03 Jan

Was Melvilles Moby Dick mit dem Sinn des Lebens zu tun hat

von Susanne Hiekel (Duisburg-Essen)


Moby Dick wird wohl üblicherweise als Abenteuerroman aufgefasst und die im Titel hergestellte Verbindung zum Thema des Blogs scheint auf den ersten Blick seltsam zu sein. Der zweite Blick – durch die Brille der Autoren Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly – eröffnet allerdings die Verbindung. In All Things Shining stellen Dreyfus und Kelly exemplarisch anhand moderner Klassiker der westlichen Literatur eine Entwicklungsgeschichte von philosophischen Haltungen zur Lebenssinnfrage dar. Sie skizzieren diese Geschichte ausgehend von der verzauberten Welt eines Homerischen Polytheismus und endend in der heutigen entzauberten Welt, die dem Aufklärungsgedanken autonomen Entscheidens verpflichtet ist und mit einem Lebenssinn-Nihilismus einhergeht. Der moderne Klassiker Infinite Jest von David Foster Wallace (im Deutschen Unendlicher Spaß) exemplifiziert diese nihilistische Haltung. Diesem Werk geht nun Melvilles Moby Dick von 1851 voraus, und bildet den Autoren zufolge mit bestimmten Inhalten sozusagen die Vorstufe, die zum Nihilismus führt. Dreyfus und Kelly selbst plädieren allerdings für eine Renaissance eines Homerischen Polytheismus, bei dem wir „act at our best when we open ourselves to being drawn from without.“ (Dreyfus und Kelly 2011, S. 142).

Was hat nun Moby Dick mit diesen philosophischen Positionen zu tun? Dreyfus und Kelly sehen Ahabs Jagd als „monomaniacal pursuit of the final, ultimate truth about the way things are.“ (ebd., S. 161) Der weiße Wal steht – u. a. über das Farbattribut des Weiß-Seins – für etwas, das voll von Bedeutung scheint, aber ob der vielen möglichen Konnotationen der Farbe z. B. Reinheit genauso wie die Blässe des Todes, dennoch gänzlich ohne Bedeutung ist. Kapitän Ahabs vergebliche und schlussendlich für ihn tödliche Jagd auf den gigantischen weißen Wal kann also als Symbol für unsere Suche nach Bedeutung im Leben gesehen werden, die wir vielleicht sogar wie Ahab mit Vehemenz vorantreiben, aber die mit einem Anspruch, individualistisch und autonom die eine richtige Wahrheit zu finden, scheitern muss. (vgl. ebd. S. 204) Damit sind wir in nihilistischen Gefilden.

Auf philosophisch-systematischer Ebene sehen Dreyfus und Kelly zwar einen Ausweg aus dem am literarischen Werk veranschaulichten Nihilismus, der allerdings vermag kaum zu überzeugen. Sie reden einem antiken Polytheismus das Wort, bei dem Sinn erfahrbar wird, wenn man z. B. völlig in einer Sache der Gemeinschaft aufgeht. Sie bezeichnen dieses Gefühl als ‚whooshing up‘, das man z. B. erleben kann, wenn man in einem Sportstadion in der Gemeinschaft ein Tor bejubelt. Unter einem solchen Polytheismus leuchten die Dinge der Welt (all things shining) und sind heilig (sacred), d. h. sie sind fähig uns zu diesem Gefühl zu bewegen. Es sprechen allerdings mindestens zwei Dinge gegen dieses polytheistische Verständnis von Lebenssinn. Zum einen fehlt ohne die individualistische und autonome Konzeption, die die Autoren zwingend mit dem Nihilismus in Verbindung bringen, eine kritische Instanz, die befähigt zu entscheiden, wann ein ‚whooshing up‘ wirklich sinnvoll ist. Zum anderen ist nicht gezeigt, dass mit dem Gedanken der Aufklärung der Lebenssinn-Nihilismus Hand in Hand geht.

Man kann sich streiten, ob der Jubel bei einem Torschuss der favorisierten Mannschaft wirklich Sinn im Leben gibt, es ist allerdings als sicher zu betrachten, dass das Aufgehen im Jubel unter fanatischer und die Grausamkeit preisender Ideologie nicht dazugehört. Der Sinn des Lebens kann nicht darin bestehen, sich wahllos durch ‚heilige‘ Dinge affiziert von einer Welle des guten Gefühls tragen zu lassen. Das sehen die Autoren zwar auch so, bieten aber kein wirkliches Unterscheidungskriterium an, demgemäß verschiedene Formen des ‚whooshing ups‘ auseinandergehalten werden können. Sie gehen zwar davon aus, dass eine Fähigkeit – eine sogenannte meta-poiesis – entwickelt werden muss, die zu erkennen erlaubt „when to rise up as one with the ecstatic crowd and when to turn heel and walk rapidly away“ (ebd. S. 212), aber es wird nicht deutlich, wie diese Fähigkeit genau zu verstehen ist und wie dann genau unterschieden wird. Das ist ein Nachteil verzauberter Welten.

Sind wir dann zum Nihilismus verdammt? Ein Nihilismus hinsichtlich des Lebensinns wird von mehreren Philosophen aus unterschiedlichen Gründen verfochten. Dreyfus und Kelly gehen davon aus, dass unter der Perspektive der Aufklärung, bei der das Subjekt als vernünftiges Selbst verstanden wird, das für die eigenen Handlungen und die eigene Existenzweise alleinverantwortlich und letzthin Quelle von Bedeutung in der Welt ist, der Weg unweigerlich zum Nihilismus führt: „autonomy really does lead to active nihilism, since when all meaning originates with us nothing has authority over us or the power to move us“ (ebd. S. 133). Der aktive Nihilismus ist ein Nietzscheanischer Nihilismus, bei dem die Beschäftigungen des Lebens eigentlich sinnlos sind, wir aber die Fähigkeit haben, alles, das uns attraktiv erscheint, für sinnvoll zu befinden, dieses Urteil jedoch auch jederzeit zurückziehen können, wenn wir das so wählen. (vgl. ebd. S. 47; S. 142)

Dass der Nihilismus notwendig aus autonomer Lebensgestaltung folgt, belegen die Autoren allerdings nicht, sondern können lediglich aufzeigen, dass ein wichtiger Autor der modernen westlichen Literatur – David Foster Wallace – einem solchen Nihilismus zugeordnet werden kann und zeitlich dem Werk Melvilles folgt, das für Dreyfus und Kelly den Drehpunkt zwischen Nihilismus und Polytheismus darstellt. In Moby Dick sind ihrer Meinung nach beide Positionen angelegt und beide Wegmarken gesteckt und Wallaces Werk ist unbestritten zeitlich nach Melville einzuordnen. Dass aber etwas zeitlich folgt, zeigt nicht, dass ein geltungstheoretischer Verknüpfungspunkt vorliegt.

Es ist allerdings zu verzeichnen, dass nihilistische Positionen auch in der philosophischen Literatur des 20. Und 21. Jahrhunderts prominent sind und z. B. durch Autoren wie Albert Camus, Thomas Nagel und David Benatar argumentativ gestützt werden. Eigentlich müsste man für eine Zurückweisung der These, dass man unter Inanspruchnahme rationaler Selbstregierung auf einen Nihilismus festgelegt ist, alle diese Positionen, die sich ja konzeptionell im Verständnis der Lebenssinnfrage und auch in der argumentativen Stoßrichtung unterscheiden, darauf untersuchen, ob der Nihilismus mit guten Argumenten vertretbar ist. An dieser Stelle möchte ich eine kurze Kritik an Benatars Nihilismus aus The Human Predicament (2017) üben und gleichzeitig die These der Verbindung von Nihilismus und Aufklärung von Dreyfus und Kelly in Frage stellen.

Ausgangspunkt von Benatars Überlegungen ist das menschliche (autonome) Individuum, das sich fragt, ob sein Leben einen Sinn hat. Das Individuum fragt danach, ob sein Leben bestimmte Merkmale aufweist, die darauf schließen lassen, dass es signifikant, wichtig oder einem Zweck gemäß wäre. (vgl. Benatar 2017, S. 17) Obwohl nun das Leben sehr wohl in einem solchen Sinne von Bedeutung sein könnte, wenn man es vom Standpunkt der Menschheit, der menschlichen Gemeinschaft oder vom individuellen Standpunkt aus beurteilt, negiert Benatar, dass es einen Sinn sub specie aeternitatis – vom Standpunkt des Universums aus – geben kann. Er vertritt also keinen globalen, sondern einen auf diesen speziellen kosmischen Standpunkt bezogenen Nihilismus. (vgl. ebd. S. 22f) Unser Leben ist vom kosmischen Standpunkt aus als sinnlos anzusehen, weil es zeitlich und räumlich winzig erscheint, die Existenz eines bestimmten Individuums in der Welt extrem kontingent ist, der Tod unausweichlich ist und unser Verfolgen von Lebensprojekten von Sisyphusscher Absurdität geprägt ist.

Man könnte nun denken, dass sich eine Erwiderung auf diese Benatarsche Sichtweise ganz leicht ergibt, indem man der kosmischen Perspektive die Relevanz abspricht. Dies sieht Benatar aber als unmöglich an, was auf sein Verständnis der Lebenssinnfrage zurückzuführen ist. Wie Robert Nozick sieht Benatar diese als eine Frage an, die man stellt, weil man notwendig ein Leben lebt, das in vielfacher Weise begrenzt ist und diese Grenze zu transzendieren sucht. Das Problem des Lebenssinns wird nach beiden Autoren durch Grenzen geschaffen. Nozick schreibt z. B.:

However widely we connect and link, however far our web of meaningfulness extends, we can imagine drawing a boundary around all that, standing outside looking at the totality of it, and asking “but what is the meaning of all that, what does that mean?” […] To see something’s limits, to see it as that limited particular thing or enterprise, is to question its meaning. (Nozick 2013, S. 74)

Da die kosmische Perspektive die expansivste ist, diejenige, die alles einschließt, was menschliches Leben umfasst, ist aus dieser Perspektive der Sinn immer anzuzweifeln. Es bleibt aber zu überlegen, ob die Einnahme der kosmischen Perspektive überhaupt möglich ist, da sie sich ja jenseits der menschlichen Perspektive sub specie humanitatis befindet.

Beurteilungen und Bewertungen sind daran gebunden, dass jemand beurteilt oder bewertet. Man kann sich nun vorstellen, dass sich jemand in die Perspektive eines anderen Individuums, einer Sozietät oder der Menschheit begibt und Urteile über vorfindliche Leben fällt. Das wären dann individuelle, konventionelle und intersubjektive Urteile, die gefällt würden. Wie soll man sich aber das Urteil von kosmischer Perspektive aus vorstellen? Die Einnahme einer kosmischen Ewigkeitsperspektive zur Beurteilung eines Lebens scheint eher etwas zu sein, das sich einer theonomen, voraufklärerischen Beurteilung der Welt oder des Lebens entlehnt. Unter ihr findet gerade keine autonome Beurteilung statt. Das Lebenssinnverständnis Benatars als solches ist daher unter säkularen und aufklärerischen Gesichtspunkten bzgl. seines Extensionsanspruchs anzuzweifeln. Beschränkt man sich aber auf die Ebene sub specie humanitatis als oberster Beurteilungsebene, dann – so gibt Benatar selbst zu – ist ein sinnvolles Leben möglich, wie z. B. das von „Buddha, William Shakespeare, Florence Nightingale, Albert Einstein, Alan Turing, Jonas Selk and Nelson Mandela“ (Benatar 2017, S. 30).

Literatur

Dreyfus, Hubert und Kelly, Sean Dorrance: All Things Shining. Reading the Western Classics to Find Meaning in a Secular Age. (New York: Free Press, 2011)

Benatar, David: The Human Predicament. A Candid Guide to Life’s Biggest Questions. (Oxford: Oxford University Press, 2017)

Nozick, Robert: Philosophy and the Meaning of Life. In: Seachris, Joshua W. (Hrsg.): Exploring the Meaning of Life. An Anthology and Guide. (Chichester: John Wiley & Sons, 2013) S. 62-78


Susanne Hiekel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Praktische Philosophie an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Lebenssinnfragen, der Tier- und Umweltethik sowie der Philosophie der Biologie. Die letzte Publikation zum Lebenssinn mit dem Titel Fitting Fulfilment – Fitting Objective or Rational Attractiveness? erschien 2018 in der Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie.  

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