auf sich vereint.

Was aber tun, wenn die Grenzen des langsamen und schleichenden Umbaus zu einer gerechteren Gesellschaft und Welt bald erreicht sind, wenn sich zeigt, dass das System widerständiger, oder gar gewalttätiger, ist als man hoffen würde? Oder wenn der langsame Umbau einfach zu langsam geht, wenn man nicht akzeptieren will, dass es noch zehn, zwanzig oder mehr Jahre dauert, bis wir Gerechtigkeit haben, weil bis dahin Millionen unschuldiger und unnötiger Opfer zu beklagen sein werden? Hier stellen sich mehrere schwierige Fragen, die nicht nur die Legitimität der Mittel, darunter den Einsatz von Gewalt, betreffen. Es scheint so, dass alleine die Vorstellung einer Revolution heute für viele Menschen, auch politische PhilosophInnen, undenkbar ist, obwohl eine solche wie im Falle der französischen Revolution Motor der sozialen Entwicklung und des Fortschritts war – Hegel soll zur Feier des Jahrestags der Revolution immer ein Glas Champagner getrunken haben.

Das Konzept der RAF beruhte darauf, die Initialzündung für eine Massenbewegung zu sein. Dass einige wenige Dutzend Menschen alleine den Bruch nicht bewirken können, war selbst ihnen klar gewesen. Die Zeichen für eine solche Massenbewegung stehen heute noch viel schlechter als vor 50 Jahren. Es wäre irrsinnig, zu glauben, dass eine kleine militante Gruppe in Deutschland oder in einem anderen Land des Globalen Nordens irgendetwas anderes bewirken könnte als die Ideen, für die sie eintreten, zu desavouieren und Menschen gegen sich aufzubringen. Die gesellschaftliche Einschätzung einer möglichen Legitimität eines „progressiven“ Terrorismus hat sich seit 9/11 radikal gedreht. Auch das war, man denke an Nelson Mandela oder Jassir Arafat, einmal anders.

Abzuwägen ist also, welche Mittel uns zu einer gerechten Gesellschaft, am besten zu einer gerechten Welt verhelfen könnten. Das Ziel heiligt, außerhalb eines kruden Konsequentialismus, nicht alle Mittel. Ob dadurch Gewalt prinzipiell ausgeschlossen ist, ist aber noch nicht gesagt; ja es ist sogar eher unplausibel, dass Gewalt niemals ein legitimes Mittel zur Überwindung von Ungerechtigkeit sein kann. Es gibt legitime Gewalt in allen Staaten, auch solche Gewalt, die nicht vom Staat ausgeht, zum Beispiel im Rahmen der Notwehr. Es gibt natürlich auch legitime Gewalt innerhalb von Unrechtsstaaten, um eben solche zu überwinden und ein großes Ausmaß and Leid zu verhindern. Dafür steht die Geschichte des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, und die RAF, das sei nur angemerkt, sah die BRD, die sie bekämpfte, in dessen Kontinuität. Es gibt auch, dafür stehen die Theorie des gerechten Kriegs und die Idee der humanitären Intervention, legitime Gewalt zwischen Staaten. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, wann ein Staat oder eine gesellschaftliche Ordnung so ungerecht sind, dass sie gewaltsam überwunden werden dürfen. Ist das nur legitim, wenn der Staat bewusst und offensichtlich foltert, tötet, unterdrückt? Ist das Nichtstun angesichts der kommenden Klimakatastrophe schon ausreichend, um die staatliche und mit ihr die wirtschaftliche Ordnung gewaltsam zu stürzen? Schließlich ist davon auszugehen, dass sie sehr viel Leid, Zerstörung und Elend erzeugen wird.

Die globale Vernetzung in Wirtschaft und Politik, die eben auch eine globale Vernetzung des Unrechts und der Ausbeutung ist, stellt die Frage der Überwindung vor neue Herausforderungen, die aber schon früher debattiert wurden. Kann Gerechtigkeit überhaupt nur in einem Land hergestellt werden? Auch die RAF hatte ein internationalistisches Selbstbild, ihre Anschläge sollten die tägliche Gewalt an der Peripherie in das „Herzen der Bestie“ zurücktragen, weil eben Politik, Wirtschaft und Lebensweise im Globalen Norden auf Elend und Gewalt im Globalen Süden beruhen. Man muss keiner starken Dependenztheorie anhängen, um anzuerkennen, dass es solche ungerechten Abhängigkeiten und Ausbeutungsverhältnisse gibt, von denen „wir“ hier profitieren (billige Güter usw.) und der Globale Norden jedenfalls viel zu wenig tut, um globale Gerechtigkeit herzustellen.

Das eröffnet auch die Frage nach dem Subjekt der Gewalt und ihrem richtigen Ort. Ist die Gewalt nur von denen legitim, die unmittelbar selbst von Unrecht und Ungerechtigkeit betroffen sind? Wäre also eine gewaltsame Revolte der ärmsten der Armen dieser Welt legitim, während Gewalt durch wohlmeinende StellvertreterInnen im Globalen Norden es nicht ist? Die RAF sah sich in so einer Stellvertreterposition und glaubte mit ihrer Gewalt für alle Unterdrückten und Opfer des globalen Kapitalismus und der kriegerischen Aggression des Westens (Vietnamkrieg) zu sprechen. Sie kämpfte vor allem für andere, obwohl diese „Anderen“ davon wahrscheinlich nichts mitbekommen haben, nicht gefragt wurden und ihnen dieser Kampf letztlich auch nichts gebracht hat. Auch in dieser Rolle einer Avantgarde ist die RAF eine Geschichte des Scheiterns, weil es trotz allem Internationalismus keine echte Verbindung, geschweige denn Solidarität mit den Massen der Unterdrückten im Globalen Süden gab.

Die Frage nach dem Ort legitimer Gewalt stellt sich in der globalisierten Welt radikaler als „uns“ vielleicht lieb ist. So lange die Gewalt in der Ferne bleibt, können „wir“ gut mit ihr leben, uns arrangieren. Aus der Distanz fällt es auch leichter, militärische Interventionen, Aufstände und Rebellionen als legitim anzusehen. Progressiv ist davon natürlich recht wenig. Klar ist die Vermögensverteilung im Globalen Norden ein politischer und moralischer Skandal – dürfen die Armen, die Arbeitslosen und Hartz-IV-Empfänger sich mit Gewalt holen, was ihnen gemäß fast aller gängigen Gerechtigkeitstheorien zusteht? Ich vermute, dass nicht Wenige, die das emphatisch verneinen, in ihrem Urteil milder sein würden, wenn sich ein solcher Aufstand der Armen für ein besseres Leben und eine gerechtere Verteilung in einem afrikanischen Land ereignen würde, in einem Flüchtlingslager, in einer Favela oder in einem Slum. Ob die politische Philosophie des Globalen Nordens überhaupt auf dem epistemischen Standpunkt steht, solche Urteile zu fällen, ist dadurch noch nicht gesagt. Der Bruch mit der Ungerechtigkeit scheint nötig, aber das „Wie“ völlig offen.

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