28 Mrz

Die westliche Demokratie und ihre Verächter

von Barbara Zehnpfennig (Universität Passau)

Dachte man in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts noch, der weltweite Siegeszug der Demokratie sei unaufhaltsam, so hat sich das Bild seitdem dramatisch verändert: Nun scheint die Tendenz zum autoritären Regime, zur Autokratie, ja selbst zum totalitären Staat irreversibel. Sogar Staaten wie Ungarn, Polen oder Israel, die bisher ganz zweifellos den demokratischen Staaten zugerechnet wurden, weisen Entwicklungen auf, die zumindest die Verbindung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fraglich werden lassen.

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07 Mrz

Demokratie ist der artikulierte Anspruch auf Volksherrschaft

von Dagmar Comtesse (Münster)

Wann immer sich Menschen in Kollektiven sammeln, stellt sich die Ordnungsfrage: Wer entscheidet was? Und wie kann man möglichst viele Kollektivmitglieder dazu bringen, zumindest jene Regeln zu akzeptieren, durch welche Entscheidungen zustande kommen? Demokratie ist die Bezeichnung dafür, dass alle gezählten Mitglieder eines Kollektivs kausal an der Festlegung und Aufhebung von Regeln und Entscheidungen mitwirken können. Damit ist die Geschichte der Demokratie auch immer die Geschichte der Nicht-Demokratie, jene der nicht gezählten Kollektivmitglieder.

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16 Feb

Größe und Demokratie

von Dirk Jörke (Universität Darmstadt)


Anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahre Élysée-Vertrag forderten Emmanuel Macron und Olaf Scholz, dass „Europa noch souveräner wird“ und dachten dabei, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der vielbeschworenen „Zeitenwende“, insbesondere an eine militärische und geopolitische Unabhängigkeit. Flankiert werden solche Bestrebungen durch Intellektuelle und Politikwissenschaftler, die sich darüber durch die Erweiterung der Rechte des Europaparlaments und die Etablierung transnationaler Wahllisten eine Überwindung des vielbeschworenen demokratischen Defizits der Europäischen Union erhoffen. Doch das ist eine trügerische Hoffnung, die im Effekt dazu führt, eine antidemokratische Praxis mit einem demokratietheoretischen Zuckerguss zu verdecken. 

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24 Jan

Demokratie und Expertise

von Lisa Herzog (Universität Groningen)


„People have had enough of experts!” Dieser Spruch aus dem Brexit-Wahlkampf wird häufig zitiert, wenn es darum geht, dass Bürger*innen dem Einfluss von Expert*innen auf die Politik misstrauen. Aber ist die Spannung zwischen Gleichheit demokratischer und ungleicher Expert*innenautorität wirklich unüberwindbar? In diesem Blogpost argumentiere ich, dass diese Spannung durchaus konstruktiv gemanagt werden kann, aber dass dabei die Überwindung zweier Formen von illegitimem Einfluss auf den Nexus von Expertise und Politik zentral ist: epistemischer Ungerechtigkeit, wie Miranda Fricker sie konzipiert hat, und ökonomischer Verzerrungen der Wissenslandschaft, auf die sich Politik stützt.[1]

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15 Dez

Menschenrechte fürs Metaverse

Dorothea Winter (Humanistische Hochschule Berlin)


KI verändert die Gesellschaft. Doch welchen Einfluss hat sie auf unsere Demokratie? Zur Beantwortung müssen die Sphären Wirtschaft und Politik zusammengebracht werden. Zwischen ihnen wirkt der Mensch als zoon politikon und homo oeconomicus: Er ist politisches und Wirtschaftssubjekt. Doch ist das Zusammenwirken dieser Bereiche nicht längst hinreichend ausgeleuchtet? Sicherlich, zumindest in der analogen Welt. Doch wie verhält es sich in der digitalen Welt?

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30 Jun

Zur double bind-Paradoxie der repräsentativen Demokratie

Von Martin Welsch (Heidelberg)


In der Publizistik ist es ein Gemeinplatz, dass sich die repräsentative Demokratie in einer Krise befindet, Politikverdrossenheit und Massenproteste werden als Zeichen dafür gewertet. Die politik- und sozialwissenschaftliche Theorie dieser Krisendiagnose ist die der „Postdemokratie“: Das Repräsentativsystem habe früher seinen demokratischen Zweck erfüllt, doch diese Zeit sei vergangen. Derzeit gleiche sich das System wieder dem vordemokratischen Zustand an, sodass die Demokratie zur leeren Hülse werde. Für Vertreter der Postdemokratiethese liegt dies jedoch nicht am Repräsentativsystem selbst; seine Degeneration sei äußerlich bedingt, nach Ansicht von Colin Crouch durch Wirtschaftsmacht.

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07 Mrz

Nicht werten? Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges

von Johannes Drerup (Dortmund)


In der Moscow Times[1] wurde im September letzten Jahres von einer eigentümlichen Begebenheit berichtet: Putin höchst selbst wollte die Schülerschaft in einer Schule in Vladivostok über ein militärgeschichtliches Ereignis aus dem 18 Jhdt. belehren und wurde von einem Schüler mit Bezug auf die Datierung korrigiert. Daraufhin entbrannte prompt eine Debatte darüber, ob der Schüler nicht angesichts einer solchen Dreistigkeit entlassen werden müsste. Putin aber habe sich – so die Legende bzw. die Inszenierung – daraufhin recht gönnerhaft gezeigt und gegen eine Entlassung ausgesprochen, da man doch froh sein könne, wenn sich junge Menschen gut mit der Geschichte des Vaterlandes auskennen. Angesichts dessen, dass Geschichtsunterricht und auch Geschichtswissenschaft ideologisch in Russland schon länger auf Linie gebracht werden, könnte man diese Episode auch als positives Exempel für die Grenzen der Indoktrination im Fachunterricht werten, auf die der Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth hingewiesen hat (Tenorth 1992; 2008). Kinder und Jugendliche lernen eben auch in autoritären Systemen in der Schule nicht nur das, was sie lernen sollen. Die Erfahrungswelt der Schüler_innen ist nicht vollständig pädagogisch determinierbar und auch in einem Geschichtsunterricht, der auf eine triumphalistische Version von Nationalgeschichte verpflichtet wurde, kann man nicht ohne weiteres alle fachspezifischen Rationalitäts- und Methodenstandards über Bord werfen. Dies gilt zumindest dann, wenn man die pädagogische Erwartung hegt, dass hier überhaupt noch irgendetwas halbwegs Sinnvolles gelernt werden soll und `Geschichte´ nicht vollständig zu einer Art nationalistischem Fantasy-Roman regredieren soll. Anfügen kann man gleichwohl, dass die Schüler_innen angesichts der Reaktionen auf die Korrektur dann auch gleich mitlernen konnten, was es bedeutet, in einem autoritären Regime Kritik zu üben. Man bleibt auf Gedeih und Verderb von der Gnade des volkspädagogisch ambitionierten Autokraten abhängig, will man nicht entlassen oder gleich ins Gefängnis geschickt werden.

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16 Jun

Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie oder Wozu ist das Gut der Wissenschaftsfreiheit gut?

Von Elif Özmen (Gießen)


Es ist kein Zufall, dass die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre unter ein und denselben Art. 5 GG fallen mit der Freiheit der Meinung, Information, Presse und Kunst. Der Verbund dieser Kommunikationsgrundrechte dient dem Schutz einer kritischen Öffentlichkeit, die als unverzichtbar gilt für den Bestand und das Prosperieren der Demokratie. Zwar ist Wissenschaftsfreiheit kein universelles Menschen- oder Bürgerrecht. Aber ihre förderlichen Wirkungen entfaltet sie nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Institutionen und Tätigkeitsfelder, sondern auch im Verhältnis zur Gesamtgesellschaft.

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06 Aug

Bloße Toleranz? Anmerkungen zur pädagogischen Ablehnung der Ablehnungskomponente

Von Johannes Drerup (Dortmund & Amsterdam)


Der Begriff der Toleranz führt – ganz ähnlich wie der Begriff der Bildung – in öffentlichen Debatten einer Art „Doppelleben“[1]. Einerseits gilt Toleranz als ein mögliches Allheilmittel für alle nur denkbaren gesellschaftlichen Probleme, andererseits ist die spezifische Relevanz und Bedeutung von Toleranz sowohl mit Bezug auf Grundsatzfragen der theoretischen Konzeptualisierung und normativen Begründung als auch mit Bezug auf Anwendung auf konkrete Konflikte hoch umstritten. Auch in erziehungs- und bildungsphilosophischen und erziehungswissenschaftlichen Debatten finden sich zwar immer wieder kursorische Hinweise darauf, wie wichtig Toleranz im Kontext von pluralistischen Gesellschaften ist, sowie auch eine Reihe von mehr oder weniger normativ ausgerichteten Kritiken von unterschiedlichen Formen der Intoleranz. Gleichwohl findet man kaum eine systematische Auseinandersetzung mit Toleranz als pädagogischer und politischer Leitvorgabe bzw. mit der Frage, was eigentlich unter Intoleranz zu verstehen ist[2]. Was sich dagegen findet, insbesondere im Kontext engagierter Pädagogiken, sind Negativverdikte gegen `bloße Toleranz´ oder `herablassende Toleranz´, die einer zeitgemäßen Konzeption inter- oder transkultureller Bildung und Erziehung, so die Annahme, nicht mehr entsprechen. Toleranz, so scheint es und hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zum Umgang mit dem Erziehungsbegriff, gilt als anachronistische Form der Stabilisierung obsoleter Macht- und Herrschaftsformen. Diese Parallelen im Umgang mit beiden Leitkonzepten dürften auch darauf zurückzuführen sein, dass sowohl Toleranz als auch Erziehung immer mit Grenzen und Selektionsvorgaben operieren, die auch normativ zu begründen sind. `Toleranz´, die alles toleriert, löst sich gewissermaßen begrifflich und praktisch auf, `Erziehung´ die keine Grenzen akzeptablen Verhaltens kennt, ist überflüssig. Sowohl Toleranz als auch Erziehung operieren folglich mit Werturteilen, sie beruhen auf Selektionen und damit zugleich auf Formen der Ablehnung, weshalb beide in manchen pädagogischen Milieus häufig als fragwürdige Begriffe, ja geradezu als `dirty terms´ gelten. Man möchte stattdessen lieber `Vielfalt´ feiern und wertschätzen und Kinder freundschaftlich begleiten, statt sie zu erziehen.

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17 Mrz

Die Klimakrise – ein Plädoyer für ethische Analysen und demokratische Reformen

von Joachim Wündisch (Düsseldorf)


Die Prognosen über die Entwicklung des globalen Klimas werden zunehmend dramatischer: verheerende Unwetter, weiträumige Überschwemmungen, sich ausbreitende Krankheitserreger, Ernteausfälle und Wasserknappheit. Zwar ist die Mehrheit der Menschen davon überzeugt, dass etwas getan werden muss, aber es wird nichts getan, jedenfalls nicht genug. Ich behaupte, erstens, wir brauchen auch ethische Überlegungen, um die Klimakrise zu bewältigen, und zweitens, nur demokratische Systeme werden sie bewältigen können.

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