16 Mai

Aktualität und Wahrheit – oder: Von Marx zu Hegel. Eine spekulative Anamnesis , Teil II

von Gregor Schäfer (Basel)


Wir bringen diesen zweiteiligen Beitrag verspätet zum Marx Jubiläum, da er uns auf Grund eines technischen Gebrechens erst jetzt erreicht hat, obwohl er schon vor einem halben Jahr fertig gestellt wurde. Der erste Teil ist hier.


III.

Als «Verwirklichung der Philosophie» bleibt der Marxismus vom Hegelschen Idealismus – unhintergehbar – abhängig. Dies zum einen in begründungstheoretischer Hinsicht: Ein Marxismus, der sich als die neue, für sich selbst stehende Position eines «Materialismus» begründet, muss darin, nimmt er die Begründungsfrage überhaupt ernst, scheitern; er wird zum objektivistischen Dogmatismus, der hinter den Begründungsanspruch des Hegelschen Idealismus zurückfällt und sich dessen nicht bewusst ist, dass auch noch sein eigener Wahrheitsanspruch – unhintergehabr – vom objektiven Idealismus zehrt, den er überwunden zu haben wähnt. Dies zum andern aber auch in subjekt- und, dadurch vermittelt, revolutionstheoretischer Hinsicht: Es ist freilich kein Zufall, dass Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) – wie Agnes Heller einmal feststellt, das einzige philosophische Buch des Marxismus, das je geschrieben wurde – sich auf das Hegelsche (und Fichtesche) Erbe besinnt, um den Marxismus aus dem – als solchen a-politischen – szientistischen (ökonomistischen) Positivismus und historizistischen Schema zu befreien, zu denen ihn die II. Internationale nivellierte.[i]

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02 Mai

Aktualität und Wahrheit – oder: Von Marx zu Hegel. Eine spekulative Anamnesis , Teil I

von Gregor Schäfer (Basel)

Wir bringen diesen zweiteiligen Beitrag verspätet zum Marx Jubiläum, da er uns auf Grund eines technischen Gebrechens erst jetzt erreicht hat, obwohl er schon vor einem halben Jahr fertig gestellt wurde. Der zweite Teil erscheint in zwei Wochen.


I.

Die Frage nach der Aktualität des Marxismus fokussiert sich in der öffentlichen Diskussion, die das zufällig-historische Faktum des 200. Geburtstags von Karl Marx zu ihrem Anlass nimmt, in der einen oder anderen Weise zumeist darauf, ob er «uns» «heute» noch etwas zu sagen habe. Spezifischer: welche seiner Theorieteile, Subtheorien oder praktischen Forderungen und Programme noch aktuell seien. Je nach dem mögen die Antworten hierauf lauten, der Marxismus sei – wie ohnehin längst bekannt – überholt. Oder aber – in einer Einstellung kritischerer Offenheit – er liefere nach wie vor taugliche Instrumente, die es hinsichtlich ihrer deskriptiv-phänomenologischen Adäquatheit, ihrer analytisch-explanativen Fruchtbarkeit oder ihres kritischen Potentials im Blick auf Erscheinungen und Symptome der späten Moderne neu zu entdecken und zu würdigen gälte. Die Aktualität der Marxschen Kapital-Analyse vermag zumal angesichts der seit 2007 jäh ins allgemeine Bewusstsein eingebrochenen Entwicklung der Finanzmärkte, über engere orthodoxe Zirkel hinaus, in den Feuilletons der großen Zeitungen wieder auf breite öffentliche Resonanz zu stoßen.[i]

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31 Jul

Naturalismus, Ontologie und Geschichte bei Marx. Eine Metareplik

Von Kurt Bayertz (Münster)


In seiner Replik auf meinen in diesem Blog erschienenen Marx-Beitrag, sowie auf mein Buch Interpretieren, um zu verändern[1], hat Urs Lindner drei zentrale Thesen meiner Überlegungen hervorgehoben und als „überaus fragwürdig“ charakterisiert. Bevor ich auf seine Kritik an diesen Thesen zu sprechen komme, möchte ich zwei allgemeine Bemerkungen voranschicken.

Zunächst fällt auf, dass Lindner ein zentrales Charakteristikum der Theorie von Marx völlig unberührt lässt: ihren Praxisbezug. Dieser Bezug ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis dieser Theorie und liefert daher einen entscheidenden Interpretationsleitfaden bis in ihre (scheinbar) abstraktesten metaphysischen Annahmen hinein. Eine adäquate Metareplik auf die von Lindner erhobenen Einwände müsste daher von diesem Praxisbezug ausgehen, den ich bereits im Titel meines Buches angedeutet habe. Aus Platzgründen ist das leider nicht möglich, so dass ich mich an dieser Stelle damit begnügen muß, auf einige der einschlägigen Stellen meines Buches zu verweisen: [53ff; 228ff; 245f]. Alle drei von Lindner hervorgehobenen Thesen stehen mit dem von Marx angestrebten Praxisbezug seiner Theorie in Zusammenhang.

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19 Jul

Produktionsverhältnisse, Produktivkräfte, Proletariat: Präfaktisch denken mit Marx

von Eva Bockenheimer (Köln)


„Fakten, Fakten, Fakten“ – mit diesem Werbespruch buhlte ein großes deutsches Nachrichtenmagazin in den 1990er Jahren um die Leserschaft. Dieser Werbespruch war so erfolgreich, dass er zu einer Art geflügeltem Wort wurde und sogar Eingang in die Satire fand. Sogenannte „Fakten“ stehen immer noch hoch im Kurs und werden kritisch gegen postfaktische Meinungsmache ins Feld geführt. Auch Karl Marx hat die Fakten seiner Zeit intensiv studiert und selbst statistische Daten gesammelt, z.B. über die Weltwirtschaftskrise von 1857. Eine marxistische Analyse der Gegenwart muss also selbstverständlich informiert sein über die bestehenden Fakten und diese gegebenenfalls auch gegen das Postfaktische ins Feld führen. Aber Marx wusste auch, dass alle Wissenschaft überflüssig wäre, „wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (MEW 25, 825). Fakten allein, nicht zuletzt, weil sie meist widersprüchlich sind, lassen uns also noch nichts begreifen – dazu müssen wir den inneren Zusammenhang dieser Fakten erfassen. Haben wir den Zusammenhang begriffen, erscheinen nicht nur die Fakten oft in einem ganz anderen Licht, sondern auch die postfaktischen Gefühlslagen, deren Ursache wir dann vielleicht besser verstehen können. Das rechtfertigt zwar nicht die oft reaktionären Forderungen, die auf Grundlage postfaktischer Affekte gestellt werden. Aber es kann in manchen Fällen – sofern das Postfaktische nicht ohnehin bloß der Machtdemonstration dient – vielleicht ein Gespräch eröffnen über die wahren Ursachen für den postfaktischen Unmut und die bestehende Wut dorthin lenken, wo sie eigentlich hingehört.

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03 Jul

Marx’ naturalistischer Materialismus. Eine Replik auf Kurt Bayertz

von Urs Lindner (Erfurt)


In denjenigen Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften, die sich als kritisch verstehen, hat in den letzten Jahren ein erstaunlicher Wandel stattgefunden. Wo Poststrukturalismus und Sozialkonstruktivismus über mehrere Jahrzehnte dominierten, wollen viele Autor*innen nun auf einmal ‚materialistisch’ sein. Das Versprechen, dieses Bedürfnis zu befriedigen, liefern eine Reihe ‚neuer’ Materialismen und Realismen: sei es der ‚agentielle Realismus’ von Karen Barad, der eigentlich ein Phänomenalismus im Gefolge von Berkeley und Mach ist; sei es der deuleuzianische Assemblagen-Realismus von Manuel DeLanda; seien es die feministischen Vitalismen von Jane Bennett und Elizabeth Grosz; sei es Quentin Meillassouxs rationalistisch-materialistische Kritik an Kants ‚Korrelationismus’ oder Graham Harmans Dingontologie etc.pp. Was alle diese ‚neuen’ Ansätze gemeinsam haben, ist zweierlei: 1) Sie übergehen – mit Ausnahme von DeLanda[1] – das humangeschichtlich Soziale als emergente Realitätsebene. 2) Sie wissen nicht so recht, was sie mit Marx uns seinem Materialismus anfangen sollen, der 1845 in den Thesen über Feuerbach ja auch als ‚neuer’ Materialismus angetreten war.

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31 Mai

Die doppelte Religionskritik bei Marx

von Christoph Henning (Erfurt)


Bereits der junge Marx hat wichtige Beiträge zur Kritischen Theorie verfasst: neben einer Kritik des Rechts und der Politik etwa eine Kritik der Religion. Diese hängt eng mit einer Auseinandersetzung um die Pressefreiheit als Motor der Demokratisierung zusammen, die Marx zuvor geführt hatte. Zum einen waren religiöse Themen, oder besser: die Kritik an religiösen Themen, ein Gegenstand, der oft von Zensurmaßnahmen betroffen war. Eine Religionskritik hatte beispielsweise zum Berufsverbot von Marxens Mentor Bruno Bauer geführt, weswegen Marx überhaupt zum Journalisten geworden war (als Plan B, anstelle einer akademischen Anstellung). Zum anderen wurde zur Rechtfertigung dieser Zensur ebenfalls auf bestimmte theologische Annahmen rekurriert; Religion wurde also politisch instrumentalisiert. Marx kritisiert beides, sowohl die Religion selbst als auch ihre politische Instrumentalisierung. Die beiden Kritiklinien treten häufig zusammen auf, sind in der Sache aber zu trennen – und zwar deswegen, weil die Kritik an der Instrumentalisierung von Religion selbst auf theologische Argumente zurückgriff. Der Lehrstuhl seines Mentors Bauer wäre ein theologischer gewesen, und man kann davon ausgehen, dass Marx nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit der zeitgenössischen Theologie gut vertraut war.

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05 Mai

Marx oder Marxismus?

von Tilman Reitz (Jena)


Unter Menschen, die Marx als undogmatischen Denker loben wollen, wird er häufig mit der Äußerung zitiert: „je ne suis pas Marxiste“ (MEW 37, 436). Er hatte gut reden, er war ja Marx. Friedrich Engels, der über die Äußerung berichtet und sie verbreitet hat, gilt in einer neueren Biografie (bzw. im Titel ihrer Übersetzung) dagegen bereits als „Mann, der den Marxismus erfand“.[1] Liest man genauer nach, beginnt man zu ahnen, dass die Ablehnung und die Erfindung der Schule zusammenpassen. An Paul Lafargue schreibt Engels erneut: „Diese Herren machen alle in Marxismus, aber sie gehören zu der Sorte, die Sie vor zehn Jahren in Frankreich kennengelernt haben und von denen Marx sagte: ‚Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin!‘ Und wahrscheinlich würde er von diesen Herren das sagen, was Heine von seinen Nachahmern sagte: Ich habe Drachen gesät und Flöhe geerntet.“ (Ebd., 450) Die Absage an den -ismus geht unmittelbar mit dem Verweis auf die reine Lehre des Gründers einher, die von den jeweils anderen -isten leider völlig verfehlt wird. Michel Foucault hat den Vorgang allgemein beschrieben: Deutungstraditionen, die an „Diskursbegründer“ wie Marx oder Freud anschließen, schreiben sich genau dadurch fort, dass man diese Begründer immer wieder neu liest. Ohne diejenigen, die Marx vehement gegen einen verfestigten Marxismus verteidigen, gäbe es den letzteren gar nicht.

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01 Mai

Die Aktualität von Marx

von Christian Schmidt (Leipzig)


Die Frage, in welcher Hinsicht Karl Marx eigentlich noch aktuell ist, wird immer häufiger gestellt, je näher der 5. Mai 2018, der 200. Geburtstag von Marx, rückt. Die Frage irritiert mich offen gestanden etwas – wobei ich aber gleich zugebe, dass diesbezüglich wahrscheinlich eine déformation professionelle zu diagnostizieren ist –, weil kaum jemals nach der Aktualität von Wittgenstein, Hegel, Spinoza oder Platon gefragt wird.

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17 Apr

Karl Marx und die Möglichkeit eines nichtnaturalistischen Materialismus

von Kurt Bayertz (Münster)


I. Drei Ausgangsthesen

Man kann sich der Theorie von Marx unter verschiedenen Gesichtspunkten nähern. Man kann etwa nach ihrer Tragweite für die Analyse gegenwärtiger  ökonomischer (und anderer) Krisenerscheinungen fragen. Eine solche aktualisierende Herangehensweise ist natürlich legitim. Sie setzt aber voraus, was wir bestenfalls in Ansätzen haben: Ein adäquates Verständnis der Marxschen Theorie. Ich gehe demgegenüber von der These aus, dass ein solches Verständnis erst noch zu erarbeiten ist. Dies gilt in besonderem Maße für ihren philosophischen Gehalt. – Unter Anhängern wie Gegnern ist bis heute umstritten, ob es einen solchen philosophischen Gehalt bei Marx überhaupt gibt. Hat er sich selbst nicht ausdrücklich von aller Philosophie distanziert, als er in Kooperation mit Friedrich Engels schrieb: „Philosophie & Studium der wirklichen Welt verhalten sich zueinander wie Onanie & Geschlechtsliebe“[1]?

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