18 Mai

Integrität im Anthropozän

Von Stefan Knauß (Halle & Erfurt)


Corona und Anthropozän

Als Anthropozän wird das gegenwärtige Erdzeitalter bezeichnet, das durch die massive, menschengemachte Veränderung natürlicher Ökosysteme gekennzeichnet ist (Crutzen und Stoermer 2000). Naturwissenschaftler sprechen von einer „Geologie der Menschheit“ (Crutzen 2002). Sie gehen davon aus, dass die Menschheit spätestens seit der industriellen Revolution zu einer den Planeten prägenden „Naturgewalt“ geworden ist. Menschliche Handlungen werden als Ursache der globalen Erwärmung, eines beispiellosen Artensterbens und der rasanten Ausbreitung von Krankheiten betrachtet. Die Veränderungen der natürlichen Rahmenbedingungen wirken u. a. durch Waldbrände, Überschwemmungen, Hitze- und Dürreperioden auf das menschliche Wohlergehen zurück. Mensch und Natur im Zusammenhang zu betrachten und die Rückkopplungsschleifen in den Blick zu nehmen, die sich aus den größtenteils nicht-intendierten Folgen menschlicher Handlungen und den komplexen Dynamiken einer als System begriffenen Erde ergeben, ist gewissermaßen das Markenzeichen des Anthropozäns.   

Die Corona-Pandemie veranschaulicht dies mit besonderer Prägnanz: Unser individuelles Wohlergehen ist abhängig von komplexen physio-sozialen Wirkzusammenhängen, die wir zugleich mitgestalten. Krisenmanagement im Anthropozän muss daher auch bedeuten, das „große Ganze“ wieder in den Blick zu nehmen, den Zustand der natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt nicht allein den Kräften des Marktes zu überlassen, sondern ihn als politisch gestaltbar zu begreifen. In der Enzyklika Laudato si’ (2015) betrachtet Papst Franziskus die Erde als „das gemeinsame Haus“. Es dürfe sich nicht in eine „Mülldeponie“ verwandeln. Die „dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen“ könne nur durch die gemeinsame Suche nach einer „nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung“ bewältigt werden. Unter Eindruck der Corona-Krise spricht Franziskus in seinem Urbi et Orbi (27.03.2020) vom „Schrei des schwerkranken Planeten“ und beklagt die Entkopplung menschlichen Wohlergehens von der „Gesundheit des Planeten“.

„In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen lassen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden“ (Urbi et Orbi 2021).

Auch jenseits des Glaubens ist die Kritik an einer auf Beschleunigung ausgerichteten Moderne und deren Entfremdungseffekten geläufig(Rosa 2013). Die Forderung nach Resonanz als Paradigma der Weltbeziehungen (Rosa 2016) impliziert die Annahme einer zumindest teilweisen Unverfügbarkeit (Rosa 2018) der Dinge bzw. des Anderen.

Der Holismus des Anthropozäns führt uns vor Augen, wie Welt trotz oder sogar wegen unseren massiven Gestaltungsversuche unverfügbarwird. Die Feststellung, die Dynamiken bestimmter Seinsbereiche seien und sollten niemals vollständig beherrschbar sein, prägt auch den Begriff der Integrität.  

Integrität – ein neuer Modebegriff?

Der Begriff der Integrität klingt zunächst wie ein wohlvertrautes normatives Paradigma der praktischen Philosophie. Er suggeriert eine lange Geschichte und konzeptionelle Schärfe. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass sich die Forschung bislang nur in Ansätzen um die Klärung dieser Begrifflichkeit bemüht hat (Vgl. Pollmann 2005), während sie beinahe stillschweigend längst Einzug in die Alltagswahrnehmung aber auch global verbindliche politische Vereinbarungen gefunden hat.

Integrität bedeutet, Wesen könnten und sollten als „ganze“ betrachtet, auch gegen innere und äußere Widerstände in der Lage sein, gemäß ihrer eigenen Zwecke zu verfahren. Ein Blick in die Philosophiegeschichte verrät: integritas taucht schon in Ciceros De officiis und in Thomas v. Aquins Summa theologiae vereinzelt auf, doch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist häufig von Integrität die Rede.

Es scheint offenkundig ein Bedürfnis danach zu bestehen, z.T. recht unterschiedliche Phänomene als „Ganzheiten“ zu beschreiben und deren „Intaktheit“ positiv zu bewerten. Personen sollten hiernach in elementaren, ihre Identität dennoch im umfassenden Sinne betreffenden Aspekten in „Übereinstimmung“ mit sich selbst leben können. Auch die Integrität der Natur wird in wichtigen klimapolitischen Verträgen wie dem Abkommen von Paris (2015) sowie bei der Kodifizierung der Rechte der Natur z. B. in der Verfassung von Ecuador (2008) als Wert normativ vorausgesetzt.

„Integrität“ taucht dabei in durchaus verschiedenen Bedeutungen auf, die zwischen der sittlichen Bewertung des Handelns menschlicher Personen über die Beschreibung und Bewertung des Pflanzenwohls bis hin zur Funktionsweise von Ökosystemen reicht. Durch das Anthropozän stellt sich die Frage, ob überindividuelle Ganzheiten wie die Erde oder das Klimasystem tatsächlich einen Status der Integrität besitzen können, der moralisch oder rechtlich als schützenswert zu betrachten ist.

Bei personaler Integrität lassen sich mindestens vier Bedeutungsdimensionen unterscheiden, die durch die Begriffe „Selbsttreue“, „Rechtschaffenheit“, „Integriertheit“ und „Ganzheit“ zum Ausdruck kommen (Pollmann 2005, 77–127). Unter Voraussetzung des Personenbegriffs bildet die Idee des „ungestörten Selbstseins“ den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ verschiedener Bedeutungsdimensionen, die sich aus der ethischen, moralischen, psychologischen und sozialphilosophischen Betrachtungsweise ergeben. Ethische Selbsttreue bezeichnet die „Übereinstimmung von ethisch-existenziellem Selbstbild und individuellem Lebensvollzug“. Moralische Rechtschaffenheit formuliert eine „Mindestanforderung“ an „sittlicher Tolerierbarkeit“. Psychische Integriertheit stellt auf die Kohärenz des Selbstbildes im Laufe des Lebens ab. Soziale Ganzheit benennt die „Intaktheit des je eigenen existenziellen Lebenszusammenhangs“ (Pollmann 2005, 287).

Dem gegenüber stehen Verwendungsweisen von Integrität, die sich nicht auf den Begriff der (menschlichen) Person stützen. So ist grundlegend die Integrität natürlicher Wesen von der Integrität (künstlicher) Systeme, z. B. innerhalb der Kybernetik, zu unterscheiden. Im Grenz- bzw. Überschneidungsbereich von Natur und Kultur sind kybernetische Modellierungen natürlicher Systeme bzw. natürliche Systeme, die stark vom Menschen modifiziert und von menschlichen Artefakten durchdrungen sind, einzuordnen. Die letztgenannten Systemkonfigurationen sind für das gegenwärtige Erdzeitalter des Anthropozäns typisch. So lässt sich pointiert auch von der Technosphäre sprechen. Die Beschreibung, das Verständnis, die normative Einhegung und gezielte Modifikation natürlich-menschlicher Wirkungszusammenhänge des Erdsystems gewinnen stetig an Bedeutung.

Schaut man genauer hin, wird deutlich, dass Integrität einerseits eine nicht vollständig zu ersetzende Perspektive auf die „Ganzheit“ einer Entität anbietet, andererseits aber vor erheblichen begrifflichen Herausforderungen bezüglich der präzisen Beschreibung und Bewertung dieser Ganzheit steht.

Noch wissen wir nicht, ob dem Konzept der Integrität im 21. Jahrhundert eine ähnliche „Karriere“ bevorsteht, wie sie der Begriff der Würde im 20. Jahrhundert erlebt hat. Ein Versuch, verschiedene Verwendungskontexte zu überblicken und einige stichprobenartig zu überprüfen findet sich im aktuellen Themenheft Ethik der Integrität der Zeitschrift für Praktische Philosophie.


Dr. Stefan Knauß ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Nachhaltige Landschaftsentwicklung am Institut für Geowissenschaften und Geographie an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und Associated Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Er studierte Politikwissenschaft, Medien und Kommunikationswissenschaft in Halle, Catania und Parma. Seine Dissertation „Von der Conquista zur Responsibility while Protecting – Die Debatte der humanitär gerechtfertigten Kriegsführung aus lateinamerikanischer Perspektive“ ist 2016 beim Peter Lang Verlag erschienen. Von 2017-2020 war er Inhaber einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten „Eigenen Stelle“  für das Forschungsprojekt „Eine physiozentrische Grundlegung des Rechts – Mit dem lateinamerikanischen Buen Vivir auf dem Weg zu einer Allgemeinen Erklärung der Rechte der Natur?“. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsphilosophie (Rechte der Natur, Menschenrechte und Humanitäre Interventionen), Interkulturelle Philosophie und Dekoloniales Denken (insbesondere Lateinamerika) sowie Umweltethik.


Crutzen, P. J. (2002). Geology of mankind. Nature, 415, 23.

Crutzen, P. J., & Stoermer, E. F. (2000). Global Change Newsletter. The Anthropocene, 41, 17-18.

Franziskus, P. (2015). Laudato si’. Über die Sorge für das gemeinsame Haus,Freiburg.

Franziskus, P. (2021). Urbi et Orbi.

Pollmann, A. (2005). Integrität: Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie. transcript Verlag.

Rosa, H. (2013). Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Suhrkamp Verlag.

Rosa, H. (2016). Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag.

Rosa, H. (2018). Unverfügbarkeit. Residenz Verlag.

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