07 Sep

Neuer Wein in alten Schläuchen?! Philosophische Rassismuskritik zwischen Akademisierung und Katalyse

von Peggy H. Breitenstein (Jena)

Bei Betrachtung der jüngsten deutschsprachigen Debatten um das rassistische und kolonialistische Erbe der Philosophie zeigen sich aufschlussreiche Tendenzen. Einige von ihnen erinnern an vergangene Zeiten, in denen dieses Thema auch bereits kürzere Konjunkturen erlebte, bevor es dann wieder erfolgreich verdrängt oder vergessen wurde. Doch diesmal scheinen sich auch Entwicklungen anzubahnen, die wirklich neuartig sind, und manche könnten Gärstoff enthalten, der alte Schläuche zum Bersten bringt.

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18 Jul

Wie umgehen mit dem rassistischen Erbe in der Philosophie? Die richtigen Fragen stellen!

von Andrea Esser (Universität Jena)

In vielen klassischen Texten der philosophischen Tradition kann man auf Passagen treffen, die – mindestens nach heutigen Maßgaben – als rassistisch zu beurteilen sind. Die Philosophie hat, wie viele andere Fächer auch, damit begonnen, sich mit diesem rassistischen Erbe auseinanderzusetzen. Sofern philosophische Vorurteilskritik, die Prüfung erhobener Ansprüche, die Aufdeckung von Schein und Ideologiebildung in der Philosophie ihrerseits eine lange Tradition haben und durchaus zum Kerngeschäft philosophischen Arbeitens gerechnet werden, könnte man meinen, dass diese Aufgabe keine sonderliche Herausforderung für das Fach darstellt. Viele philosophische Theorien bieten ein geeignetes begriffliches und methodisches Instrumentarium zur (macht- bzw. ideologie-)kritischen Textanalyse, aber auch, um die philosophische Theoriebildung und sogar noch die Praxis des Philosophierens der Selbstkritik auszusetzen. Ob die Auseinandersetzung mit dem rassistischen Erbe aber auch im konkreten Fall selbstkritisch ausfällt, hängt vor allem von den Fragen ab, mit denen sie eröffnet wird. Bereits die Fragestellung lenkt den Fokus der Auseinandersetzung auf bestimmte Gegenstände und entscheidet darüber, ob etwa vorrangig über die Vergangenheit gerichtet wird oder ob rassistische Vorurteile und ausschließende sowie einschränkende Rahmenbedingungen auch der gegenwärtigen philosophischen Praxis mit zum Thema gemacht werden. Ist Letzteres der Fall, könnte die selbstkritische Beschäftigung mit der eigenen Tradition auch neue, um die Kritik erweiterte Sicht- und Verfahrensweisen, ein geschärftes Problembewusstsein und eine gesteigerte Sensibilität für die eigene Situiertheit und die damit verbundenen Grenzen eröffnen. Für ein Philosophieren in einer globalisierten Welt könnte diese Erweiterung des Fokus möglicherweise wichtig sein …

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27 Apr

Das weiße (Nicht-)Wissen der Philosophie

von Marina Martinez Mateo (Akademie der Bildenden Künste München)

Die Philosophie ist in ihrem institutionellen Funktionieren als Disziplin ein Ort weißen (Nicht-)Wissens. Das heißt nicht – so viel vorweg –, dass sie nur das ist: Kontinuierlich werden dem Weißsein der Philosophie andere Formen des Wissens und Denkens entgegengesetzt, ganze Traditionen und Denkformen, die außerhalb der weißen Begrenzungen der Philosophie stattfinden. Diese anderen Formen des Denkens aber stoßen auch heute noch gegen eine Wand kanonisierter, als „wichtig“ und als philosophisch (im „ernstzunehmenden“ Sinn) geltender Denkbestände, die sie mindestens an die Ränder der Philosophie (wenn nicht ganz aus ihr heraus) drängt. Um diese Wand soll es im Folgenden gehen. Was bedeutet es, vom weißen Nicht-Wissen der Philosophie zu sprechen? Drei Annahmen sind damit verbunden: Erstens die Annahme, dass die Philosophie, historisch wie gegenwärtig, ein weißer Ort ist. Zweitens die Annahme, dass es ein Ort weißen „Wissens“ ist, dass sich also das Weißsein der Philosophie in den Formen des Wissens und Denkens widerspiegelt, die darin stattfinden. Die dritte Annahme lautet, dass es sich bei diesem Wissen um ein „Nichtwissen“ handelt, wie es Charles Mills nennt, das heißt um ein Wissen, das Ausdruck rassialisierter Herrschaft ist und darum ein begrenztes, verblendetes, verfälschendes, verdummendes Wissen (eben ein Nicht-Wissen) darstellt. Diese drei Annahmen werden im Folgenden erläutert und diskutiert.

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16 Mrz

Philosophische Bildung und Digitalisierung. Ein Schlichtungsversuch

Von Markus Bohlmann (WWU Münster)


Der folgende Beitrag ist auch als Podcast verfügbar.

Die Debatte um Bildung, insbesondere philosophische Bildung, und Digitalisierung ist immer noch zu häufig von gezielten Affekten, unbestimmten Ängsten, unerfüllbaren Hoffnungen und allzu klaren Fronten bestimmt. Das hier ist der Versuch einer Schlichtung in zwei Schritten. Hierzu werde ich zeigen, dass Digitalisierung erst einmal eine große Enttäuschung ist, auf die philosophische Bildung aber gut reagieren kann, und zweitens etwas Altbekanntes, mit dem die Philosophie schon lange arbeitet.

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14 Feb

Digitale Philosophie – oder Philosophie des Digitalen? Oder beides?

Von Jonathan D. Geiger (Akademie der Wissenschaften und der Literatur | Mainz)

„Digitalisierung“ und „Digitalität“ – Begriffe, die in unseren heutigen Diskursen selbstverständlich geworden sind. Doch diese Begriffe rein technisch zu verstehen greift zu kurz, sodass geisteswissenschaftliche bzw. philosophische Reflexionen notwendig werden. Neben der Theorie sieht sich die Philosophie allerdings auch auf der praktischen Ebene mit einer digitalen Transformation konfrontiert („Digital Humanities“) und muss ein Verhältnis zu digitalen Infrastrukturen und Methoden aufbauen.

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19 Apr

Ein bisschen Frieden? – Eine uneigentliche Philosophie des Schlagers

von Florian Arnold (HfG Offenbach)


Als Nicole beim Eurovision Song Contest 1982 einer der erfolgreichsten deutschen Schlager performte, wusste sie nicht, was sie damit anrichten sollte. Nicht nur gewann die erst 17-jährige den ersten Preis und erlebte einen kometenhaften Aufstieg in die obersten Klangsphären des Schlagerkosmos, sondern sie verlieh der buchstäblichen „Eurovision“ zugleich eine Deutung, die heute, nach 40 Jahren, leider wieder an Aktualität gewonnen hat, denkt man etwa an den Ukraine-Russland-Krieg oder Fridays for Future. In einem Jahr des Falkland- und ersten Libanonkriegs, des Regierungswechsels Schmidt-Kohl per Misstrauensvotum und des NATO-Gipfels in Bonn machte sich die noch junge Friedensbewegung seinerzeit Luft gegen die Angst vor weiterer Aufrüstung und einer sich abzeichnenden ökologischen Krise. Und als weithin sichtbarer Ausdruck dieses Umdenkens muss man auch Nicoles Beitrag werten.

Im Rückblick interessant jedoch scheint weniger diese Tatsache selbst, als die Art und Weise, der Ton, durch den sie sich Gehör verschaffte. So lautet die zweite Strophe:

„Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel.
Ich bin nur ein Mädchen, das sagt, was es fühlt.
Allein bin ich hilflos, ein Vogel im Wind,
der spürt, dass der Sturm beginnt.“

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28 Feb

Krieg und Frieden

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wird einhellig als historische Zäsur verstanden. Dieser Krieg erzeugt durch die geographische, kulturelle und politische Nähe eine Betroffenheit, die ungleich größer ist als bei Kriegen in der Distanz. Ja, auch bei vielen anderen Kriegen (zum Beispiel dem Irakkrieg 2003) gab es Proteste und eine öffentliche Diskussion, wie Frieden erreicht werden könnte. Die Sorgen sind nun, da der Krieg von einem autoritär regierten Russland gegen ein europäisches Land geführt wird, jedoch ungleich größere. Es mehreren sich die Stimmen, dass Frieden vor allem durch Aufrüstung und gegenseitige Abschreckung aufrechterhalten werden kann und dass es ein militärisch starkes Europa braucht. Die wirtschaftlichen Folgen dieses Kriegs und der verhängten Sanktionen werden ebenso spürbar sein – die Abhängigkeit vom russischen Gas ist groß –, wobei zu erwarten ist, dass die Lasten einer Teuerung vor allem die einkommensschwache Bevölkerung treffen werden (sowohl in Europa als auch in Russland). Ob und wann und durch welche Maßnahmen Russland zum Frieden gezwungen werden kann und welche mittel- und langfristigen Folgen dieser Krieg haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die Hoffnung ist, dass es schnell zu Frieden kommt und sich die Ukraine nicht in ein zweites Afghanistan, Irak oder Syrien verwandelt. Der Weg der Ukraine – und auch der Russland – muss rasch in Demokratie und Frieden führen.

Dennoch sind auch in diesem Konflikt nicht alle Fragen einfach zu beantworten – weder die militärischen, politischen, ökonomischen noch die ethischen und philosophischen. Es stellen sich Fragen der Legitimität einer militärischen Unterstützung und Intervention, der moralischen Pflichten der europäischen Staaten gegenüber der Ukraine, der Bevölkerung, die vor Ort ist und jenen Menschen, die in sichere Häfen fliehen (wollen). Müssen Frieden und soziale Gerechtigkeit (in der Ukraine, in Russland, in Europa) Hand in Hand gehen? Wie Frieden unter nicht-idealen Bedingungen einer multipolaren Welt, in der auf allen Seiten konkurrierende geostrategische und ökonomische Interessen herrschen, geschaffen werden kann, ist die zentrale Frage, aber auch worin eigentlich der moralische relevante Unterschied zwischen diesem Krieg und anderen besteht, die differenzierte Reaktionen der europäischen Staaten legitimieren. Wer trägt die (moralische) Verantwortung für diesen Krieg und was bedeutet es überhaupt diese Frage zu stellen – Putin alleine, seine Unterstützer, all jene, die lange Jahre gute Geschäfte mit ihm gemacht haben? Dieser Krieg wird nicht nur in der Ukraine geführt, sondern auch in den (sozialen) Medien, in denen fake news einfach und massenhaft verbreitet werden können. Ist es die richtige Reaktion hierauf mit Verboten zu antworten, wie es die EU nun tut, indem sie die von der russischen Regierung kontrollierten Medien Russia Today und Sputnik sperrt? Welche Verantwortung haben die Medien, damit die Wahrheit nicht das erste Opfer wird? Schließlich geht es auch um uns selbst: Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Während Krieg herrscht scheint es nicht dringlich, ja vielleicht sogar pietätlos, Philosophie zu betreiben. Vor allem Philosophie, die sich mit Krieg und Frieden auseinandersetzt und die auch dabei notwendigerweise abstrakt, distanziert und kühl erscheinen muss. Es schreibt sich vielleicht zu einfach aus der Distanz über Tod und Leid, wenn man in der gemütlichen Stube einer westeuropäischen Universität sitzt, während anderswo die Bomben fallen. Natürlich lässt sich hier einwenden, dass leider immer irgendwo auf der Welt Krieg herrscht und ebenso, dass alle globalen Ungerechtigkeiten und die vielen Leiden auf die die Philosophie reflektiert, grausame Wirklichkeit für viele Millionen Menschen sind (zum Beispiel globale Armut, Ausbeutung, Flucht oder Menschenrechtsverletzungen). Darf, ja soll, die Philosophie sich nun in die öffentliche, mediale, politische und wissenschaftliche Debatte einbringen? Was hat sie dafür überhaupt anzubieten aus dem großen Fundus ihrer älteren und jüngeren Geschichte in der Krieg und Frieden durchaus intensiv analysiert wurden? Vielleicht ist nun die Zeit für die akademische Philosophie zu schweigen. Aber was würde das über die Philosophie aussagen, würde das nicht bedeuten, dass ihre Reflexionen nur als Feierabendvergnügen taugen, die angesichts der bitteren Realität wenig bis nichts wert sind?

08 Jul

Chancengleichheit und Armut

Dieser Blogbeitrag bezieht sich auf einen ausführlichen Beitrag im neuen Handbuch Philosophie und Armut, welches im April 2021 bei J.B. Metzler erschienen ist.


Von Marcel Twele (Bern)


Die Begriffe „Armut“ und „Chancengleichheit“ lassen verschiedene Interpretationen zu. Umfasst Armut nur das Entbehren absoluter Güter (wie eine nahrhafte Ernährung) oder auch positionaler Güter (wie gesellschaftliche Anerkennung)? Haben Menschen bereits dann gleiche Chancen, wenn sie, ohne diskriminiert zu werden, mit allen anderen um vorteilhafte  gesellschaftliche Positionen wetteifern können, oder erfordert Chancengleicheit einen Ausgleich sozial- oder gar genetisch ungleicher Ausgangsbedingungen, womöglich bereits im Kindesalter (oder früher)? Dies ist mehr als ein Streit um Worte, denn viele Menschen glauben, dass wir Gründe haben, Armut zu bekämpfen und Chancenungleichheit zu verringern. Doch auch hier ist man sich keinesfalls einig: Manche sehen Handlungsbedarf hinsichtlich keines oder nur eines der beiden Phänomene. Diejenigen, die sowohl ein (moralisches bzw. politisches) Prinzip der Beseitigung von Armut (im Folgenden „Suffizienzprinzip“) als auch ein Prinzip der Chancengleichheit akzeptieren, können zudem unterschiedlicher Ansicht darüber sein, was von beiden im Konfliktfall Vorrag hat.

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12 Apr

3 Jahre praefaktisch. Populäre Philosophie, Aufmerksamkeit und Loslassen

von Gottfried Schweiger (Salzburg)


Nun gibt es praefaktisch, den besten aller möglichen Philosophieblogs, seit drei Jahren. Das freut uns sehr. Die Zugriffe haben sich kontinuierlich gesteigert (wir wissen ehrlich gesagt aber nicht, ob unsere Zugriffszahlen hoch oder niedrig sind, da uns die Vergleiche fehlen). Fast alle, denen wir schreiben, haben vom Blog schon einmal gehört, einige lesen ihn sogar regelmäßig und gerne. Unser Dank gebührt natürlich vor allem den AutorInnen. Pro Jahr sind es mehr als einhundert Beiträge, die wir veröffentlichen. Wegen Corona waren es 2020 noch um ein paar Dutzend mehr. Es tut sich also etwas. Eine kurze Reflexion auf Bloggen, populäre Philosophie, Aufmerksamkeit und Loslassen.

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01 Apr

Über das (eigene) Ende hinausdenken – Philosophie und deep adaptation

Von Daniel Neumann (Klagenfurt)


Der Klimawandel stellt uns nicht mehr vor eine Krise, die es abzuwenden gilt. Vielmehr haben wir den point of no return bereits überschritten. Die Frage lautet jetzt nur noch, wie wir mit dieser Erkenntnis umgehen sollen. Dies ist die Kernthese des 2018 von Jem Bendell veröffentlichten Paper Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy. In diesem Text frage ich mich, was die Philosophie als „Kunst, das Sterben zu lernen“, zu Bendells These beitragen kann.   

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