29 Jun

Von schlechtem Sex zur patriarchalen Ehe? Überlegungen zu Fichtes Geschlechtertheorie in der Grundlage des Naturrechts (1796/7)

Von Esther Neuhann (Hamburg)


In seinem Werk Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre [GNR] schließt Johann Gottlieb Fichte von der vermeintlichen Tatsache, dass die Frau[1] beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr eine rein passive Rolle einnehme, auf die Notwendigkeit, dass sie bei der Eheschließung „alle ihre Rechte abtrete“[2]. Diese Argumentation funktioniert nun nicht schlicht so, dass die passive Rolle der Frau beim Sex in eine passive soziale Rolle übersetzt würde. Vielmehr meint Fichte, dass die passive sexuelle Rolle der Frau ihrer vernünftigen, aktiven Menschlichkeit erst einmal widerspricht. Dieser Widerspruch werde durch die patriarchale Ehe insofern gelöst, dass sich die Frau bei der Eheschließung aktiv für ihre Unterwerfung entscheide.

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21 Jan

Sexphilosophie

Von Anna Mense (Gießen)


Einleitung[1]

In diesem Text geht es darum, nachzuspüren, inwieweit erlebte Körperlichkeit sowie Aspekte des Sexuellen Teil philosophischer Praktiken sind oder sein können, die, insofern sie unbewusst bleiben, ihr epistemisches Potential nicht frei entfalten können. Ich möchte einerseits den Phänomenbereich Sexualitäten zum Anlass nehmen, um über philosophische Praktiken nachzudenken und ein Gespür dafür zu entwickeln wie Sexualitäten in philosophische Praktiken hineinwirken können. Andererseits möchte ich Aspekte des Sexuellen performativ erfassen, wenn ich letztlich der Frage nachgehe, wie eine philosophische Praxis aussehen könnte, die von ihrer Sexualität nicht absieht, sondern sie explizit macht und textuell gestaltet. Während der erste Teil des Textes verschiedene Weisen von Abwesenheiten des Sexuellen innerhalb philosophischer Praktiken reflektiert, offeriert der zweite Teil zunächst eine Reihe von Beschreibungen sexueller Aspekte innerhalb philosophischer Praktiken.  Der zweite Teil schließt mit einer Skizze dessen, was ich Sexphilosophie nenne.

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07 Nov

Was ist sexuelle Intimität?

 von Sascha Settegast (Trier)


Dass Sex eine ziemlich intime Angelegenheit sein kann, würde wohl kaum jemand bestreiten. Immerhin geben wir uns nur wenigen Menschen gegenüber auf diese Weise die Blöße, indem wir alle Hüllen fallen lassen und sie ganz an uns heranlassen. Intimität ist das Gegenteil von persönlicher Distanz. Sie entsteht, wo wir anderen gegenüber bestimmte Grenzen aufgeben und uns offenbaren, wie wir sind. Da Grenzziehungen auch immer dem Selbstschutz dienen, geht echte Intimität notgedrungen damit einher, dass wir uns angreifbar machen; sie ist ohne Bereitschaft zur eigenen Verletzlichkeit nicht zu haben. Intimität ist riskant und erfordert deshalb Vertrauen dem anderen gegenüber. Dies mag ein Grund sein, weshalb Intimität im Bereich des Sexuellen in der gesellschaftlichen Imagination wesentlich mit Liebesbeziehungen verbunden ist, als etwas, das im Rahmen einer festen und exklusiven Partnerschaft seinen natürlichen Ort hat.

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01 Okt

Können Menschen Liebe machen? Eine inklusive Perspektive auf Liebe, Freundschaft und Sex mit nichtmenschlichen Wesen

Von Janina Loh (Wien)

Vor einiger Zeit traf ich in einem Bus in Berlin auf eine alte Frau, die offenkundig ohne Begleitung war. Sie hatte eine kleine Wunde am Bein. Nachdem ich ihr vom Busfahrer ein Pflaster besorgt hatte, fragte ich sie, wohin sie wolle und ob ich ihr vielleicht behilflich sein könne. Die Antwort, die sie mir mit einem müden Lächeln gab, verblüffte mich: Ihr gehe es gut, bedankte sie sich, sie wolle nirgendwo hin. Sie fahre jeden Tag Bus, nur, um unter Leuten zu sein, denn sonst wäre sie ganz allein. Diese Begegnung liegt nun mehrere Jahre zurück, doch immer wieder kehre ich in Gedanken zu ihr zurück.

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26 Sep

Der Mythos von der sexuellen Überwältigung

von Almut Kristine von Wedelstaedt (Bielefeld)


Sex hat oft mit einem Kontrollverlust zu tun hat. Es fühlt sich manchmal so an, als würde man von sexueller Lust überwältigt, so dass man sich dieser nur ergeben kann. Das ist einerseits etwas, was Sex schön machen kann. Es ermöglicht einer unter Umständen, loszulassen, sich zu entspannen, alles andere zu vergessen, vielleicht auch sich im eigenen Körper ganz Zuhause zu fühlen. Es ist andererseits auch etwas, das Sex gefährlich machen kann. Wer die Kontrolle verliert, kann leichter verletzt werden, auf andere Arten verletzt werden, als jemand, der aufmerksam ist und alles im Blick hat. Nicht ohne Grund sind vermutlich manche der in diesem Zusammenhang genutzten Metaphern kriegerische („überwältigen“, „sich ergeben“).

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05 Sep

Pornographie und befreite Sexualität

von Anne Weber (Lübeck)


Pornographie, d.h. die graphische und literarische Darstellung menschlicher Sexualität im Dienste sexueller Erregung, ist so alt, wie die Menschheit selbst. Ob an Höhlenwänden, auf Bildern, VHS-Kassetten, im Internet oder mit virtual-reality-Brille, pornographische Artefakte sind zeiten-, länder- und kulturübergreifend präsent. Es ist zunächst auch jenseits ethischer oder pädagogischer bzw. rechtlicher Beurteilung des Phänomens deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass Pornographie einen wichtigen Beitrag zur (Selbst-)Beschreibung menschlicher Sexualität leistet (Sven Lewandoswki).

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22 Aug

Nein, Sex ist nicht wie eine Tasse Tee

von Maya Burkhardt


„Entscheidungen bezüglich des Sexuallebens können Erwägungen über Aufrichtigkeit, Rücksicht auf andere, Klugheit oder die Schadensvermeidung für andere usw. einschließen, aber dasselbe ließe sich zu Entscheidungen sagen, die das Autofahren betreffen. (Tatsächlich sind die moralischen Probleme, zu denen das Autofahren Anlass gibt, sowohl vom Standpunkt der Umwelt als auch dem der Sicherheit, viel schwerwiegender als Probleme, die sich aus geschütztem Sexualverkehr ergeben.) Dieses Buch enthält demgemäß keine Diskussion über Sexualmoral. Es gibt wichtigere Fragen der Ethik, die zu bedenken sind.“

Das schreibt Peter Singer in der Einleitung der dritten Auflage seines Buches „Praktische Ethik“ zum Thema Sexualmoral in dem Bemühen, ernstzunehmende moralische Überlegungen von einem „System widerwärtiger puritanischer Verbote […]“ abzugrenzen, „[…] dass hauptsächlich dazu bestimmt ist zu verhindern, dass Menschen ihr Vergnügen haben.“[1] Singer nutzt den Vergleich mit dem Autofahren hier am Anfang seines Buches, um das Thema Sexualität aus seiner weiteren Auseinandersetzung herauszuhalten.

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06 Aug

Ist die Alternative „Pornografie“ tatsächlich Pornografie?

von Natascha Bencze (Zürich)


Hinsichtlich des unbestreitbar grossen Einflusses, den der sexuelle Trieb auf unser Leben hat, scheinen den philosophischen Auseinandersetzungen mit der menschlichen Sexualität keine Grenzen gesetzt zu sein. Oftmals richten wir unser Verhalten, unsere Handlungen und Entscheidungen danach, was unsere potentiellen Chancen auf die Befriedigung unserer sexuellen Bedürfnisse erhöht. Welche Attribute dabei als besonders wirksam gelten und weshalb dies der Fall ist, sind Fragen, die sich einerseits mit den individuellen Vorlieben befassen, andererseits aber auch übertragen auf die Gesellschaft und in Bezug auf die Kultur untersucht werden. Kulturübergreifende Vergleiche können dabei äusserst aufschlussreich sein. In vielen Kulturkreisen gilt das Sprechen über dieses Anliegen jedoch als Tabu. Dass in einer Gesellschaft im öffentlichen Diskurs nicht darüber gesprochen wird, bedeutet jedoch nicht, dass die Bevölkerung ihren Vorlieben nicht nachgeht. Der Internetzugriff ermöglicht es uns heute, in wenigen einfachen Schritten pornografisches Material aufzurufen und meist kostenfrei anzusehen. Da es ebenso einfach ist, selbst Material hochzuladen, scheint es keine sexuelle Fantasie zu geben, welche von der Online-Welt der Pornografie nicht abgedeckt wird.

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18 Jul

Sex?!

von Hilkje Charlotte Hänel (Berlin)


Was ist Sex eigentlich? Intuitiv scheint uns das allen klar zu sein, schließlich sehen wir Sex im Fernsehen und auf Plakatwänden, reden über Sex, haben selber Sex. Wir wissen, mit welchen Personen wir Sex hatten und mit welchen nicht. Wir können mitzählen. Eine Liste mit Namen unserer Sexpartner anlegen. Aber das, was wir da intuitiv als Sex kategorisieren, ist häufig nur eine bestimmte Form von Sex: heterosexuelle Penetration. Aber ist das alles? Sollten wir nicht auch andere Handlungen als Sex kategorisieren? Greta Christina schreibt

When I first started having sex with other people, I used to like to count them. I wanted to keep track of how many there had been. […] So, in my mind, Len was number one, Chris was number two, that slimy awful little heavy metal barbiturate addict whose name I can’t remember was number three, Alan was number four, and so on. […]

Then I started having sex with women, and, boy, howdy, did that ever shoot holes in the system. I’d always made my list of sex partners by defining sex as penile-vaginal intercourse—you know, screwing. It’s a pretty simple distinction, a straightforward binary system. Did it go in or didn’t it? Yes or no? One or zero? On or off? Granted, it’s a pretty arbitrary definition, but it’s the customary one, with an ancient and respected tradition behind it, and when I was just screwing men, there was no compelling reason to question it.

[…] So when I started having sex with women the binary system had to go, in favor of a more inclusive definition.[1]

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04 Jul

Am fremden Leib erfahren

von Verena Triesethau (Leipzig)


Alle Welt redet über Sex, alle Welt hat Sex, Sex scheint etwas ganz Natürliches. Jedenfalls suggeriert der mediale Diskurs solche Annahmen, die sich auch in einer der am häufigsten gebrauchten superlativen Umschreibungen zeigt: „Sex ist die natürlichste Sache der Welt“.

Diese Berufung auf die Natürlichkeit gräbt das alte Spannungsverhältnis von Konstruktivismus und Essentialismus wieder hervor. Betrachten wir Sex aber zunächst als etwas, das wir körperlich erfahren, stellt sich die Frage nach dem Gegebenen und dem Gewordenen etwas anders und zwar danach, wie ein Verhältnis von diskursiver Herstellung und subjektiver Erfahrung gefasst werden kann. Die körperphilosophischen Überlegungen zu Geschlechtlichkeit und Sexualität von Judith Butler und Michel Foucault bewegen sich vor allem in einem konstruktivistischen Rahmen, in dem subjektive Erfahrung durch Diskurse entsteht. Dieses den Sexualitätsdiskurs bestimmende konstruktivistische Paradigma lässt bislang Sexualität als körperlich-leibliche Erfahrung weitgehend unberührt.

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