20 Okt

Hegel für uns

Von Christine Weckwerth (Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften)


Hegels zweihundertfünfzigster Geburtstag ist ein, wenngleich rein biographischer Anlass zu fragen, wie wir es mit diesem Klassiker der deutschen Philosophie denn halten. Beginnt mit seiner Philosophie die kritische Selbstvergewisserung der Moderne oder ist sie als ein gescheitertes Theorieprogramm anzusehen? Ein Streitpunkt zwischen Hegelfreunden und Hegelgegnern bis in die Gegenwart. Bezeichnend ist, dass der Jubilar vor einer Problemlage steht, die der unsrigen ähnelt. Am Beginn seines philosophischen Werdeganges sieht er sich einer umfassenden kulturellen Krise gegenüber, die er auch als einen Dualismus zwischen subjektiver und objektiver Welt umschreibt. Zu dieser Einsicht hatten die Desillusionierungen nach der Französischen Revolution wie die sich durchsetzende kapitalistische Organisation der Wirtschaft beigetragen. Symptomatisch spricht Hegel von einer „Tragödie im Sittlichen“, die sich als Metapher für eine durch soziokulturelle Ausdifferenzierung der Gesellschaft erzeugte Abtrennung der Individuen vom Gemeinwesen interpretieren lässt. Angesichts der prognostizierten Klimakatastrophe, Wirtschaftskrisen, sozialer Ungleichheit wie anhaltender Kriege erscheint auch uns die Welt als eine fremde und Hegels Zeitdiagnose zutreffend. Parallelen zeigen sich ebenso in intellektueller Hinsicht. Der von ihm konstatierte Dualismus zwischen einem Objektivismus auf der einen und einem die Persönlichkeit generalisierenden Subjektivismus auf der anderen Seite tritt in der Gegenwartsphilosophie in vorherrschenden objektivistischen (Szientismus, Naturalismus) und subjektivistischen, normativen Ansätzen zutage, in denen entweder das Subjekt oder die Natur und geschichtliche Welt ausgeklammert werden. Im Gegenzuge dazu hat sich eine medial präsente, populäre Philosophie herausgebildet, die das steinige Gelände (nach)meta­physi­scher Problembewältigung bewusst umgeht, um sich Themen der richtigen Lebensgestaltung zuzuwenden. Nicht zuletzt die Lage der Gegenwartsphilosophie ist ein Anlass nach dem Hegel’schen Ausweg aus der Krise zu fragen.

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