07 Mrz

Nicht werten? Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges

von Johannes Drerup (Dortmund)


In der Moscow Times[1] wurde im September letzten Jahres von einer eigentümlichen Begebenheit berichtet: Putin höchst selbst wollte die Schülerschaft in einer Schule in Vladivostok über ein militärgeschichtliches Ereignis aus dem 18 Jhdt. belehren und wurde von einem Schüler mit Bezug auf die Datierung korrigiert. Daraufhin entbrannte prompt eine Debatte darüber, ob der Schüler nicht angesichts einer solchen Dreistigkeit entlassen werden müsste. Putin aber habe sich – so die Legende bzw. die Inszenierung – daraufhin recht gönnerhaft gezeigt und gegen eine Entlassung ausgesprochen, da man doch froh sein könne, wenn sich junge Menschen gut mit der Geschichte des Vaterlandes auskennen. Angesichts dessen, dass Geschichtsunterricht und auch Geschichtswissenschaft ideologisch in Russland schon länger auf Linie gebracht werden, könnte man diese Episode auch als positives Exempel für die Grenzen der Indoktrination im Fachunterricht werten, auf die der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth hingewiesen hat (Tenorth 1992; 2008). Kinder und Jugendliche lernen eben auch in autoritären Systemen in der Schule nicht nur das, was sie lernen sollen. Die Erfahrungswelt der Schüler_innen ist nicht vollständig pädagogisch determinierbar und auch in einem Geschichtsunterricht, der auf eine triumphalistische Version von Nationalgeschichte verpflichtet wurde, kann man nicht ohne weiteres alle fachspezifischen Rationalitäts- und Methodenstandards über Bord werfen. Dies gilt zumindest dann, wenn man die pädagogische Erwartung hegt, dass hier überhaupt noch irgendetwas halbwegs Sinnvolles gelernt werden soll und `Geschichte´ nicht vollständig zu einer Art nationalistischem Fantasy-Roman regredieren soll. Anfügen kann man gleichwohl, dass die Schüler_innen angesichts der Reaktionen auf die Korrektur dann auch gleich mitlernen konnten, was es bedeutet, in einem autoritären Regime Kritik zu üben. Man bleibt auf Gedeih und Verderb von der Gnade des volkspädagogisch ambitionierten Autokraten abhängig, will man nicht entlassen oder gleich ins Gefängnis geschickt werden.

Weiterlesen
06 Jul

Bildung und Erziehung im Ausnahmezustand. Was kann philosophische Reflexion im Rahmen der COVID-19-Pandemie leisten?

Von Johannes Drerup (TU Dortmund/VU Amsterdam) und Gottfried Schweiger (Salzburg)


Die COVID-19-Pandemie hat unseren Alltag innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf gestellt. Das soziale und wirtschaftliche Leben wurde für einige Wochen auf ein Minimum reduziert, Schulen, Kinderbetreuungseinrichtungen und Hochschulen wurden geschlossen. Die Familie ist dadurch (wieder) zum zentralen Lern- und Lehrort geworden, zum räumlichen Mittelpunkt des beruflichen und sozialen Lebens vieler Menschen. Das stellt Familien und die Bildungseinrichtungen vor besondere Herausforderungen. Eltern mussten Homeschooling, Kinderbetreuung und Home Office unter einen Hut bringen.[i] Von der Hilfe durch Großeltern und andere Verwandte, die nicht im selben Haushalt wohnen, wurde mit guten Gründen abgeraten. Die größte Last dieser Umstellungen hatten Frauen, insbesondere Mütter, zu tragen. Lehrer*innen standen unter dem Druck, oft ohne medientechnologische Ausbildung und ohne Vorlaufzeit Lernmaterialen neu zu planen und zur Verfügung zu stellen. Die technischen Mittel dafür sind aber nicht in allen Schulen und auch nicht in allen Familien ausreichend vorhanden. Es ist daher zu erwarten, dass ohnehin schon bestehende Bildungsungleichheiten sich als eine Folge der COVID-19 Pandemie vergrößern und verfestigen. Die Situation in manchen Familien war und ist prekär. Eltern wurden arbeitslos oder in Kurzarbeit geschickt und kämpfen nun mit Zukunftsängsten. Gewalt gegen Frauen und Kinder, so eine gängige und plausible Annahme, nimmt in Familien zu und das in einer Zeit, wo der Kontakt zu Vertrauenspersonen, Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen reduziert oder gänzlich eingestellt wurde.

Weiterlesen
19 Sep

Erziehung zum Wutbürger?

von Douglas Yacek & Yannik Hehemann (Hannover)


Ein wütend beleidigender Twitter-Präsident, ein zorniger Mob, der die Rede eines rechten Provokateurs mit Molotowcocktails zu verhindern sucht, Alternativrealitäten in sozialen Medien, Fackelzüge in deutschen Städten, Pussy Riot, tief entlang Parteilinien gespaltene Medienlandschaften in den USA, ein bis zur Dysfunktionalität zerstrittenes Unterhaus in Großbritannien und aggressive rechte Sammlungsbewegungen im Herzen Europas.

Weiterlesen
12 Jun

Respekt und Kontroversität: Eine liberal perfektionistische Replik auf Johannes Giesinger

von Johannes Drerup (Freie Universität Amsterdam & Koblenz-Landau)


Dissens ist konstitutiv für liberale Demokratie und Dissensfähigkeit und Dissenstoleranz sind zentrale demokratische Tugenden. Die Frage nach den legitimen Grenzen von Dissens und Toleranz steht auch im Zentrum der Debatte über die angemessene Bestimmung von Kriterien für das, was im schulischen Unterricht legitimer Weise als kontrovers (oder nicht kontrovers) zu diskutieren ist.

Weiterlesen