25 Mai

Demokratie ohne Geländer: Zum 50. Todestag von Hans Kelsen

von Marie-Luisa Frick (Universität Innsbruck)

Vor fünfzig Jahren in den Vereinigten Staaten gestorben, gilt der 1881 in Prag (Österreich-Ungarn) geborene Hans Kelsen als herausragend(st)er Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Rechtsphilosophie, Öffentliches Recht und Verfassungstheorie, Demokratietheorie, Völkerrechtstheorie – in all diesen Bereichen hat Kelsen tiefe Spuren gezogen, die nicht nur für die Republik Österreich von besonderer Bedeutung sind, deren Bundesverfassung von ihm maßgeblich geprägt ist, sondern bis heute in globalen Debatten und Forschungsarbeiten nachwirken. Sein Werk spiegelt die politischen Konflikte und Umbrüche des letzten Jahrhunderts und offenbart einen umfassend gebildeten Denker, der mit imposantem Scharfsinn und auch mit für manche irritierender Konsequenz an seinen Idealen festhält und dies mit einer streng-nüchternen, nach allen Seiten hin vertretenen ideologiekritischen Haltung.

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30 Nov

Warum ein demokratischer Rechtsstaat Armut nicht tolerieren darf

Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.


von Eva Maria Maier (Wien)


Einleitung: Armut und Pandemie

Gerade die aktuelle Krise illustriert eindringlich, dass wachsende Armut und Arbeitslosigkeit nicht nur ökonomische Wachstumsraten gefährden, sondern selbst die demokratische Kultur etablierter Rechtsstaaten vor gravierende Herausforderungen stellen. Vor allem rückt die Pandemie-Ausnahmesituation neue Armutsfallen und neue Formen der sozialen Exklusion in den Fokus staatlicher Verantwortung. Generell müssen Armutsbekämpfung und soziale Sicherheit als genuine Aufgaben demokratischer Rechtsstaatlichkeit begriffen werden. Insbesondere sind Armut und Ausgrenzung mit dem fundamentalen Prinzip der Menschenwürde unvereinbar.

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06 Mai

Die Krise der Rechtswissenschaften vor dem Hintergrund von COVID-19, KI und Klimawandel

Von Christoph Winter (Mexiko-Stadt / Cambridge, MA)


Armin Steinbach fragte jüngst, wo der konstruktive und lösungsorientierte Beitrag des Rechts zur Krisenbewältigung bleibe? Den Grund für das Ausbleiben dessen und den derzeitigen Fokus auf den mahnenden Zeigefinger schiebt er gleich hinterher: Demut! Der ausbleibende Beitrag ließe sich demnach auf den „bescheidenen professionalen Habitus der Juristen“ zurückführen.

Ich habe diesbezüglich meine Zweifel. Vielmehr glaube ich, dass Juristinnen, jedenfalls wenn sie sich weiterhin auf den traditionellen rechtswissenschaftlichen Methodenkompass verlassen und dabei insbesondere jede bewusste Aufrechnung unterschiedlicher Interessen unterlassen, schlichtweg wenig beizutragen haben. Dies liegt zum einen an einer in Deutschland bekanntermaßen eindimensionalen Ausbildung. Zum anderen an den mitunter wenig aussagekräftigen zentralen Verfassungsprinzipien, die in Hinblick auf die innerhalb der Debatte zentralen trade-offs nur wenig (Menschenwürde) oder (fast) gar keine (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) Orientierung geben. Näher werde ich in diesem Beitrag nur auf die verfassungstheoretische Komponente eingehen. Dabei wird deutlich, dass die Rechtswissenschaften nicht nur im Kontext der aktuellen Pandemie der Bedeutungslosigkeit entgegensteuern. Sofern sie ihre ausgeprägte Aufrechnungsaversion nicht ablegen sollten, stehen sie vor einer schweren Krise.

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05 Mai

„Chaos in Ordnung bringen“. Zum Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit im Recht

Von Ino Augsberg (Kiel)


I. Einleitung

Rudolf Wiethölter, einer der wichtigsten deutschen Rechtstheoretiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, charakterisiert sein Verständnis des Rechts gerne mit einer Formel, die er selbst von Adorno übernommen haben will. Diese Quellenangabe ist allerdings eher Reverenz als Referenz. Denn sie unterschlägt, dass der entscheidende Witz jener Formel erst durch Wiethölter geschaffen wird. Erst seine Streichung eines bei Adorno noch gegebenen bestimmten Artikels subvertiert die Ordnung des originalen Satzes und bringt dessen ursprünglich eindeutige Aussage in die Schwebe einer gegenwendigen Doppelbedeutung. Aus Adornos etwas bemüht antibürgerlicher Formulierung, „Aufgabe von Kunst heute“ sei es, „Chaos in die Ordnung zu bringen“ (Adorno 1994, 298), wird bei Wiethölter die knappere, auch imperativisch zu lesende Formel: „Chaos in Ordnung bringen“ (Wiethölter 1994, 107; dazu näher Zabel 2019), die sich in beide Richtungen zugleich lesen lässt, weil sie sowohl Ordnen des Chaos wie Chaotisierung der Ordnung heißen kann.

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