30 Jan

Waschbär, Grauhörnchen, Nilgans: possierliche Mitbewohner oder Feindbild?! Tierethische Überlegungen zum Umgang mit „invasiven“ Arten

Von Leonie Bossert (Tübingen)


Der Gedanke mag naheliegen, dass Naturschutz etwas ist, das zu Gunsten nichtmenschlicher Tiere betrieben wird. Dies ist auch tatsächlich der Fall, solange das nichtmenschliche Tier einer vom Aussterben bedrohten oder heimischen Spezies angehört. Sofern es sich jedoch um Individuen häufiger Arten oder gar um Individuen von Arten, die als „invasiv“ eingestuft werden, handelt, sieht die (naturschutzfachliche) Welt anders aus.

Im Naturschutz ist nicht das Wohlergehen individueller wildlebender Tiere von Interesse, sondern (neben dem Schutz bestimmter Natur- oder Kulturlandschaften) der Schutz bedrohter Arten. Die zugrundeliegende Naturschutzethik baut daher entweder auf ökozentrischen Argumenten auf, gemäß denen Ganzheiten, wie Arten und Ökosystemen, und nicht Individuen moralischer Wert zukommt. Oder sie bauen – und dies ist der häufigste Fall – auf anthropozentrischen Argumenten auf, so dass nur menschliche Interessen direkt berücksichtigt werden. Wenn dabei über Leben und Tod tierlicher Individuen verhandelt wird, denen direkter moralischer Wert abgesprochen wird, steht diese Form der Naturschutzethik bzw. -praxis stark im Konflikt mit einer tierethischen Perspektive. Dies trifft zumindest auf die mitteleuropäische Naturschutzpraxis zu, die hier adressiert wird.  Das Töten der Tiere wird nicht als ethisches Problem angesehen, diskutiert wird allenfalls, welches die effektivsten Tötungsmethoden darstellen. Statt als Problem wird die Tötung als Lösung präsentiert, wenn dadurch Individuen seltener oder bedrohter Arten geschützt werden. Im Fall „invasiver“ Arten ist solch eine Vorgehensweise oft zu beobachten.   

Als „invasiv“ bezeichnet wird eine Population nichtmenschlicher Tiere, die sich fern ihres ursprünglichen Verbreitungsorts etablieren und dort durch ihre Ausbreitung Schaden anrichten (vgl. Rippe 2015, 46). Folglich wird nicht jede gebietsneue Spezies (sogenannte Neobiota bzw. im tierlichen Fall Neozoen) als „invasiv“ bezeichnet, sondern diejenigen, die Schaden anrichten. In der Regel wird darunter ökonomischer oder ökologischer Schaden verstanden. Neben einem äußerst fragwürdigen Umgang mit „invasiven“ Arten (siehe unten) ist bereits der Begriff „invasive“ Art sehr problematisch, da ‚invasiv‘ bzw. ‚Invasion‘ konnotiert ist mit negativen Assoziationen wie Unterdrückung und Tod. In der Debatte um „invasive“ Spezies wird entsprechend kein neutraler Begriff verhandelt, wie es in naturwissenschaftlichen, naturschutzfachlichen und medialen Kanälen gerne suggeriert wird. Der Begriff ist von vorneherein einer negativen Bewertung unterzogen, die jedoch problematischerweise nicht explizit gemacht wird.  Die Schadensverursachung ist fester Bestandteil der Definition. Es sollte dabei stets offengelegt werden, wem Schaden verursacht wird und aus wessen Perspektive beurteilt wird, ob es einen Schaden darstellt. Das geschieht allerdings meist nicht. Stattdessen wird Neutralität behauptet, obwohl der Mangel an ebendieser sich schon in der allgemein üblichen Terminologie der Debatte zeigt. Hier gilt es die Individuen „invasiver“ Arten zu eliminieren, auszurotten, zu tilgen (vgl. Bossert 2018).    

Diese Forderung zeugt zum einen von einer anthropozentrischen Sichtweise, in der den Interessen nichtmenschlicher Tiere keine Bedeutung zukommt. Als „invasiv“ klassifizierte Neozoen sind beispielsweise Bisamratten, Glanzkrähen, Grauhörnchen, Marderhunde, Nilgänse, Nordamerikanische Ochsenfrösche, Rotwangen-Schmuckschildkröten und Waschbären – nichtmenschliche Tiere, für die innerhalb der Tierethik Einigkeit besteht, dass sie Interessen besitzen, welche es zu berücksichtigen gilt. Zum anderen zeugt diese Forderung auch von dem teilweise sehr konservativen Weltbild, das der Naturschutzpraxis bis heute zugrunde liegt, und das zu bestimmten Projektionen auf und in die Natur führt (vgl. Eser 2004, 174-179). So werden die für Neozoen und damit auch für „invasive“ Arten typischen Eigenschaften abwertend betrachtet. Die dazu konträren Eigenschaften werden als wertvoll angesehen. Individuen gebietsneuer Arten können in der Regel nur dann Populationen etablieren, wenn sie anpassungsfähig sind (sogenannte Generalisten), sich häufig reproduzieren, sich effektiv ausbreiten können und eine hohe Konkurrenzfähigkeit aufweisen. Folglich werden Anpassungsfähigkeit, starke Vermehrung und effektive Verbreitung als negative Eigenschaften verstanden. Positiv bewertet werden dagegen Spezialisierung (als konträr zum Generalistentum), geringere Reproduktion und Sesshaftigkeit (als konträr zur effektiven Ausbreitung). Die negative Bewertung von hoher Konkurrenzfähigkeit kann als Abgrenzung zum liberal-individualistischen Weltbild gesehen werden, in welchem Konkurrenz zur Normalität geworden ist. Die Analogie dieser Projektionen auf nichtmenschliche Tiere und die Habitate, in denen sie leben, zu gesellschaftlichen Projektionen auf andere Menschen ist offensichtlich. Vertreter_innen einer sehr negativen Haltung gegenüber Neobiota, die in dem Ruf nach Eliminierung gipfelt, sehen sich daher häufig mit dem Vorwurf der Xenophobie konfrontiert.

Dass Individuen gebietsneuer Arten durch Konkurrenzdruck oder Prädation zum Tod etlicher Tierindividuen beitragen und/oder anderen ökologischen oder ökonomischen Schaden verursachen, wird hier nicht negiert. Es soll jedoch auf drei Aspekte aufmerksam gemacht werden, die in der Debatte um „invasive“ Arten tendenziell unterschlagen werden. Erstens fließen in die Diskussion zahlreiche Werteimplikationen ein, die nicht explizit genannt werden (siehe oben). Zweitens wird die Debatte unterkomplex und vereinfachend geführt. Zum einen können nur ein sehr geringer Prozentsatz der neuankommenden Arten tatsächlich Populationen etablieren (von 1000 ankommenden Arten können sich lediglich zehn dauerhaft etablieren, vgl. Eser 2004, 171) und zum anderen tragen in den meisten Fällen Menschen die Verantwortung dafür, dass nichtmenschliche Tiere an den für sie gebietsfremden Ort gelangen. Zahlreiche in Mitteleuropa als invasiv eingestufte Arten wurden für die Pelzproduktion (Marderhund, Mink, Nutria, Waschbär) oder als exotische Haustiere (Rotwangen-Schmuckschildkröte, Sibirisches Streifenhörnchen, auch als Burunduk bekannt) eingeführt. Auch wenn die Fragen nach konkreter Verantwortung (von wem?) und konkreter Verpflichtung (für wen?) schwierig und kontrovers sind, liegt es in Menschenhand, für die Konsequenzen der Einbringung gerade zu stehen. Finanzieller wie auch personeller Mehraufwand, den nicht-letale Methoden zum Umgang mit Individuen „invasiver“ Arten mit sich bringen, sollte aufgewandt werden. Drittens wird in der Debatte ignoriert, dass Neozoen sich auch durchaus positiv auf ihre neue natürliche Umwelt auswirken können. Die aus Nordamerika stammende Bisamratte erhöht durch das Zurückdrängen des Rohrkolbens die Artenvielfalt in Mitteleuropa und wird von manchen Ökolog_innen als Bereicherung der heimischen Fauna betrachtet, da sie die ökologische Nische zwischen der kleineren Schermaus und dem größeren Biber füllt (vgl. Holtmeier 2002, 244).             

In der Tierethik bestehen zahlreiche überzeugende Argumentationsstränge, mit denen begründet wird, dass nichtmenschliche Tiere direkt moralisch berücksichtigungswürdig sind (vgl. z.B. die Beiträge in Schmitz 2014), dass also ihre Interessen bei Handlungen, die sie betreffen, mitbedacht werden müssen. Nimmt man diese Forderung ernst, ist der gegenwärtig dominierende Umgang mit Individuen „invasiver“ Arten nicht oder nur selten rechtfertigbar. Sieht man in Waschbären, Grauhörnchen und Nilgänsen Individuen, die Interessen besitzen und deren Interessen es zu berücksichtigen gilt, kann man nicht einfach ihre vollständige Eliminierung fordern – synonym für die Forderung, sie möglichst alle möglichst schnell zu töten. Sollte aufgrund gut begründeter Zielkonflikte eine Reduktion der Populationen als notwendig gelten, sind nicht-letalen Methoden vorzuziehen. Bei der Bewertung solcher Zielkonflikte müssen Interessengruppen und Wertvorstellungen offen benannt werden. Nicht-letale Methoden sind beispielsweise der Austausch von Eiern durch unechte Eier, das Ausbringen empfängnisverhütender Mittel durch Futter oder die Umsiedlung von Individuen. Diese Methoden sind gewiss mit Problemen behaftet. So sind beim Ausbringen empfängnisverhütender Mittel negative Auswirkungen auf Ökosysteme erwartbar. All diese Praktiken müssen weiter erforscht und dafür Mittel aufgebracht werden. Hierfür bedarf es eine geänderte Sicht auf nichtmenschliche Tiere, so dass sie als wertvoll genug erachtet werden, ihretwegen diesen Mehraufwand zu betreiben, anstatt sie zu töten. Aus tierethischer Perspektive ist in der Naturschutzethik und -praxis ein Paradigmenwechsel gefordert. Ein Paradigmenwechsel, der dazu führt, dass im Naturschutz auch Individuen häufiger und gebietsneuer Arten als selbstzweckhafte Existenzen und somit als schützenswert betrachtet werden.


Leonie Bossert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Umwelt- und Naturethik, Tierethik/ Human-Animal Studies, Ethik Nachhaltiger Entwicklung und Wissenschaftsethik.


Literatur

Bossert, Leonie (2018): Von Hirschkühen, „Milchkühen“ und Waschbären: Begründung unterschiedlich bestehender Hilfspflichten und ihre Anwendung auf „invasive“ Arten. In: TIERethik 17, S. 58-84.

Eser, Uta (2004). Projektionsfeld fremde Arten. Soziale Konstruktion des Fremden in ökologischen Theorien. In: Fischer, Ludwig (Hg.). Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Veränderungen. Hamburg: Hamburg University Press, S. 165-192.

Holtmeier, Friedrich-Karl (2002): Tiere in der Landschaft. Einfluss und ökologische Bedeutung. Stuttgart: Ulmer.

Rippe, Klaus Peter (2015): Zum Umgang mit tierischen Einwanderern. Ethik, Tiertötung und die Bekämpfung invasiver Arten. In: TIERethik 7, S. 46-64.

Schmitz, Friederike (Hg.) (2014): Tierethik. Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp.

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