06 Feb

Warum (schon lange) tote Philosophen lesen?

Von Achim Vesper (Frankfurt am Main)

Philosophie hat es mit Problemen zu tun, die wir mit unseren Zeitgenossen teilen. Was sollte dagegen sprechen, die Probleme in einer Sprache zu beschreiben und nach Standards zu untersuchen, mit denen auch unseren Zeitgenossen bekannt sind? Philosophiehistoriker mögen dagegen einwenden, dass die Grenzen der Zeitgenossenschaft in der Philosophie besonders weit gezogen sind, da die meisten Probleme, mit denen sich Philosophen beschäftigen, keine neuen, sondern alte Probleme sind – es sind die gleichen Probleme, mit denen sich Philosophen auch in der Vergangenheit beschäftigt haben.

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09 Jan

Vom Nutzen und Nachteil von Nietzsches Historienkritik

Von Katrin Meyer (Basel/Zürich)


Das intellektuelle Interesse an Friedrich Nietzsche hat seine eigenen Konjunkturen und folgt eigenen, oft vergänglichen, Aufmerksamkeitsökonomien, die durch theoretische und gesellschaftspolitische Strömungen mitbeeinflusst sind. Nach wie vor lohnend erscheint mir aus heutiger Sicht, sich mit dem Geschichtsverständnis und der Geschichtskritik Nietzsches auseinanderzusetzen, auch wenn das Thema auf den ersten Blick viel von seiner Brisanz und Aktualität verloren hat. So sind zentrale Thesen, die Nietzsche in den 1870er und 1880er Jahren formuliert hat, mittlerweile für das Selbstverständnis der westlichen Gesellschaften Programm und haben ihr aufrührerisches Potential verloren. Dazu gehört insbesondere Nietzsches Diagnose, die Modernität von Gesellschaften und Individuen zeige sich an ihrem nihilistischen Grundzug. Der Nihilismus der Moderne bedeutet demgemäß, dass tradierte Werte und Wahrheiten ihre Geltung verlieren, ja dass die Idee einer überhistorischen Wahrheit überhaupt fraglich wird und es demnach zur Aufgabe der Gegenwart gehört, sich verbindliche Werte und Wahrheiten selbst zu schaffen. Die existenziellen Konsequenzen, die Nietzsche aus dieser historischen Ausgangslage ableitet, sind für das Lebensgefühl und die Alltagspraxis vieler Menschen im 21. Jahrhundert heute selbstverständlich geworden: Individualität, Kreativität und Originalität gelten als primäre Sinnstiftung des persönlichen Lebens und eine kritisch-distanzierte Haltung zu allen tradierten Wahrheiten und Werten erscheint als Bedingung und Voraussetzung der eigenen Gestaltungsmacht. Nietzsches Verknüpfung von Nihilismus und Freiheit ist damit in das Narrativ der (europäischen) Moderne eingegangen.

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