27 Jul

Das moralische Übel der Genfer Flüchtlingskonvention

von Frodo Podschwadek


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Um es vorweg zu nehmen: Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen Menschen, die auf der Flucht sind und entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge gelten, ebenso wenig gegen jene, die laut dieser Konvention keine Flüchtlinge sind. Was dieser Beitrag deutlich machen will, ist, dass die Unterscheidung von Flüchtlingen und ‚bloβen‘ Migranten moralisch fragwürdig ist und die Gefahr birgt, Debatten über die moralischen Rechte von Migranten aller Art ungerechterweise zu verzerren.

Die Definition der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 legt die völkerrechtlich verbindlichen Kriterien fest, die jemand erfüllen muss, um Anrecht auf den Status eines Flüchtlings zu haben und die idealerweise die grundlegenden Richtlinien für Asylverfahren darstellen. Gleichzeitig ermöglicht diese Definition aber auch eine Differenzierung zwischen Flüchtlingen einerseits, mit dem potenziellen Anspruch auf Aufnahme in einem Zielland, und Migranten andererseits, welche diesen Anspruch nicht haben, da sie, so die Annahme, mehr oder minder gefahrlos in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Diese Differenzierung ist beabsichtigt und wird von der UNHCR in der Erklärung ihrer Aufgaben auch explizit gemacht.

Diese Unterscheidung ist einerseits sinnvoll, insbesondere vor dem Hintergrund der humanitären Katastrophen des zweiten Weltkrieges, auf welche die Genfer Flüchtlingskonvention eine Reaktion ist. Die moralische Dringlichkeit, Menschen unter bestimmten Bedingungen Zuflucht auf staatlichem Territorium zu gewähren, ungeachtet ansonsten geltender Einwanderungsbeschränkungen, erhält durch ihre Integration in internationales Recht ein besonderes Gewicht.

Die Absichten hinter einer verbindlichen Definition dessen, was eine Person zu einem Flüchtling macht, werden überwiegend gut gewesen sein, und das Leben vieler Menschen, die aufgrund ihres Flüchtlingsstatus‘ in den vergangenen Jahrzehnten Aufnahme gefunden haben, wäre ohne diese Definition sehr viel schlechter verlaufen. Guter Wille, gute Konsequenzen – auf den ersten Blick scheint es, als wäre die Genfer Flüchtlingskonvention sowohl aus der Sicht Immanuel Kants als auch Jeremy Benthams eine moralische Erfolgsgeschichte. Bei genauerem Hinsehen werden jedoch verschiedene Arten von moralischen Problemen offenbar; einige sind praktischer Natur, andere tieferliegend und konzeptionell mit der vorherrschenden Idee von staatlicher Territorialität verbunden.

Zunächst kann man eine Vielzahl an Beispielen anführen, warum Flüchtlinge nichtsdestotrotz noch immer einen schweren Stand haben und dass vor allem westliche Empfängerländer nicht müde werden, immer neue technische und rechtliche Maβnahmen zu entwickeln, um Migranten, die potenziell als Flüchtlinge gelten und somit Bleiberecht einfordern könnten, an der Einreise zu hindern (für eine so eindrucksvolle wie bedrückende Diskussion solcher Strategien empfehle ich Ayelet Shachars The Shifting Borders). Dies sind moralische Mängel der Akteure, die entsprechend der Flüchtlingskonvention handeln sollten, nicht notwendigerweise der Konvention selbst. Ein tieferliegendes Problem liegt m.E. in der bereits zuvor angemerkten Unterscheidung zwischen Flüchtlingen und (sonstigen) Migranten.

Der weitaus gröβte Anteil an Migranten sind sogenannte Arbeits- oder Wirtschaftsmigranten, die zumeist aus armen globalen Regionen in wohlhabendere Staaten migrieren zu versuchen. Was einen Groβteil dieser Menschen zur Migration motiviert, ist Armut in Kombination mit strukturellen Bedingungen, die es unmöglich (oder zumindest sehr unwahrscheinlich) machen, dieser Armut zu entkommen. Ein Recht zur Aufnahme durch wohlhabendere Empfängerstaaten gibt es für diese Menschen jedoch nicht. Für die meisten ist es schwierig, in ein Empfängerland mit besseren wirtschaftlichen Bedingungen zu migrieren und dort Arbeit zu finden. Im Kontrast zu Flüchtlingen schreibt die breite Öffentlichkeit in wohlhabenden westlichen Ländern Arbeits- bzw. Wirtschaftsmigranten keinen besonderen moralischen Status zu. Oft werden sie stattdessen als wirtschaftliche und kulturelle Bedrohung wahrgenommen. Im deutschen Sprachraum hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff des ‚Wirtschaftsflüchtlings‘ etabliert, der zumeist abwertend verwendet wird, um hervorzuheben, dass es sich in diesen Fällen nicht um ‚echte‘ Flüchtlinge handelt.

In gewisser Weise geht es hier also um eine ontologische Frage – die Frage, was diese Menschen denn nun sind. Diejenigen, die sich an der Definition der Genfer Flüchtlingskonvention orientieren, werden sagen, dass es sich hier nicht um Flüchtlinge handelt. Für andere sind Wirtschaftsmigranten Flüchtlinge, ebenso wie beispielsweise jene Menschen, die aus von Bürgerkriegen betroffenen Regionen flüchten. Wer hat nun recht?

Das hängt natürlich davon ab, welche moralischen Normen man für gültig hält. Der Flüchtlingsstatus eines Menschen ist kein brute fact, wie Berge oder Schwerkraft, sondern abhängig von seinen Beobachtern, observer relative in John Searles sozialer Ontologie. Solange die meisten Mitglieder einer Gesellschaft der sprachlichen wie auch moralischen Konvention folgen, dass Flüchtlinge nur diejenigen sind, auf welche die o.g. Definition zutrifft, bleiben durch Armut bewegte Migranten nun einmal auβen vor.

Die historische Bedeutsamkeit der Genfer Flüchtlingskonvention nun, und die klare Linie, die sie zwischen Flüchtlingen und Migranten zieht, wird hier m.E. zum Problem. Auch wenn viele Bürger wohlhabender Länder nicht mit allen Details der Konvention vertraut sind, so ist ihnen zumeist doch vage bewusst, dass es eine international anerkannte Definition gibt, die jemanden zu einem Flüchtling macht. Das moralisch-politische Gewicht dieser Konvention, derzeit oft im Zusammenspiel mit einer politischen Praxis, die darum bemüht ist, besorgten Bürgern zu versichern, dass nur jenen Zugang gewährt wird, die ihn auch verdienen, sorgt dafür, dass diese Trennline klar im öffentlichen Bewusstsein verankert bleibt. So bleibt es, um weiterhin Searles Terminologie zu verwenden, eine epistemisch objektive Tatsache, dass Menschen, die aufgrund von Armut migrieren, keine Flüchtlinge sind. Die symbolische Wirkung der Flüchtlingskonvention als Institution internationalen Rechts trägt zweifellos einen groβen Teil dazu bei. Während sie also in einer Hinsicht für jene, die als Flüchtlinge anerkannt werden, moralisch Gutes bewirkt, unterstützt sie gleichzeitig eine soziale Ontologie, deren moralischer Einfluss auf den Umgang mit anderen Migranten höchst problematisch ist.

Für dieses moralische Übel gibt es kein einfaches Gegenmittel. Ein Weg, die strikte rechtliche Trennung zwischen Flüchtlingen und Migranten aufzuweichen und damit längerfristig auch die soziale Ontologie von Migration zu ändern, wäre die Erweiterung der Definition von Flüchtlingen.

So erscheint es aus philosophisch-normativer Perspektive durchaus gerechtfertigt, z.B. von ‚Armutsflüchtlingen‘ zu sprechen. Der Druck, dem Menschen unter miserablen wirtschaftlichen Umständen und einer Knappheit grundlegender Ressourcen ausgesetzt sind, ist durchaus vergleichbar mit dem Druck durch politische oder religiöse Verfolgung. In der Pflicht wäre demzufolge die internationale Rechtsprechung, ihre Definitionen anzupassen und anzuerkennen, dass Menschen, die bitterer Armut zu entkommen versuchen, ebenfalls als Flüchtlinge gelten. Eine derartige Aktualisierung würde langfristig, so könnte man hoffen, auch einen Einfluss auf die soziale moralische Praxis in wohlhabenden Empfängerländern haben.

Ob eine derartige Erweiterung der Flüchtlingsdefinition eine hinreichende Lösung ist, bleibt m.E. jedoch zu bezweifeln, stellt sich doch umgehend die Frage nach der Armutsschwelle, unterhalb derer eine Person zum Flüchtling wird.

Man könnte hier z.B. die Einkommensschwelle der Weltbank für extreme Armut zugrunde legen, die bei 1,90 US-Dollar pro Tag liegt. Das würde nach den Zahlen von 2017 etwa 10% der Weltbevölkerung als Flüchtlinge qualifizieren (Aufgrund der COVID-19-Pandemie werden diese Zahlen in naher Zukunft ansteigen). Die wenigsten dieser von extremer Armut betroffenen Menschen wären in der Lage, sich auf den Weg in wohlhabendere Länder zu machen, um dort Aufnahme einzufordern, dennoch würde die Anzahl potenzieller Flüchtlinge weltweit dramatisch steigen.

Diese Schwelle wäre aus moralischer Sicht allerdings immer noch recht beliebig. Warum, kann man fragen, sollten nur diejenigen als Armutsflüchtlinge gelten, die weniger als 1,90 pro Tag zum Leben haben? Eine weitere Armutsschwelle der Weltbank liegt bei 5,50 US-Dollar pro Tag. Das ist zwar nicht mehr extreme Armut, aber immer noch sehr arm (als Jahresbudget ausgedrückt, 1958 US-Dollar oder 1638 Euro[1]). Wenn wir es für moralisch gerechtfertigt halten, diesen Menschen ebenfalls Flüchtlingsstatus zuzuschreiben, hätten (immer noch nach den Daten der Weltbank) mehr als 40% der Weltbevölkerung Anrecht auf Flüchtlingsstatus.

Einerseits mag dies, aus philosophischer Perspektive, korrekt erscheinen, andererseits, aus der Perspektive internationalen Rechts, bizarr. Dies liegt daran, dass der Zweck der Genfer Flüchtlingskonvention, die Aufnahme gefährdeter Migranten zu ermöglichen, dadurch erreicht wird, dass einer groβen Anzahl anderer Personen dieser Status per Definition eben nicht zugestanden wird.

Diese Funktion, diejenigen zu selektieren, die einen Anspruch auf besonderen Schutz durch die internationale Gemeinschaft haben, erschien in der Mitte des letzten Jahrhunderts zweifellos geeignet, die moralisch dringlichsten Gründe abzudecken, aus denen Menschen emigrieren. Zudem muss man die Flüchtlingskonvention als pragmatische Lösung in einem Kontext verstehen, in dem die meisten der beteiligten Staaten primär daran interessiert waren, ihre territoriale Souveränität, inklusive der Entscheidungsgewalt über Immigration, weitestgehend zu erhalten.

Die Genfer Flüchtlingskonvention hat, neben ihrer offiziellen und moralisch durchaus wertvollen Funktion, Menschen in Not Zuflucht zu sichern, leider auch die Funktion, eine deutliche Trennung zwischen diesen und all jenen anderen zu ziehen, die es scheinbar nicht verdienen, in wohlhabendere Länder zu migrieren. Sie unterstützt und verfestigt dadurch eine soziale Ontologie, die auf kaum noch zeitgemäβen Ideen von territorialer Souveränität und politischer Verantwortung im internationalen Raum beruht. Solange sich diese Ideen und das damit zusammenhängende Verständnis von Staatsgrenzen nicht grundlegend ändert, sowohl auf politischer Ebene als auch in der gelebten moralischen Praxis der Bevölkerung wohlhabender Länder, bleiben signifikante moralische Probleme globaler Arbeits-, Wirtschafts- und Armutsmigration unlösbar.


[1] Wechselkurs vom 13/03/2021.


Frodo Podschwadek, Ph.D. ist unabhängiger Forscher sowie Gründer und Web-Entwickler von The Mechanical Butterfly Ltd.

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