08 Sep

Pfingsten – oder wie das Christentum seinen religiösen Wahrheitsanspruch und die Toleranz Anderen gegenüber miteinander verbindet.

Von Martin Wendte (Pfarrer der Friedenskirche und Citykirchenpfarrer, Ludwigsburg)


Einstieg: Buddhistische Bäuche und saudi-arabische Gefängnisse – wie erleben wir die Zuordnung von Toleranz und Wahrheit im Bereich der Religion?

Zwei Szenen zum Einstieg: Von den Bücherregalen vieler Menschenfreunde aus dem sozialökologischen Milieu grüßt eine Buddhafigur. Da sitzt er, der Erleuchtete, mit gütigem Lächeln, meist mit sympathischem Bauchansatz, oft in Bronze oder Plastik gegossen. Er strahlt auch mit seinen nur 30 Zentimetern Größe in den ganzen Raum hinaus aus, dass Du schon Deinen eigenen Weg finden wirst, und dass es gut ist, solange das im Bereich positiver Vibrations liegt. Da macht es dann keinen Unterschied, ob Du die Kraft von diesem wahren Selbst in Dir dann Gott oder Allah nennst, Buddha oder Shiwa.  – Doch vielleicht flackert in demselben Zimmer auch das Hellblau eines Laptops, auf dem neueste Nachrichten aus Saudi-Arabien vermeldet werden: Dort wurde ein Mann am Flughafen gefasst und ins Gefängnis geworfen, weil er Saudi-Arabien illegal verlassen wollte – er konvertierte zum Christentum und ist daher in Saudi-Arabien vom Tode bedroht, weil das Christentum eine unwahre Religion ist, und ihr zu folgen ist nicht tolerabel.

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28 Apr

Heute Nietzsche?

Von Niklas Corall (Paderborn)


Zu runden Geburtstagen einflussreicher Gestalten ist es üblich, die Aktualität ihres Schaffens einzuordnen. Anlässlich des 175. Geburtstags Friedrich Nietzsches wird die Diskussion „Nietzsche heute“ jedoch von der Frage „heute Nietzsche?“ überschattet, von der Frage, ob man heute noch guten Gewissens Nietzsche lesen dürfe. Die politische Landschaft erscheint als beklemmendes Argument gegen sein Denken. Unverantwortlich erscheint jede Philosophie, die narrative Gestaltungsmöglichkeiten eines dem Gesetz der Wahrheit nicht unterliegenden „Schaffenden“ gegenüber dem vernünftigen, demokratischen Diskurs stark macht. Positioniert man sich als Wertschätzer von Nietzsches Denkens, unterliegt man dem Verdacht, Befürworter des post-faktischen Elements zu sein, dem neuen Schlachtfeld politischer Dispute. Schlimmstenfalls erscheint man als Advokat der wieder aufkeimenden politischen Kultur „starker“ werteschaffender Männer oder rassistisch-völkischer Abgrenzungsnarrative. Nicht selten hört man zu Nietzsche, seine Aufweichung rationaler Grundsätze, Wertekontexte und insbesondere der Wahrheit als Basis humanistischen Fortschritts sei eine Wurzel gegenwärtigen Übels.

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24 Dez

Die Wahrheit des Nichtwissens

von Tim Kraft (Universität Regensburg)


Was ist Nichtwissen? Da das Wort „Nichtwissen“ ein Kompositum aus einem Negationspräfix, „nicht“, und einem Substantiv, „Wissen“, ist, liegt es nahe, Nichtwissen als Negation, Nichtvorliegen, Abwesenheit oder Fehlen von Wissen zu verstehen. Wenn das zutrifft, ist die Eingangsfrage schnell beantwortet: Alle begrifflichen Fragen über Nichtwissen können beantwortet werden, indem man sich klar macht, was Wissen ist: Nichtwissen liegt genau dann vor, wenn die Bedingungen für Wissen nicht erfüllt sind. In diesem Beitrag möchte ich eine Schwäche dieses Bilds aufzeigen und dabei illustrieren, dass sich bereits anhand der grundlegenden Frage, ob Nichtwissen die Negation von Wissen ist, eine Reihe von faszinierenden philosophischen Probleme diskutieren lassen. Besonders herausgreifen möchte ich die Frage, wie sich Nichtwissen und Wahrheit zueinander verhalten. Die – vielleicht überraschende – These dieses Beitrags wird sein, dass Nichtwissen ebenso faktiv ist wie Wissen: Wir können sowohl Wissen als auch Nichtwissen nur von Wahrheiten haben.

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28 Nov

Wille zur Macht, Wahrheit und Moral. Große – und aktuelle – Themen der Philosophie Nietzsches

von Beatrix Himmelmann ( Tromsø)


Nietzsche ist heute ein höchst lebendiger Denker; weltweit finden seine Ideen ein Echo. Er gehört zu den meist zitierten und diskutierten Autoren der abendländischen philosophischen Tradition. Warum ist das so? In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Nietzsche schrieb, philosophische Abhandlungen und Aphorismen, aber auch literarische Texte wie die Dionysos-Dithyramben, deutete wenig auf eine derart durchschlagende Wirkung. Nietzsche selbst fühlte sich oft verkannt. „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“, so schätzte er die eigene Stellung in der späten Schrift Ecce Homo ein. Der weit reichende Einfluss seines Denkens sollte sich tatsächlich erst nachträglich entfalten; er setzte spätestens mit der Jahrhundertwende (Nietzsche starb im August 1900) ein und verstärkte sich mit der Publikation unveröffentlichter Manuskripte aus dem Nachlass. Zu erwähnen sind besonders die späten fragmentarischen Notizen, die alle großen Themen der Philosophie Nietzsches behandeln und die zuerst 1901 unter dem – freilich irreführenden – Titel Der Wille zur Macht erschienen.

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26 Mrz

Zum Verhältnis von Ritus, Mythos und Wahrheit in religiösen Systemen

von Markus Wirtz (Köln)


Für das spirituelle Selbstverständnis und die gelebte Praxis religiöser Gemeinschaften und Individuen spielt es vermutlich nur eine untergeordnete Rolle, dass es sich bei Religionen um soziale Konglomerate aus sehr verschiedenen Komponenten handelt. Erst aus der distanzierten Außenperspektive der Religionswissenschaft, Religionssoziologie oder Religionsphilosophie erschließt sich die nähere Zusammensetzung der religiösen Phänomenkomplexe, die von den religiös Engagierten in der Regel ganzheitlich erlebt und mitvollzogen werden. Ritual, Mythos und Wahrheitsglaube (oder Glaubensgewissheit) können als essentielle Charakteristika benannt werden, welche alle Weltreligionen miteinander teilen. Als divergent erweisen sich jedoch im interreligiösen Vergleich – neben der konkreten Ausgestaltung der Riten, Mythen und Doktrinen in den einzelnen Religionskulturen – besonders die Relationen zwischen diesen drei Komponenten innerhalb der jeweiligen Religionen. Rituelle Vollzüge, mythische Erzählungen und als wahr geglaubte Lehrinhalte gehen in den Religionen jeweils verschiedene Verbindungen ein und erhalten in diesen Verbindungen ein von Religion zu Religion unterschiedliches Gewicht.

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01 Nov

Aufklärung, Wissenschaft und „post-truth politics“: Viele Fragezeichen und einige Ausrufezeichen

von Konrad Ott (Kiel)


Als vor Jahresfrist in Russland mehrere Hundert Demonstranten festgenommen wurden, kommentierte der Präsident der Duma, W. Wolodin, dieses Ereignis mit folgenden Worten: „Auf den Straßen Europas löst die Polizei täglich Demonstrationen noch härter auf als dies die russische Polizei tue“ (so die FAZ vom 28. März 2017, S. 1). Meine erste Reaktion war: „Das stimmt nicht, das ist nicht wahr“. Meine zweite Reaktion war: „Naja, ein weiteres Beispiel von ‚post-truth politics‘“. Meine dritte Reaktion: „Oh, ich fange an, mich daran allmählich zu gewöhnen!“. Seither ist es eher noch schlimmer geworden; die Präsidentschaft Trumps ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.

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23 Aug

Wie erkennt man Pseudowissenschaften? (Teil 2)

von Nikil Mukerji (München)


Die Wissenschaft ist eine wichtige gesellschaftliche Institution. Sie hilft uns, unsere eigene Existenz und unsere Natur als Menschen besser zu verstehen. Sie fördert Fakten zutage, auf deren Grundlage Innovation und technischer Fortschritt stattfinden kann. Sie liefert uns aber auch eine sachliche Grundlage für die politische Debatte und die öffentliche Diskussionen über wichtige gesellschaftliche Fragen. Hier sind Fakten wichtig! Wenn wir nicht wissen, von welchen gesellschaftlichen Bedingungen wir ausgehen und wie politische Maßnahmen wirken, haben wir kaum eine Chance, zufrieden stellende Antworten auf die drängenden Fragen unserer Zeit zu finden. Deswegen müssen wir die Wissenschaft als gesellschaftliche Institution verteidigen und sie gegen Scharlatanerie und Humbug abgrenzen, bei der es sich um keine echte Wissenschaft handelt, sondern nur um Pseudowissenschaft. Aber wie erkennt man Pseudowissenschaft? Um diese Frage geht es mir hier.

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16 Aug

Hannah Arendt und das „postfaktische Zeitalter“

von Judith Zinsmaier (Tübingen)


Mit dem 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählten Begriff „postfaktisch“ soll dieser zufolge eine Situation beschrieben werden, in der sich die politischen Debatten nicht mehr an Fakten und Wahrheiten orientieren, sondern an Emotionen. Nicht das Aussprechen der Wahrheit, sondern dasjenige der ‚gefühlten Wahrheit‘ führe im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg.[1]

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10 Mai

Populismus, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

von Norbert Paulo (Salzburg und Graz)


Inzwischen ist es eine allzu vertraute Taktik populistischer Politiker_innen zu suggerieren, sie wären im alleinigen Besitz der Wahrheit. Wer sich erlaubt, diese Wahrheit anzuzweifeln, wird nicht etwa argumentativ überzeugt, sondern abgewertet oder gar zum Feind erklärt. So sind Politiker_innen oder Geheimdienste, die anderer Meinung sind, Teil der „Elite“ oder des „Systems“ und damit per se unglaubwürdig. „Sogenannten“ Richter_innen oder Expert_innen wird unterstellt, nicht unabhängig nach Rechtsstaatlichkeit oder Erkenntnis zu streben, sondern eine eigene politische Agenda zu verfolgen. Wenn Medien die Vorschläge von Populist_innen kritisieren, werden sie schnell zu „Feinden des Volkes“ erklärt. Mit einer solchen Taktik immunisieren sich Populist_innen gegen Kritik: Wenn „sogenannte“ Richter_inner den US-Präsidenten daran hindern, das Land gegen die Einreise von Muslim_innen zu schützen, dann sind sie auch verantwortlich für den nächsten (islamistischen) terroristischen Anschlag. Schließlich wäre der Anschlag nicht passiert, hätten die Gerichte den Präsidenten nicht behindert. So jedenfalls wird Donald Trump es darstellen – und damit die Gerichte weiter schwächen, wie er es mit der restlichen Justiz auch tut.

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