16 Apr

Legitime Sicherheitsinteressen Russlands? Eine Kritik an Klaus Dörre.

Von Konrad Ott (Kiel)


I

Klaus Dörre hat 2021 ein Buch zur „Utopie des Sozialismus“ publiziert. Dörres Konzeption von Sozialismus steht im Folgenden nicht zur Debatte. Zur Debatte stellen möchte ich aus aktuellem Anlass eine Passage, die sich im Kapitel „Übergänge: Nachhaltiger Sozialismus jetzt!“ auf S. 242 des Buches findet. Ich zitiere in voller Länge:

„Man muss nicht zu den Beschönigern expansiver Bestrebungen des autoritären Putin-Regimes gehören, um anzuerkennen, dass Russland nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges ein legitimes Interesse daran hat, seine Außengrenzen nicht mit konkurrierenden Militärbündnissen wie der NATO teilen zu müssen. Europa ist eben größer als die Europäische Union. Nachhaltige Entspannungspolitik schließt die Anerkennung basaler Sicherheitsinteressen der Russischen Föderation zwingend ein.“

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05 Mrz

Frau Baerbocks Auftritt vor der UN-Vollversammlung: Eine ikonographische Analyse

Von Veronika Surau-Ott (Greifswald) und Konrad Ott (Kiel)


Nicht erst im Zeitalter digitaler Technologien wird Kriegspolitik medial inszeniert. Solche medialen Inszenierungen können beabsichtigt und geplant sein. Sie dienen dann der Desinformation, der Verunsicherung und der Entmutigung. Dies ist ordinäre Propaganda („phony war“). Sie können sich aber auch spontan und ungeplant ereignen. Dann greifen sie, ohne dass dies von den Akteuren beabsichtigt sein mag, zurück auf die uns allen eingeprägte Symbolsprache, die moralischen Codierungen unserer Kultur, die in der symbolisch strukturierten Lebenswelt „menschheitlich“ verwurzelt sind. Tiefe kulturelle Deutungsmuster, Archetypen und lebensweltliche Überzeugungen, die in gewisser Weise für uns unhintergehbar sind, verschränken sich und treten spontan und unverhofft in Kontexten auf, in denen sie normalerweise nicht vorgesehen sind. Solche sprachlich vermittelten Szenen sind darum so wirkmächtig, weil sie nicht vollauf bewusst inszeniert werden, sondern in ihrer Performanz an archetypischen Bildern und Narrativen partizipieren.

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31 Jan

Darf man Fleisch essen, wenn Tiere Rechte haben? Eine Antwort auf Konrad Ott

Von Marina Moreno und Adriano Mannino (München)


Konrad Ott schließt seinen spannenden Beitrag “Warum ich kein Vegetarier bin” mit der folgenden Bemerkung und Frage:

“Ich erwarte nicht, dass Tierrechtler*innen meiner Lebensart, Nicht-Vegetarier zu sein, zustimmen werden. Aber das brauchen sie auch nicht. Ich möchte niemandem den Vegetarismus streitig machen, wenn sie/er von bestimmten Begründungsfiguren (Tierrechte) überzeugt ist und die „clear and uncomprimising implications“ (Regan 1989, S. 13) attraktiv findet. Die Frage bleibt, ob meine Position von Tierrechtler*innen als moralisch vertretbar geachtet oder nur notgedrungen toleriert werden kann.”

Wir verstehen uns als Tierrechtler*innen und hegen Sympathien für den Antispeziesismus bzw. den Unitarismus, also die Ansicht, dass alle empfindungsfähigen Wesen den gleichen fundamentalen moralischen Status haben (vgl. Mannino & Moreno 2022, im Erscheinen). Die Tierrechtsposition erfordert allerdings keinen strikten Unitarismus, insoweit man gewisse Abstufungen zwischen Menschen- und Tierrechten zulässt.

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11 Jan

Warum ich kein Vegetarier bin

Von Konrad Ott (Kiel)


In den vergangenen Jahrzehnten wurden tierethische Forderungen gesteigert. Was zunächst im utilitaristischen Paradigma (Singer 1990) mit der berechtigten Forderung nach mehr Tierwohl und weitaus weniger Tierleid begann, wurde zur Forderung nach Tierrechten (Regan 1989), nach politischen Tierrechten (Donaldson & Kymlicka 2013) und zuletzt zur Forderung, auch das Leid von Wildtieren zu reduzieren (Nussbaum 2010, Horta 2017). Die Tierrechtsbewegung postuliert ein Recht auf Leben für alle „subjects of a life“ (Regan), was ein prima-facie-Tötungsverbot impliziert. Demnach bestünde eine moralische Pflicht, weder als Produzent*in noch als Konsument*in an der Produktion fleischlicher Nahrung zu partizipieren, die nicht „in vitro“ erfolgt, sondern auf der Schlachtung von Tieren beruht. Diese Forderung präsumiert, vom moralischen Sandpunkt aus überzeugend zu sein, und sie unterstellt, dass moralische Gründe alle anderen Arten von Gründen übertrumpfen (sog. „overridingness“). Die „overridingness“ moralischer Gründe wird häufig so verstanden, dass durch sie sämtliche außer-moralischen Gründe (tendenziell) belanglos, d.h. irrelevant werden. Sofern ein Thema überhaupt vom moralischen Standpunkt aus betrachtet werden kann, entwertet dessen Einnahme alle übrigen Gesichtspunkte, die dann nach dem Schema von Pflicht und Neigung behandelt und den bloßen Neigungen oder Konventionen zugeordnet werden können. Bei Kant sind Neigungen allerdings letztlich heteronom; heutige Ethiken des guten Lebens schließen nicht aus, dass Wertschätzungen authentisch sein können.

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01 Nov

Aufklärung, Wissenschaft und „post-truth politics“: Viele Fragezeichen und einige Ausrufezeichen

von Konrad Ott (Kiel)


Als vor Jahresfrist in Russland mehrere Hundert Demonstranten festgenommen wurden, kommentierte der Präsident der Duma, W. Wolodin, dieses Ereignis mit folgenden Worten: „Auf den Straßen Europas löst die Polizei täglich Demonstrationen noch härter auf als dies die russische Polizei tue“ (so die FAZ vom 28. März 2017, S. 1). Meine erste Reaktion war: „Das stimmt nicht, das ist nicht wahr“. Meine zweite Reaktion war: „Naja, ein weiteres Beispiel von ‚post-truth politics‘“. Meine dritte Reaktion: „Oh, ich fange an, mich daran allmählich zu gewöhnen!“. Seither ist es eher noch schlimmer geworden; die Präsidentschaft Trumps ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.

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