24 Aug

Antiziganismus – (K)Ein Thema für die Philosophie?

Laura Soréna Tittel (Justus-Liebig-Universität Gießen)

Die Verstrickung der Philosophie in den Rassismus wurde in den letzten Jahren heiß diskutiert. Von Antiziganismus war dabei jedoch kaum die Rede. Vielmehr wurde dem klassischen philosophischen Kanon vorgeworfen, Rechtfertigungen für den Kolonialismus und für rassistisch bestimmte Hierarchien hervorgebracht zu haben. Doch wie verändert sich der Blick, wenn man in den philosophischen Schriften nicht nur nach rassistischen Denkmustern sucht, sondern explizit nach antiziganistischen? Ist die Philosophie auch in den Antiziganismus verstrickt oder kann sie etwa helfen, ihn besser zu verstehen?

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02 Mrz

Politik der Bedürfnisse. Eine Replik

von Christoph Henning (Erfurt)


Die menschlichen Bedürfnisse sind von Seiten eines Teams von AutorInnen in die Diskussion geworfen worden. Obwohl durch die „11 Thesen“ dabei ein Bezug auf Marx suggeriert wird, kommen die Bedürfnisse allerdings schlecht weg. Der Ball wird an dieser Stelle aufgenommen und in rettender Absicht werden einige Gegenthesen formuliert.[1]

1. Materiale Kritik oder pauschale Ablehnung des Konzepts natürlicher Bedürfnisse?

Der Rückbezug auf unerfüllte Bedürfnisse ist bei Protesten ein beliebtes Argument. Das Team moniert, dass sich nicht nur emanzipatorische, sondern auch konservative und populistische Bewegungen auf eine naturalistisch klingende Definition menschlicher Bedürfnisse stützen. Darauf ist in der Tat zu reagieren. Zwei Reaktionen sind denkbar: Entweder wir kritisieren problematische Verkürzungen des Bedürfnis-Begriffs und schlagen Alternativen vor. So drückt die Gelbwesten-Forderung nach subventioniertem Benzin kein Bedürfnis nach Öl, sondern nach Bewegungsfreiheit aus, und dem lässt sich auch besser mit einem funktionierenden öffentlichen Verkehr nachkommen. Oder man zieht den Schluss, jeden naturalistisch aussehenden Bedürfnis-Begriff abzulehnen. Damit kritisiert man aber nicht nur problematische Phänomene, sondern verliert auch den Anschluss an eine breite Palette emanzipatorischer sozialer Bewegungen – ein hoher Preis.

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09 Mai

Rawls und die Kritik am Distributionsparadigma

Von Bernd Ladwig (Berlin)


Für Rawls ist Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen. Die Grundfrage einer Theorie der Gerechtigkeit laute, wie die gesellschaftliche Grundordnung die Rechte und Pflichten sowie die Früchte der Zusammenarbeit unter den Angehörigen eines Gemeinwesens verteilen sollte. Die gerechte Verteilung beschränkt sich dabei nicht auf ein System gleicher persönlicher und politischer Grundfreiheiten. Sie schließt auch den Zugang zu Ämtern und Positionen sowie sozioökonomische Güter ein. Vor allem aber soll sie das wichtigste Grundgut der Gerechtigkeit, die sozialen Grundlagen der Selbstachtung, gewährleisten. Jeder soll sich selbst für wert befinden, in der Gesellschaft, der er ein Leben lang angehört, seine Fähigkeiten zu entfalten und den eigenen Überzeugungen zu folgen.

Weil der Utilitarismus dies nicht garantieren könne, verwirft ihn Rawls als Rahmen seiner Theorie. Diese ist ihrer Grundanlage nach distributiv: Jeder einzelne muss die soziale Grundordnung aus seiner eigenen Perspektive gutheißen können; jedem kommt unter der Bedingung der Gleichheit aller ein Vetorecht zu. Die Gesellschaft muss darum noch für die schlechtestgestellten Mitglieder jeder möglichen Alternative vorzuziehen sein. Rawls stellt sie sich als einen einzigen langfristigen Kooperationszusammenhang vor, der nach dem Grundsatz der Reziprozität fair geregelt ist. Die Menschen bringen ihre verschiedenen Vermögen in die Zusammenarbeit ein, und niemand wird dabei für Eigenschaften belohnt oder benachteiligt, für die er nichts kann. Die von Natur aus Begabteren sollen besondere materielle Vorteile nur genießen, soweit dies nötig ist, um das Los auch der weniger Begabten zu verbessern. Es ist vor allem dieser Gedanke der Gegenseitigkeit, und nicht die spieltheoretische Modellierung einer lebensentscheidenden Wahl unter Ungewissheit, der dem Differenzprinzip zugrunde liegt.

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08 Okt

Engels 2020 – Festjahr in Zeiten der Pandemie

Von Nikolai Plößer (Wuppertal)


Als im Februar des Wuppertaler Festjahres zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels die erste Ankerveranstaltung stattfand – der internationale Kongress Die Aktualität eines Klassikers –, war die Corona-Krise eben erst im Ausbruch. Aus Pandemieschutzgründen durften unsere Gäste aus Beijng, Guangzhou und Nanjing nicht anreisen, weitere Tagungen wurden auf 2021 verschoben. Engels‘ visionäre Diagnose einer Dialektik zwischen Natur und Gesellschaft entfaltete indes weiteres analytisches Potenzial.

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16 Mai

Aktualität und Wahrheit – oder: Von Marx zu Hegel. Eine spekulative Anamnesis , Teil II

von Gregor Schäfer (Basel)


Wir bringen diesen zweiteiligen Beitrag verspätet zum Marx Jubiläum, da er uns auf Grund eines technischen Gebrechens erst jetzt erreicht hat, obwohl er schon vor einem halben Jahr fertig gestellt wurde. Der erste Teil ist hier.


III.

Als «Verwirklichung der Philosophie» bleibt der Marxismus vom Hegelschen Idealismus – unhintergehbar – abhängig. Dies zum einen in begründungstheoretischer Hinsicht: Ein Marxismus, der sich als die neue, für sich selbst stehende Position eines «Materialismus» begründet, muss darin, nimmt er die Begründungsfrage überhaupt ernst, scheitern; er wird zum objektivistischen Dogmatismus, der hinter den Begründungsanspruch des Hegelschen Idealismus zurückfällt und sich dessen nicht bewusst ist, dass auch noch sein eigener Wahrheitsanspruch – unhintergehabr – vom objektiven Idealismus zehrt, den er überwunden zu haben wähnt. Dies zum andern aber auch in subjekt- und, dadurch vermittelt, revolutionstheoretischer Hinsicht: Es ist freilich kein Zufall, dass Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) – wie Agnes Heller einmal feststellt, das einzige philosophische Buch des Marxismus, das je geschrieben wurde – sich auf das Hegelsche (und Fichtesche) Erbe besinnt, um den Marxismus aus dem – als solchen a-politischen – szientistischen (ökonomistischen) Positivismus und historizistischen Schema zu befreien, zu denen ihn die II. Internationale nivellierte.[i]

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02 Mai

Aktualität und Wahrheit – oder: Von Marx zu Hegel. Eine spekulative Anamnesis , Teil I

von Gregor Schäfer (Basel)

Wir bringen diesen zweiteiligen Beitrag verspätet zum Marx Jubiläum, da er uns auf Grund eines technischen Gebrechens erst jetzt erreicht hat, obwohl er schon vor einem halben Jahr fertig gestellt wurde. Der zweite Teil erscheint in zwei Wochen.


I.

Die Frage nach der Aktualität des Marxismus fokussiert sich in der öffentlichen Diskussion, die das zufällig-historische Faktum des 200. Geburtstags von Karl Marx zu ihrem Anlass nimmt, in der einen oder anderen Weise zumeist darauf, ob er «uns» «heute» noch etwas zu sagen habe. Spezifischer: welche seiner Theorieteile, Subtheorien oder praktischen Forderungen und Programme noch aktuell seien. Je nach dem mögen die Antworten hierauf lauten, der Marxismus sei – wie ohnehin längst bekannt – überholt. Oder aber – in einer Einstellung kritischerer Offenheit – er liefere nach wie vor taugliche Instrumente, die es hinsichtlich ihrer deskriptiv-phänomenologischen Adäquatheit, ihrer analytisch-explanativen Fruchtbarkeit oder ihres kritischen Potentials im Blick auf Erscheinungen und Symptome der späten Moderne neu zu entdecken und zu würdigen gälte. Die Aktualität der Marxschen Kapital-Analyse vermag zumal angesichts der seit 2007 jäh ins allgemeine Bewusstsein eingebrochenen Entwicklung der Finanzmärkte, über engere orthodoxe Zirkel hinaus, in den Feuilletons der großen Zeitungen wieder auf breite öffentliche Resonanz zu stoßen.[i]

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