10 Jan

Was trägt? Philosophische Religionskritik als Belastbarkeitstest und (Selbst-)Aufklärung

von Ana Honnacker (Hannover)


Wie verhalten sich Philosophie und Religion zueinander? Was auf den ersten Blick zunächst als scheinbar einfache (und vermeintlich längst geklärte) Frage daherkommt, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als beinahe unentwirrbare Problemstellung, handelt es sich doch um zwei Phänomenkomplexe, denen nicht gut beizukommen ist, da ihr Gegenstandsbereich je nach (kulturellem und historischem) Blickwinkel und Vorverständnis variiert. Über das Verhältnis von Philosophie und Religion nachzudenken, erfordert dementsprechend eine gleichermaßen heikle wie verräterische definitorische Eingrenzung dessen, was man jeweils unter Philosophie und Religion versteht, und das heißt eben auch: verstanden wissen möchte.

Heikel, weil wohl jede Definition Gefahr läuft, entweder zu eng zu sein und damit relevante Elemente auszublenden, oder aber zu weit zu sein und in Folge dessen nicht mehr zu einer interessanten Analyse beitragen zu können. Setzen wir für die Frage, was Religion sei, ein substantielles Kriterium, wie etwa den Glauben an die Existenz von etwas Transzendentem oder supranaturalistische Überzeugungen, fallen all jene Haltungen heraus, die diese Unterscheidungen nicht treffen – und sei es, weil sie das begriffliche Bezugssystem nicht teilen. Folgen wir einer eher funktionalen Definition von Religion, die beispielsweise auf Kontigenzbewältigung oder Gemeinschaftsstiftung abhebt, ist eben auch die Anhängerschaft zu einem Fußballverein Religion, was nicht (zumindest nicht zwingend) der Selbstbeschreibung der Fans entspricht. Um die Bestimmung von Philosophie steht es nicht besser: Meinen wir die spezifische Traditionslinie von den Vorsokratikern über die europäische Aufklärung bis hin zu den post-(post-)modernen Denker*innen, die zumeist Gegenstand des akademischen Fachs Philosophie ist? Und denken wir weiterhin eher an deren analytische oder kontinentale Ausprägung? Oder verstehen wir darunter einen Versuch, die Welt zu verstehen und zu deuten, die auch in anderen Weltregionen und in anderen Reflexionsformen zur Blüte gekommen ist? Welche Setzung man auch vornimmt, sie wird die weitere Behandlung einfärben und – das nun ist das „Verräterische“ – lässt Rückschlüsse auf den Standpunkt der Betrachtenden zu, nicht zuletzt auch dann, wenn diese sich hinter einer vermeintlichen Neutralität zu verbergen versuchen.

Ob man eher den „dienenden“ Charakter der Philosophie unterstreicht, um die Vernunft oder Plausibilität, vielleicht gar die zwingende Notwendigkeit religiösen Glaubens aufzuzeigen, oder die Philosophie heranzieht, um Religion als zu überwindenden Aberglauben zu entlarven: In jedem Fall muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, von Anfang an ein bestimmtes Projekt verfolgt zu haben, und bei der Verhältnissetzung eine petitio principii begangen zu haben. Apologetische Ansätze wissen immer schon, dass die Religion durch die Philosophie bestätigt werden wird, während aufklärerische Versuche Religion von vornherein mit dem Irrationalen in Verbindung bringen.

Nun lässt sich weder das Problem der Definition noch das der Standortgebundenheit vermeiden. Was sich aber vermeiden lässt, ist eine gewisse Borniertheit des Denkens – wenn es nämlich meint, diese Probleme nicht zu haben – und zwar, indem man die eigene Perspektivität und Situiertheit stets mitdenkt und auf diese reflektiert.

Was sich daraus ergibt, ist ein zugleich kritischer wie emanzipatorischer Ansatz, wie er beispielsweise unter Rückgriff auf den Pragmatismus entworfen werden kann. Was den Gründungsfiguren dieser philosophischen Richtung bei aller Unterschiedlichkeit gemein ist, ist ihr Anspruch, zwischen religiösem Glauben und reflektierter Welterfahrung zu vermitteln. Noch genauer unterlaufen insbesondere William James und John Dewey die strikte Unterscheidung zwischen religiösen und nicht-religiösen Überzeugungen (und vermeiden damit, ganz nebenbei, das Problem, was überhaupt eine „religiöse Überzeugung“ sein soll). Den Pragmatismus verstehen sie dabei als eine Methode, Überzeugungen jedweder Art auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen. Dieser „Belastbarkeitstest“ fragt nach der Leitfunktion von Vorstellungen. Welche Orientierungsleistung erbringen also bestimmte Sätze, sei es „Diese Mauer ist 4 m hoch“, „Morgen wird es regnen“, „Gott ist allmächtig“ oder „Mein Schutzengel wacht über mich“? Bewähren sie sich in der Praxis? Unsere Vorstellungen werden gewissermaßen als Arbeitshypothesen betrachtet, die einem „reality-check“ unterzogen werden. Damit kommen unweigerlich auch unsere Praktiken in den Blick. Unser theoretisches und unser praktisches Weltverhältnis sind nicht voneinander zu trennen und verhalten sich dialektisch zueinander: Jedes Handeln ist in Vorstellungen eingebettet, die sich wiederum durch meine praktischen Erfahrungen in der Welt ausbilden. Überzeugungen sind also Handlungsdispositionen, und mein Handeln gibt Auskunft darüber, wovon ich wirklich überzeugt bin, was ich für wahr halte, woran ich glaube.

Für die (pragmatistisch verstandene) Philosophie heißt das nun, dass sie mit Blick auf die Religion eine recht radikale Prüfinstanz darstellt, die allerdings nicht auf den Nachweis der Irrationalität oder Unwahrheit religiösen Glaubens hinauswill, sondern vielmehr das, was geglaubt wird, möglichst plausibel und tragfähig machen will. Ansatzpunkt sind entsprechend die individuellen Glaubensinhalte und -praktiken. Diese sind natürlich nicht ohne die historischen religiösen Traditionen, auf denen sie beruhen, zu denken, selbst wenn sie sich in  zunehmend eklektischer Weise an diesen bedienen. Die Religionen in ihren mehr oder weniger institutionalisierten und kodifizierten Erscheinungsformen sind aber, genauso wenig wie die Theologie(n) als systematische Reflexion auf diese Formen, primärer Gegenstand der pragmatistischen Kritik. Sind diese doch, wie William James in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk „The Varieties of Religious Exerience“ (1902) schreibt, „second-hand“, Produkte eines Prozesses der Artikulation und Rationalisierung individueller religiöser Erfahrungen, die gleichsam gemeinschaftlich verobjektiviert werden und mit der Zeit zu den spezifischen kulturellen Phänomenen gerinnen, die wir Religion nennen. Entkoppelt sich dieser Prozess aber zu sehr von der menschlichen Erfahrungswirklichkeit, sodass er sich gar nicht mehr an diese zurückbinden lässt, erstarrt Religion zu bedeutungsleerem Dogmatismus. Von einem solchen gilt es, sich in einem Akt der philosophischen (Selbst-)Aufklärung zu emanzipieren. Bei der Frage „Was trägt?“ soll die Philosophie als Filter dienen, sie wird zum Instrument eines regelrecht reformatorischen Anliegens mit offenem Ausgang.

Während z.B. James zwar deutliche Modifikationen am christlichen Gottesbegriff und seinen Attribuierungen vornimmt, die Vorstellung eines mitleidenden, gar mitwachsenden und mit den Menschen in Beziehung tretenden personalen Gottes aber nicht verwirft, ist für Dewey „Gott“ bestenfalls noch als Chiffre zu gebrauchen, auf die im Rahmen seines pragmatistischen Humanismus jedoch auch verzichtet werden kann. Bei Richard Rorty führt die pragmatistische Prüfung geradewegs zu einem klaren Atheismus und Anti-Klerikalismus, bei Cornel West wiederum ist sie Grundlage einer religiös gesättigten Sozial- und Kulturkritik, die sich nicht zuletzt auch auf die jüdisch-christliche prophetische Tradition beruft.

Diese Variationen verdanken sich dabei schlicht der Perspektive der Philosophierenden. Philosophie im Sinne des Pragmatismus ist eben nicht universal, und daher bietet sie auch keine one-for-all Kritik religiösen Glaubens oder „der“ Religion. Genauso wenig kann sie allgemeingültig die Plausibilität einer religiösen Vorstellung aufzeigen oder gar jemanden nur über Argumente zum Glauben bringen. Die Philosophie prüft und argumentiert in einer spezifischen historischen, kulturellen und auch persönlichen Situation – sie tut dies aber eben stets auch vor dem Hintergrund einer geteilten Wirklichkeit, über die wir uns intersubjektiv verständigen können. Diese Verständigung zielt aber nicht unbedingt auf Konsens, sondern nur auf einen friedlich ausgetragenen Austausch (und auch Streit) über unsere divergierenden Positionen. Der philosophische Pragmatismus macht ernst mit der Idee des Pluralismus. Das bedeutet, dass wir uns nicht über alles einig werden können, schon gar nicht über die eine, korrekte Weltanschauung, und die eine richtige Lebensform. Vielmehr ist es eine permanente philosophische Aufgabe, das, was uns trägt, woran wir glauben, was wir für wahr halten, möglichst stark zu machen, und das heißt das auch: es offen zu halten für Veränderung.


Dr. phil. Ana Honnacker ist wissenschaftliche Assistentin des Direktors am Forschungsinstut für Philosophie Hannover. Sie studierte Philosophie, kath. Theologie und allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Münster. Von 2009-2013 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theologie und Sozialethik der TU Darmstadt und Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg „Theologie als Wissenschaft“ an der Goethe-Universität Frankfurt, wo sie 2014 ihre Promotion mit einer Arbeit zu William James abschloss. Sie ist Gründungsmitglied des German Pragmatism Network und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie. Sie forscht u.a. im Bereich der Religionsphilosophie, der politischen Philosophie, insbesondere Demokratietheorien, und der Umweltphilosophie, ihr Schwerpunkt liegt dabei auf dem Pragmatismus.


(Weiterführende) Literatur

James, William: Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, Frankfurt a. M. – Leipzig: Insel 1997.

Dewey, John: „Ein allgemeiner Glaube“, in: ders., Erfahrung, Erkenntnis und Wert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2004, 229-292.

Pihlström, Sami: “The Emancipatory Potential of Pragmatist Philosophy of Religion”, in: Pragmatism Today 6 (2015), Nr. 2, 10-20.

Rorty, Richard: „Antiklerikalismus und Atheismus“, in: ders./Vattimo, Gianni, Die Zukunft der Religion, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2006, 33-47.

West, Cornel: “On Prophetic Pragmatism”, in: ders., The Cornel West Reader, New York: Basic Civitas Books 1999, 149-173.

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