27 Feb

Ziviler Ungehorsam – wo ist Dein Standort? Ein Kurztrip zwischen Mottenkiste, Moral und Verfassungsrecht

Von Eckardt Buchholz-Schuster (Coburg)


In regelmäßigen Intervallen wird ziviler Ungehorsam in Demokratien gesellschaftlich, politisch und rechtlich aktuell, so auch seit einiger Zeit wieder in Deutschland. Und jedes Mal hat es fast den Anschein, als ob diese rechtsphilosophisch seit langem differenziert und aus verschiedenen Perspektiven ausgeleuchtete Kategorie nicht nur auf praktischer, sondern auch auf theoretischer Ebene neu erfunden oder doch zumindest neu legitimiert werden müsste. Dabei könnte ein wenig Rückbesinnung auf klassische, rechtsphilosophisch fundierte Beschreibungen zivilen Ungehorsams viel zur Versachlichung mitunter aufgeregter Diskurse der Gegenwart beitragen. 

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12 Jul

Der Supreme Court und das liberale Loblied auf die höchste Instanz

Von Johannes Müller-Salo (Hannover)


In ihrer Sorge um den effektiven Schutz individueller Grundrechte verteidigen viele Liberale die Idee eines mit umfassenden Kompetenzen ausgestatteten Verfassungsgerichtshofs. Nicht selten werden höchste Gerichte zu Wächtern der Verfassung stilisiert. Die jüngsten Urteile des Supreme Courts zum Schwangerschaftsabbruch, zum Tragen von Waffen in der Öffentlichkeit wie zu den Klimaschutzbefugnissen der US-Umweltbehörde geben allen Grund dazu, dieses wichtige Element liberaler Theoriebildung auf den Prüfstand zu stellen.

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28 Dez

Absoluter Vorrang der Grundrechte? – Das Leitbild der „lexikalischen Ordnung“ der Gerechtigkeitsgrundsätze bei John Rawls

Von Björn Engelmann (Erlangen-Nürnberg)


Der vorliegende Beitrag behandelt Rawls` Leitbild der „lexikalischen Ordnung“ im Hinblick auf die beiden von ihm entwickelten Gerechtigkeitsprinzipien, nämlich (1) das System gleicher Grundfreiheiten und Chancengleichheit sowie (2) das Differenzprinzip. Hierbei werde ich zunächst eine möglichst präzise Definition des besagten Begriffs der „lexikalischen Ordnung“ voranstellen und sodann auf Anwendungsbeispiele und -probleme einer derartigen Grundfreiheits- bzw. Grundrechtskonzeption zu sprechen kommen.

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09 Dez

Ein hegelianischer Rawls

Von Hannes Kuch (Frankfurt a.M.)


Rawls wird meist als Kantianer verstanden, doch steht er auch Hegel nahe, viel näher als gemeinhin angenommen wird. Diese Nähe betrifft nicht nur die Interpretation von Rawls, sie hat deutliche Konsequenzen für die Frage nach Alternativen zum Kapitalismus, die Rawls selbst stellt: Anstelle einer Eigentümerdemokratie befürwortet der hegelianische Rawls viel stärker einen liberalen Sozialismus.

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23 Mai

Das Recht der Völker: Eine Blaupause für die Staatenanerkennung?

Von Adis Selimi (Düsseldorf)


Von allen Werken, die John Rawls zu Fragen der Gerechtigkeit vorgelegt hat, hat wohl kaum eines so viele Kontroversen hervorgerufen wie das 1999 erschienene The Law of Peoples (dt. Das Recht der Völker). In seiner Schrift verteidigt Rawls eine internationale Gerechtigkeitstheorie, die deutlich von anderen liberalen Positionen zu Fragen der internationalen Politik abweicht. Das zentrale Charakteristikum des von ihm konzipierten Rechts der Völker ist der Verzicht auf weitgehende Forderungen der internationalen Verteilungsgerechtigkeit. Stattdessen plädiert Rawls – in Anlehnung an bestehendes Völkerrecht – für einen Schutz basaler Menschenrechte und Toleranz gegenüber decent peoples (dt. achtsame Völker), die selbst nicht liberal verfasst sind, aber die basalen Menschenrechte der auf ihrem Gebiet lebenden Individuen schützen. Liberale und achtsame Völker bilden nach Rawls die internationale Gemeinschaft.

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16 Mai

Rawls Realistische Utopie – oder: wann etwas, das in der Theorie richtig ist, auch zur Praxis taugt

Von Carola Freiin von Villiez (Bergen, Norwegen)


John Rawls gilt als einer der einflussreichsten Politischen Philosophen des späten 20. Jahrhunderts. Mit Blick auf den US-Amerikanischen Sprachraum ist dies auch nicht weiter verwunderlich, wird er doch damit kreditiert, mit seinem Werk A Theory of Justice 1971 die Praktische Philosophie aus ihrem Dornröschenschlaf wachgeküsst zu haben, in den sie durch den dort wirkmächtigen Utilitarismus versetzt wurde. Seine Theoriekonzeption der „Gerechtigkeit als Fairness“ für die institutionelle Grundstruktur einer Gesellschaft entwickelt er denn auch explizit als Gegenentwurf zum Utilitarismus. Dessen Annahme, dass sich die normative – moral- oder gerechtigkeitsbezügliche – Qualität einer Handlung oder Verfahrensweise an ihrer Tendenz zur Generierung des größten Gesamt- oder alternativ Durchschnittsnutzens bemisst, läuft auf eine problematische inhaltliche Vorbestimmung von Gerechtigkeit hinaus. Dem setzt er eine prozedurale – und daher potentiell anschlussfähigere – Bestimmung von Gerechtigkeit entgegen. Seine diesbezügliche methodologische Grundannahme lautet (sehr verkürzt), dass die fairen Rahmenbedingungen eines korrekt ausgeführten Entscheidungsverfahrens notwendig auch ein faires Ergebnis zeitigen. Die behauptete Inhaltsneutralität seines Verfahrens ist schon früh angezweifelt worden, da seine Konzeption angeblich einem „metaphysischen Liberalismus“ aufruhe. Ungeachtet aller Kritik kam sein Entwurf dennoch als ein Paukenschlag, der sich aufgrund seiner grundsoliden Stringenz im Anglo-Amerikanischen Wissenschaftskontext nicht ignorieren ließ. Eine entscheidende Rolle spielte dabei zweifellos auch der Umstand, dass das von Rawls projizierte faire Ergebnis (s)eines fairen Bestimmungsverfahrens eindeutig sozialstaatsaffine Veränderungen für eine allenfalls in Keimen sozialstaatliche US-Amerikanische Gesellschaft einforderte. Pro oder Contra – jeder politikphilosophische Entwurf musste sich fortan an Rawls Thesen abarbeiten.

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09 Mai

Rawls und die Kritik am Distributionsparadigma

Von Bernd Ladwig (Berlin)


Für Rawls ist Gerechtigkeit die erste Tugend sozialer Institutionen. Die Grundfrage einer Theorie der Gerechtigkeit laute, wie die gesellschaftliche Grundordnung die Rechte und Pflichten sowie die Früchte der Zusammenarbeit unter den Angehörigen eines Gemeinwesens verteilen sollte. Die gerechte Verteilung beschränkt sich dabei nicht auf ein System gleicher persönlicher und politischer Grundfreiheiten. Sie schließt auch den Zugang zu Ämtern und Positionen sowie sozioökonomische Güter ein. Vor allem aber soll sie das wichtigste Grundgut der Gerechtigkeit, die sozialen Grundlagen der Selbstachtung, gewährleisten. Jeder soll sich selbst für wert befinden, in der Gesellschaft, der er ein Leben lang angehört, seine Fähigkeiten zu entfalten und den eigenen Überzeugungen zu folgen.

Weil der Utilitarismus dies nicht garantieren könne, verwirft ihn Rawls als Rahmen seiner Theorie. Diese ist ihrer Grundanlage nach distributiv: Jeder einzelne muss die soziale Grundordnung aus seiner eigenen Perspektive gutheißen können; jedem kommt unter der Bedingung der Gleichheit aller ein Vetorecht zu. Die Gesellschaft muss darum noch für die schlechtestgestellten Mitglieder jeder möglichen Alternative vorzuziehen sein. Rawls stellt sie sich als einen einzigen langfristigen Kooperationszusammenhang vor, der nach dem Grundsatz der Reziprozität fair geregelt ist. Die Menschen bringen ihre verschiedenen Vermögen in die Zusammenarbeit ein, und niemand wird dabei für Eigenschaften belohnt oder benachteiligt, für die er nichts kann. Die von Natur aus Begabteren sollen besondere materielle Vorteile nur genießen, soweit dies nötig ist, um das Los auch der weniger Begabten zu verbessern. Es ist vor allem dieser Gedanke der Gegenseitigkeit, und nicht die spieltheoretische Modellierung einer lebensentscheidenden Wahl unter Ungewissheit, der dem Differenzprinzip zugrunde liegt.

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02 Mai

Zwischen Interpretation und Adaption: Rawls im Dialog mit Kant

Von Jakob Huber (Frankfurt)


John Rawls habe die normative politische Philosophie im und für das 20. Jahrhundert wiederbelebt, so eine weiterverbreitetes (wenngleich zunehmend kritisiertes) Narrativ. Während sich sein Rang in der Ahnengalerie der Gerechtigkeitstheorie 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung seines Hauptwerkes weiter festigt, werden Rawls‘ eigene Arbeiten zur Geschichte der Philosophie weiterhin kaum beachtet. Wie ich in diesem Beitrag zeigen möchte, stehen diese Rawls‘ eigenem Theoriekonstrukt sicherlich in ihrer Originalität, weniger jedoch in ihrer Wirkmächtigkeit nach. Insbesondere Rawls‘ Kantinterpretation hat sich – zum Guten oder zum Schlechten – gerade im angloamerikanischen Kontext als einflussreich entpuppt. Begünstigt durch Rawls‘ häufig undurchsichtige Kombination aus Interpretation, Adaption und Modifikation sowie vermittelt durch eine Reihe Kant-affiner Schüler:innen lässt sich ein Bild eines wechselseitiges Verhältnis Rawlsscher und Kant’scher Ideen zeichnen.

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25 Apr

Rawls und die Religion. Zum Verhältnis zwischen Glauben und öffentlicher Rechtfertigung

Von Michael Roseneck (Frankfurt und Mainz)


Die Sozialforschung ist weitestgehend von der Prognose Max Webers abgerückt, dass Modernisierung und die Trennung von Kirche und Staat zugleich auch einen Bedeutungsverlust der Religion bedingen. Vielmehr beziehen religiöse Akteure in der demokratischen Öffentlichkeit oder in Institutionen wie beratenden Ethikkommissionen prominent Stellung, zum Beispiel zu moralisch bedeutsamen Fragen wie denen von Abtreibung, Asylpolitik oder Medizinethik, und üben damit potentiell Einfluss auf den Willensbildungsprozess aus.[i]

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18 Apr

Das Recht der Völker

Von Christine Straehle (Hamburg)


Zu Ende der 90er Jahre hatte John Rawls seine Überlegungen zur globalen Gerechtigkeitsdiskussion unter dem Titel Law of Peoples veröffentlicht (dt. Das Recht der Völker). Es sollte als seine Antwort auf all diejenigen gelten, die seine Theorie der Gerechtigkeit auf die internationale Sphäre anwenden wollten. Solchen Versuchen erteilte Rawls eine deutliche Absage. Stattdessen unterstrich er in diesem Band eindeutig wieder die Kantianischen Wurzeln seiner politischen Philosophie, indem Rawls die Rolle des Staates als Garanten des Rechts und der individuellen Freiheit hervorhob. Allerdings stach hervor, dass er eben nicht Staaten als Einheit des internationalen Rechts betrachtete, sondern Völker. Inwieweit diese Abgrenzung allerdings erfolgreich war, ist immer noch umstritten.

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