06 Feb

Weniger ist mehr (und vor allem fair)!  Wie eine Obergrenze bei Bewerbungen mehr Vereinbarkeit herstellen könnte

Von Christine Bratu (Göttingen)


In dieser Reihe konnte man bereits einiges dazu nachlesen, wie es wirklich um die Vereinbarkeit von Sorgearbeit und wissenschaftlicher Arbeit in Deutschland bestellt ist. Als wichtiges Problem für Vereinbarkeit haben sich dabei die Anforderungen herauskristallisiert, die Wissenschaftler:innen erfüllen müssen, um aktuell zu reüssieren – wobei dies im akademischen Betrieb vor allem heißt: um einen unbefristeten Vertrag zu erhalten und also nicht mehr ständig um ihren Lebensunterhalt bangen zu müssen. Denn wer unter den Bedingungen von „publish or perish“ Lehre und Gremienarbeit meistern und zudem eben vor allem publizieren und Drittmittel einwerben muss, hat schlicht kaum mehr Zeit dafür, kranke Angehörige zu pflegen, selbst krank zu werden oder die Anforderungen einer Behinderung zu managen, Kinder zu kriegen oder sich um Kinder zu kümmern, wenn diese nicht schon selbstgenügsam wie die Pilze aus dem Boden sprießen, oder gar philosophische Inspiration draußen in der Welt zu suchen. Wenn wir Vereinbarkeit in einem substantiellen Sinne schaffen wollen, wird es also nicht ausreichen, Institutskolloquien statt in den Abendstunden zur Kernarbeitszeit abzuhalten, Eltern-Kind-Räume in der Uni einzurichten oder auf Konferenzen für ein paar Stunden Kinderbetreuung bereitzustellen; stattdessen müssen wir, wie Gottfried Schweiger anmahnt, die Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs substantiell überdenken.

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12 Dez

Ob es besser wird, wenn alle weniger machen. Vereinbarkeit und Leistungsdruck in der Wissenschaft

Von Gottfried Schweiger (Salzburg)


“Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen.” Pippi Langstrumpf

Vereinbarkeitsprobleme entstehen auch dadurch, dass die Anforderungen im System Wissenschaft sehr hoch sind, dennoch sehr viele hier tätig sein wollen, weshalb es zu großem Konkurrenzdruck kommt und die Verhandlungsmacht derjenigen, die Schwierigkeiten haben, diese Anforderungen zu erfüllen, gering ist. Vielleicht wäre es eine Lösung, wenn alle einfach weniger machen würden. Dem will ich hier nachgehen.

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05 Sep

Wissenschaft und Elternzeit. Wunsch und Wirklichkeit

Von Elke Elisabeth Schmidt (Siegen)


Nachwuchswissenschaftler*innen mit Kindern sind immer im Spagat zwischen Job und Familie. Viele Spannungen sind bekannt: ein hohes Arbeitspensum, geforderte zeit- und räumliche Flexibilität sowie Befristung auf der einen Seite und Kinder und all das auf der anderen. Weniger bekannt ist: Mutterschutz und Elternzeit könnten den Spannungen zwar eigentlich Abhilfe schaffen, scheitern aber an der akademischen Lebenswirklichkeit.

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25 Jul

Der Riss zwischen Leben, Arbeit, Nachdenken – und Akademie. Ein Lamento.

Von Teresa Geisler


Ich habe keine Kinder und ich habe keine Hobbies. Das ist schon mal gut, wenn man den Wunsch hat, Wissenschaft als Beruf zu betreiben. Leider habe ich Interessen und Leidenschaften. Das ist nicht so gut.

Denn für mich als Promotionsstudentin der Philosophie stellt sich die Lage des Wissenschaftlers im Augenblick als ein unglückliches Spannungsverhältnis zwischen Zeit und Geld dar: Wer eine feste Stelle in der Akademie hat und somit Geld, ertrinkt meist in Arbeit, so dass neben Verwaltung, Politik, Gremienarbeit und Antragsprosa oft bereits kaum Zeit für das Kerngeschäft Lehre und Forschung bleibt, ganz zu schweigen davon, Dinge neu und anders zu denken. Wer keine feste Stelle hat, sondern zwischen Hartz4 und Wohngeld, mehr oder weniger ehrenamtlichen Lehraufträgen und unbezahlten Publikationen, versucht, Wissenschaft zu betreiben und die Zeit hat, dem fehlt das Geld zum Leben – und für die Wissenschaft. Denn wenn man nicht institutionell angestellt ist, dann kann man sich Wissenschaft eigentlich nicht leisten. Anders als in der Kunst gibt es in der Wissenschaft kaum Projektförderungen für Personen, die nicht an den akademischen Betrieb angebunden sind, und das Zeigen und Diskutieren der eigenen Arbeit auf Tagungen und Konferenzen oder das Veröffentlichen von Monografien, in Journalen oder Sammelbänden kostet öfter Geld, als dass das es etwas einbringt. Dabei ist die kostspielige Arbeit die Voraussetzung für die Teilnahme am akademischen Arbeitsmarkt, die man sich aber eigentlich nur leisten kann, wenn man eine Stelle hat, die vergütet wird. Das ist ein Problem unter dem schließlich auch die Wissenschaft leidet, weil die Zeit oder das Geld zum Nachdenken fehlt.

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16 Mai

Demokratie und Zukunft

von Manfred Brocker (Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt)

I. Die Herausforderungen der Zukunft: Existenzrisiken für die Menschheit

Die Gefahren für das Überleben der Menschheit sind zahlreicher geworden in den letzten Jahrzehnten. Die Fortexistenz der Gattung steht auf dem Spiel. Die gegenwärtige Zivilisation des Anthropozäns (Crutzen 2011) bedroht (a) massiv die Natur und damit ihre eigenen Lebensgrundlagen; aber auch (b) die Natur, so wissen wir heute, bedroht den Fortbestand unserer Spezies.

(a) Zu den anthropogen induzierten Risiken für die Fortexistenz der Menschheit zählt vor allem der Klimawandel (vgl. IPCC 2018). Er hat, so zeigt die zeitgenössische Klimaforschung, mittelfristig Hitzewellen, Stürme und Überflutungen zur Folge: ganze Küstenregionen werden durch den Anstieg des Meeresspiegels unbewohnbar werden. Andere Regionen der Erde werden versteppen. Die menschlichen Grundbedürfnisse werden zunehmend schwerer zu befriedigen sein. Das starke Bevölkerungswachstum beschleunigt diese Entwicklung.

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11 Mai

Von Pilzen und Wissenschaftler*innen. Gedanken zur „Vereinbarkeit“ von Wissenschaft und Leben

Von Tina Jung (Magdeburg)

In seinem 1642 erschienen Werk „De Cive. Über den Bürger“ schreibt Thomas Hobbes über den Naturzustand: „Wir wollen (…) annehmen, daß die Menschen gleichsam wie Schwämme plötzlich aus der Erde hervorgewachsen und erwachsen wären, ohne daß einer dem andern verpflichtet wäre.“ (Hobbes, 2014 [1642], S. 166) Seyla Benhabib hat diese in der westlichen politischen Ideengeschichte einflussreiche Hobbes’sche Vision von Menschen, die wie Pilze aus der Erde ploppen, bereits in den 1980er Jahren als ultimative männliche (und narzisstische) Fiktion von Autonomie entlarvt, die den basalen Umstand menschlicher Abhängigkeit und Angewiesenheit verleugnet. Kritische Auseinandersetzung mit diesem Menschenbild bleibt gleichwohl nötig, und zwar auch mit Blick auf den Wissenschaftsbetrieb. Das vorherrschende Idealbild der wissenschaftlichen Persönlichkeit ist den Hobbes’schen Pilzen nicht unähnlich. Dabei ist der Anspruch auf ein gutes Leben in- und außerhalb der Wissenschaft mehr ist als „nur“ eine Frage der Vereinbarkeit von Wissenschaft und Familie.

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21 Mrz

Digitale Praxis – Fallstrick für Normen im Wissenschaftsalltag?

Von Nicola Mößner (Leibniz Universität Hannover / RWTH Aachen)


‚Wie sehr vertrauen Sie Wissenschaft und Forschung?‘ – eine Frage, die nicht erst seit der Corona-Pandemie viel diskutiert wird. Manch einer würde kritisch korrigieren: ‚Vertrauen Sie überhaupt in Wissenschaft und Forschung?‘ Schlagwörter wie Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise kommen damit in den Sinn. Oft angeführt wird hier der normative Rahmen wissenschaftlicher Praxis, auf welchen sich das Vertrauen dennoch stützen könne. Was passiert aber, wenn die zugrunde liegende Praxis massiv durch die zunehmende Digitalisierung ihrer Prozesse verändert wird?

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09 Mrz

Wissenschaftsfreiheit? Nur dem Namen nach! Ein kritischer Kommentar zum „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“

Von Alexander Reutlinger (München)


Eine Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hat Anfang Februar das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit[1] gegründet. Das Netzwerk möchte Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit dokumentieren und kritisieren.

Hat dieses Netzwerk nicht ein hehres Ziel? Muss nicht jeder Wissenschaftler, jeder Bürger, aufschreien, wenn die Erforschung und Lehre bestimmter Fragen staatlich verboten oder Universitäten ihre Autonomie genommen wird (wie gegenwärtig in Ungarn, der Türkei oder Serbien, um nur einige Beispiele in Europa zu nennen)? Muss man sich nicht z.B. mit der Central European University solidarisch zeigen, weil diese aufgrund eines 2017 von der ungarischen Regierung verabschiedeten Gesetzes („Lex CEU“) Budapest verlassen und nach Wien umziehen musste? Ja, man muss selbstverständlich solche Missstände klar als Verletzungen der Wissenschaftsfreiheit benennen und kritisieren. Aber muss man deswegen auch das neue Netzwerk unterstützen? Nein, das muss und sollte man keineswegs.

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01 Nov

Aufklärung, Wissenschaft und „post-truth politics“: Viele Fragezeichen und einige Ausrufezeichen

von Konrad Ott (Kiel)


Als vor Jahresfrist in Russland mehrere Hundert Demonstranten festgenommen wurden, kommentierte der Präsident der Duma, W. Wolodin, dieses Ereignis mit folgenden Worten: „Auf den Straßen Europas löst die Polizei täglich Demonstrationen noch härter auf als dies die russische Polizei tue“ (so die FAZ vom 28. März 2017, S. 1). Meine erste Reaktion war: „Das stimmt nicht, das ist nicht wahr“. Meine zweite Reaktion war: „Naja, ein weiteres Beispiel von ‚post-truth politics‘“. Meine dritte Reaktion: „Oh, ich fange an, mich daran allmählich zu gewöhnen!“. Seither ist es eher noch schlimmer geworden; die Präsidentschaft Trumps ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.

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03 Mai

Die Notwendigkeit einer Popularität. Performative Philosophie in ihrem wissenschaftlichen Unverstand

von Christoph Müller (Leipzig)


Die Philosophie befindet sich im Wandel. Immer mehr Philosoph*innen scheinen sich von der klassischen akademischen Art des Philosophierens entfernen zu wollen. Am besten bestätigen können dies wohl die Student*innen, denen geradezu dürstet nach einer anderen, einer zugänglicheren Art des Philosophierens. Wer kennt sie nicht, die hochtrabende Sprache der akademischen Philosophie, die penible Einhaltung korrekter Begriffsverwendung? Die Philosophie der Universitäten scheint sich vor allem mit dem bereits Gesagten zu beschäftigen. Es geht um das Verständnis von Theorien und Systemen, die aus einer Logik heraus und deren Nachvollziehbarkeit entstehen. Zur Grundlage für ein solches Verstehen und das daraus resultierende Philosophieren wird die Aneignung der jeweiligen Begriffswelt erklärt. Allein in der Sprache der jeweiligen philosophischen Theorie wird Philosophieren überhaupt erst möglich. Die Student*innen werden hierbei zu den Fragenden und Unwissenden, die Dozent*innen zu den Wissenden und Belehrenden.

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