13 Dez

Feministische Forschung – Wie gelingt eine gute wissenschaftliche Praxis?

Das Orga-Team der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ in der Akademie für Ethik in der Medizin in alphabetischer Reihenfolge: Mirjam Faissner (Bochum), Isabella Marcinski-Michel (Göttingen), Regina Müller (Bremen), Merle Weßel (Oldenburg)


Als Organisatorinnen der Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ (FME) sprechen wir uns für eine Medizinethik aus, die intersektional sowie kritik- und kontextsensitiv ist, und zu einer epistemisch gerechter(en) Praxis beiträgt. Aber was bedeutet das? Und wie gut können wir das umsetzen? Zwei Fragen, eine Antwort: Es gibt viel zu tun.

“Was gibt’s zu tun?” Mit dieser Frage schloss ein Beitrag von Regina Müller über Feminismus in der Medizinethik, der im Sommer 2021 auf Praefaktisch veröffentlich wurde. Seitdem ist einiges passiert. Unter dem Dach der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. (AEM) hat sich eine neue Arbeitsgruppe „Feministische Perspektiven in der Medizin- und Bioethik“ (FME) gegründet, die ein Forum zum Austausch, zur Sichtbarmachung und zur gemeinsamen Weiterentwicklung feministischer Positionen in der deutschsprachigen Bio- und Medizinethik bietet. 

Mittlerweile haben sich mehrere sehr engagierte Untergruppen zu unterschiedlichen Interessensschwerpunkten entwickelt, etwa zu Digitalisierung, klinischer Ethik, Intersektionalität, feministischen Methoden und Reproduktionsmedizin. Veranstaltungen, zum Beispiel ein Workshop zu Intersektionaler Gerechtigkeit, wurden organisiert und eine systematisierte Recherche feministischer Perspektiven im deutschsprachigen Medizinethik-Diskurs vorgenommen.

Aufbauend auf dieser Übersichtsarbeit und zahlreichen Diskussionen in der Arbeitsgruppe stellt sich eine entscheidende Frage: Wie sieht eine intersektionale, kritik- und kontext-sensible und epistemisch gerechte Medizinethik konkret aus? In diesem Beitrag möchten wir unser Verständnis dieser Begriffe erklären und anschließend diskutieren, welche Schwierigkeiten damit in der Forschungspraxis verbunden sind.

Feministische Medizinethik

Grundlegend für unser Verständnis einer feministischen Medizinethik ist erstens, dass diese epistemische Gerechtigkeit anstreben sollte. Dieser Begriff weist darauf hin, dass im Gesundheitswesen nicht nur allgemein die Ressourcen, sondern auch die Produktion und Verteilung von Wissen gerecht gestaltet sein sollte. Dabei steht etwa die Frage im Vordergrund, wer Wissen produziert. So sind wissenschaftliche Debatten nach wie vor oft von männlichen, weißen Wissenschaftlern und den von ihnen gesetzten Themen geprägt. Aktuell wird die deutschsprachige Medizinethik zudem von Texten aus dem westeuropäischen und angloamerikanischen Raum dominiert. Demgegenüber zielt eine epistemisch gerechte(re) Ethik auf eine wissenschaftliche Praxis, die diverse Perspektiven berücksichtigt und darauf achtet, wessen Beiträge als Wissen anerkannt werden und welche nicht.

Eine feministische Medizinethik sollte zweitens kritisch und kontext-sensibel sein. Kritisch bedeutet für uns, dass eine feministische Medizinethik klassische Medizinethik-Theorien infrage stellt. Diese bleiben oft abstrakt und (miss-)verstehen medizinische Entscheidungen als individuelle Entscheidungen zwischen Ärztinnen* und Patientinnen*. Medizinethische Überlegungen sollten jedoch soziale Kontexte und gesellschaftliche Strukturen ebenso wie die Besonderheiten der jeweiligen Situation der betroffenen Personen einbeziehen. Dabei ist wichtig, dass eine feministische Medizinethik auch die eigenen Theorien und Erkenntnisse prüft.

Drittens sollte eine feministische Medizinethik intersektional und postkolonial sein. Intersektionalität ist ein Konzept aus Schwarzen feministischen Theorien. Aktivistinnen* machten darauf aufmerksam, dass ihre Lebensrealität – zum Beispiel als Schwarze lesbische Frauen – gleichzeitig von Rassismus und Heterosexismus geprägt ist und dies durch bestehende feministische Theorien nicht adäquat reflektiert wurde. Das Konzept der Intersektionalität kann genutzt werden, um die Verschränkung von sozialen Kategorien wie Gender, Race, Schicht, Religion und Behinderung und daraus entstehende Ungerechtigkeiten und Diskriminierungen sichtbar zu machen. Darüber hinaus sollte sich eine feministische Medizinethik mit globalen, kolonial geprägten Ungleichheitsverhältnissen in Medizin und Gesundheitsversorgung auseinandersetzen.

Diese Forderungen für eine feministische Medizinethik repräsentieren ein anzustrebendes Ideal. Doch wie gut können wir dies selbst umsetzen in einem akademischen Umfeld, das von Macht-Dynamiken und fehlender Diversität geprägt ist?

Diversität in akademischen Räumen

Unterdrückungssysteme, wie Rassismus oder Ableismus, werden häufig als strukturell bezeichnet. Das soll verdeutlichen, dass diese Unterdrückungssysteme historisch gewachsen sind und mit institutionellen und sozialen Praktiken verwoben sind. Sie durchziehen unsere Gesellschaft, auch den akademischen Raum, sind aber nicht immer sichtbar. Offensichtlich wird dies, wenn wir uns zum Beispiel kritisch mit der Zugänglichkeit der Räume auseinandersetzen.

Aktuell werden sowohl physische Teilhabebarrieren wie auch ideelle Limitierungen – etwa der starke Fokus in den deutschsprachigen (Medizin-)Ethikdebatten auf westeuropäische und angloamerikanische Theorien und Denker (im Maskulinum) – zu wenig berücksichtigt. In der Critical Race Theory wird dies als Whiteness des akademischen Raumes beschrieben: eine Aufwertung und Normalisierung der angloamerikanischen und eurozentrischen Tradition und eine Abwertung und Ausgrenzung von weiteren Wissenskulturen.

Die tatsächliche Diversität des akademischen Raumes in Deutschland ist noch kaum erforscht. Zwar gibt es mittlerweile Daten dazu, wie groß der Anteil von Frauen in den jeweiligen wissenschaftlichen Karrierestufen ist. Die Untersuchung der Geschlechtervielfalt allein reicht allerdings nicht aus, vielmehr müssen auch andere Formen der Ungleichheit, etwa Rassismus, Klassismus oder Ableismus – auch in intersektionaler Form – in die Untersuchungen aufgenommen werden.

Die soziale Herkunft ist zum Beispiel immer noch ein wichtiger Einflussfaktor auf eine wissenschaftliche Karriere. Hier zeigen sich zwar fachspezifische Unterschiede, aber auch die für die Medizinethik relevanten Disziplinen (Medizin und Philosophie) weisen eine hohe soziale Geschlossenheit auf, sodass dies auch im Querschnittsbereich der Medizinethik erwartet werden kann. Homogene Beschäftigungsstrukturen haben einen Einfluss auf die Themen, die in einem Fachbereich verhandelt werden, sodass auch gesellschaftlich hoch relevante Themen, die v.a. marginalisierte Gruppen betreffen, zu wenig Beachtung finden.

Wissenschaftliche Räume sind zudem von einem bestimmten akademischen Habitus – also inkorporierten sozialen Strukturen, die unsere Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsweisen prägen – gekennzeichnet, der es Menschen ohne akademische Herkunft schwer macht, sie zu nutzen. Eine mangelnde Offenheit akademischer Räume und der für sie charakteristische Habitus bedingen sich gegenseitig und haben eine direkte Wirkung auf eine fehlende Diversität, vor allem mit Blick auf Leitungspositionen.

Die (eigene) wissenschaftliche Praxis

Die Umsetzung einer diversitäts- und diskriminierungssensiblen Praxis stellt auch Gruppen, die sich bereits mit diesen Fragen auseinandersetzen, vor große Herausforderungen. Auch wir ringen damit, einen Raum zu gestalten, der sich für alle Personen sicher, offen und angenehm anfühlt, und stoßen dabei oft an Grenzen. Dies hat uns abermals vor Augen geführt, dass eine feministische Grundhaltung nicht zwangsläufig eine entsprechende wissenschaftliche Praxis zur Folge hat. Eine diversitäts- und diskriminierungssensible Wissenschaftspraxis sollte daher regelmäßig von uns als Wissenschaftlerinnen* überprüft werden.

Dabei sollte sich die Aufdeckung diskriminierender Strukturen und Praktiken nicht nur auf die Aufmerksammachung durch diskriminierte Personen verlassen. Vielmehr müssen wir einen Weg finden, unseren akademischen Habitus eigenständig zu hinterfragen – auf verschiedenen Ebenen.

Auf individueller Ebene kann ein erster Schritt sein, das eigene Zitierverhalten in Augenschein zu nehmen. Als feministische Wissenschaftlerinnen* fällt es uns leicht, darauf zu achten, Autorinnen zu zitieren. Aber wie viele von diesen sind Schwarz, queer und mit einer Behinderung?

Auf kollektiver Ebene bedarf die Gestaltung unserer eigenen Diskussionsräume einer Reflexion. Fragen, die wir an unsere eigenen wissenschaftlichen Räume stellen können, sind: Wer spricht und wem wird zugehört – oder auch nicht? Welche Positionen werden als legitim anerkannt? Wie kann der akademische Raum, insbesondere für marginalisierte Personen zugänglicher gestaltet werden?

Auf struktureller Ebene stellt sich nicht zuletzt die Frage nach der Zusammensetzung der Gruppe. Eine Arbeitsgruppe, die sich als feministisch und offen begreift, ist nicht zwangsläufig divers aufgestellt. Diversität muss vielmehr aktiv gestaltet und Offenheit praktiziert werden. Das heißt zum Beispiel, gezielt die Zusammensetzung der Gruppe zu reflektieren und zu prüfen, welche Perspektiven in der Gruppe vertreten sind und welche nicht.

Eine wiederkehrende Frage: Was gibt’s zu tun?

An die eigenen Grenzen zu stoßen und diese anzugehen, ist herausfordernd. Wir haben mit unserer Arbeitsgruppe keine perfekten Räume geschaffen. Und doch sind es Räume, in denen wir uns als Wissenschaftlerinnen* den Problemen des akademischen Umfeldes stellen. Es sind Lernräume, in denen wir voneinander und miteinander lernen. Diese Lernprozesse sind nicht nur für unsere individuelle wissenschaftliche Praxis wichtig, sondern auch für den akademischen Raum insgesamt. Auf die Frage „Was gibt‘s zu tun?“ haben wir deshalb eine eindeutige Antwort: „Gemeinsam weiter machen!“

Wir laden daher alle ein, gemeinsam weiterzudenken, zu reflektieren und zu kritisieren und freuen uns jederzeit über weitere Mitwirkende bei der Gestaltung einer feministischen Medizinethik.


Das FME Orga-Team in alphabetischer Reihenfolge: Mirjam Faissner (Bochum), Isabella Marcinski-Michel (Göttingen), Regina Müller (Bremen), Merle Weßel (Oldenburg)

Die im Jahr 2021 gegründete AEM AG „Feministische Perspektiven in Medizin- und Bioethik“ hat es sich zum Ziel gesetzt, feministische Ansätze in der deutschsprachigen Medizinethik systematisch zu vernetzen. Die zentralen Aufgaben der AG sind die Diskussion des Verhältnisses von Feminismus und Medizinethik, das Entwickeln eines gemeinsamen Verständnisses einer feministischen Medizinethik, sowie der Erschließung von Forschungsbedarfen. Interessierte sind jederzeit herzlich willkommen und eingeladen, sich an der Arbeit zu beteiligen. Weitere Informationen: regina.mueller@uni-bremen.de.

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