14 Mrz

Das Religiöse im Übergang von Religion zu Religion. Anmerkungen zur Logik der Konversion

von Sebastian Edinger (Potsdam)


Der gemeinsame Nenner der meisten Diskussionen über Religionen im Plural besteht darin, dass sie als Entitäten aufgefasst werden, wodurch sie einerseits zwar überhaupt erst wirklich als etwa Christentum oder Islam identifizierbar werden, andererseits aber auch in der gemeinen Handhabung wie monolithische Blöcke erscheinen. Selten thematisiert wird allerdings das philosophisch bedeutsame und zu bloßen Religionsunterscheidungen und Verhältnisbeschreibungen querstehende Phänomen der Konversion, d.h. der im Glauben vollzogene Übergang von einer Religion zu einer anderen Religionen oder von der nicht-religiösen in die religiöse Existenz. Eine allgemeine Formel für den Umgang der Religionen mit Konversionen – abgesehen davon, dass die „Exo-Konversion“ von Religionen generell nicht erwünscht ist – gibt es nicht: Der Hinduismus ist eine Geburtsreligion, der man also qua Geburt angehört und zu der man nicht konvertieren kann; das Judentum wiederum, gleichwohl eine auserwählte Schicksalsgemeinschaft der besonderen Art, verbietet keine Konversionen; zu Islam und Christentum als missionierungsfreudigen Religionen erübrigen sich weitere Ausführungen. Doch gerade um (vorwiegend institutionelle) Konversionen zu Religionen, die über eine politische Machtfülle verfügen, geht es mir nicht, sondern um die individuelle Konversion im Glauben. Deshalb werde ich von der Glaubenskonversion reden. Was geschieht überhaupt, wo eine Konversion vollzogen wird, und warum ist die Konversion der aufschlussreiche blinde Fleck der Frage danach, was es heißt, ein Gläubiger zu sein?

Die Glaubenskonversion ist der Entscheidungsakt, welcher die institutionelle Konversion ermöglichen und tragen soll. Es geht dabei nicht um einen Wechsel der Überzeugungen, der Weltanschauung und erst recht nicht um die Annahme neuer und anderer Meinungen. Wechseln kann man beispielsweise den Fußballverein, den Motorradfahrerclub, die politische Partei oder – in einer neuen Art von durch Optionenüberschuss begünstigtem Volkssport – den Ehepartner, der ein Spezialfall des seine Auswechselbarkeit schon als Stempel aufweisenden „Lebensabschnittsgefährten“ ist. Parteien- und Clubwechsler mögen teilweise als Verräter angesehen werden, doch steht für die derart Abtrünnigen nicht die metaphysische Bestimmung der eigenen Existenz und damit die Selbstbestimmung vom Verhältnis zu einem Höheren als dem eigenen Sein und von diesem Höheren her auf dem Spiel. Die Konversion markiert deshalb keinen „Wechsel“ des Glaubens, sondern eine grundlegende Veränderung der persönlichen Identität und des identitätsstiftenden Glaubens, des eigenen Selbst- und Weltverständnisses, d.h. der Person in ihrem Verhältnis zu Gott und, damit und dadurch, zur Welt.  Der Konvertit wird zu jemand anderem und kommt dabei zu sich selbst in einer ihn tragenden Wahrheit, deren Bürde er zu tragen hat. Die Konversion steht unversöhnlich quer zum individualistischen choice-Paradigma (das anthropologistische Pendant dieses Kindes im Spielwarenladen der unverbindlichen choice options ist der homo oeconomicus), in dem die heutige Eheschließung und die Wahl der bevorzugten Klopapiersorte ihre zeitgemäße gemeinsame Heimat finden. Unzugänglich ist diese Problematik der Konversion deshalb den Relativisten und Absolutisten der Gewöhnlichkeit, für die es um nichts geht als um sie selbst; die auf die Wahrheitsfrage, die sich mit dem Glauben stellt, reagieren, indem sie nach Studien fragen in der Anrufung einer Entlastung, in der die Sachen sauber entschieden werden, wodurch man sich auf etwas berufen kann und glücklicherweise für nichts mehr selbst einstehen muss.

Der Entscheidungsakt, der eine Konversion trägt und ermöglicht, ist nicht auf der Basis einer konventionellen Religionszugehörigkeit möglich. Die Transformation bedarf eines Anstoßes, der epistemischer Natur sein muss, d.h. die Entscheidung basiert auf der Erkenntnis, diesem (dem neuen) Glauben der eigenen Wesensart nach angehören zu müssen und dem bisherigen Glauben (oder Nicht-Glauben) nicht mehr angehören zu können. Diese Erkenntnis setzt ein Mindestmaß dessen voraus, was Ulrich Beck „religiöse Individualisierung“ nennt, die – als solche – kein exklusives Phänomen der von Beck beschriebenen reflexiven Moderne ist, sondern generell den Glauben überhaupt erst zum Glauben einer Person macht. Es ist nur dem Anschein nach eine Tautologie, wenn man sagt: Gläubiger ist, wer glaubt – denn glauben heißt: einen Glauben formen, kultivieren und leben (indem man sich dabei umgekehrt weitreichend von ihm formen lässt), nicht einfach nur ihm anhängen wie in der Schafherdenvariante des gewöhnlichen Glaubens, der kein genuines Glauben erfordert. Erst, wer glaubt, indem er den Glauben, d.h. auch: die Lebensform des Glaubens lebt, kann sich überhaupt zum Glauben entscheiden. Darin trifft die Konversion sich mit der Treue: Beides sind existenzielle Entscheidungen, die Konversion eher transformatorischer, die Treue eher konfirmatorischer Art.

Ist die Entscheidung aber nicht auch eine Wahl? Im paradoxen Sinne, der die religiöse Entscheidung kennzeichnet: ja. Die Pointe der Religiosität besteht darin, sich unter ein Gesetz zu stellen, nicht darin, eine individualistisch ausgeschmückte Hoheit gegenüber vermeintlichen Freiheitsfesseln zu zelebrieren. Die Konversion macht diesen paradoxen Kern des Religiösen wie unter dem Mikroskop sichtbar: sich einem selbstgewählten Gesetz zu unterwerfen – in Demut, nicht sklavisch. In der Konversion entscheidet man sich nicht qua Wahl für eine Religion, sondern man entscheidet, den Übergang von einer (preisgegebenen, gleichwohl nicht relativistisch und deshalb a-religiös zur Wahrheit-für-Andere entkernten) Wahrheit in eine andere Wahrheit zu vollziehen, denn der Gläubige ist nicht einer Ordnung von Meinungen verfallen, sondern steht existenziell in der Wahrheit (s)einer Religion. Die Entscheidung ist keine Wahl einer Option, sondern die Wahl(entscheidung) gemäß dem, der man ist; zugleich wird man durch sie, wer man ist.  Die Wahrheit muss gelebt werden, sie muss im Leben kultiviert und gestaltet werden, sodass sie in einem selbst Gestalt annimmt; unter dem Gesetz der religiösen Wahrheit leben erfordert deshalb mit Sicherheit nicht weniger Autonomie und Gestaltungskraft als das individualistische Prêt-à-porter, das sich als Haute Couture auszugeben beliebt. Ein Denken entlang des Satzes vom Widerspruch, das keinen Übergang von einer Wahrheit in eine andere kennen kann, weil es „die Wahrheit“ numerisch konzipiert und ein Entweder-Oder statuiert, versagt vor dieser Logik. Ebenso ist die Paradoxie zwischen dem „Werde, der du bist“, das die Konversion verlangt, und dem „Werde, der du bist“, das im Medium des durch die Konversion angenommenen Glaubens sich vollzieht, eine fatale lediglich für das Bedürfnis eines analytischen Nacheinanders, das sich überschneidende, gegenseitig durchdringende und darin sich überhaupt erst in ihrer Eigenart konstituierende Momente existenzieller Zeitlichkeit kindlich verdinglicht und darauf beharrt, dass zwei Bauklötze nicht einer und derselbe sein können.

So wenig wie innerhalb einer Religion die Konversion der Gläubigen zu einer anderen Religion vorgesehen ist, so deutlich zeugt sie vom Kern des Religiösen, d.h. davon, sich von sich aus, in so freier wie existenzieller, also gänzlich nicht-beliebiger Wahl und entschieden unter das Gesetz eines Glaubens zu stellen. Sie erlegt dem Gläubigen auf, in eine Tradition einzugehen und zu einem Träger derselben zu werden (d.h. sich zu einem solchen zu bilden), ohne in sie hineingeboren worden zu sein. Die Konversion nimmt den Glauben als Entscheidung auf sich, ohne die Entlastung der Gewohnheit zu ihrem so unumstößlichen (durch sozialisatorische Verwurzelung) wie dürftigen (aufgrund der Entbindung davon, diese initiatorische Entscheidung selber getroffen haben zu müssen) Fundament zu haben. Sie nimmt der Religion ihre hermetische Abgeschlossenheit, ohne ihr ihre existenzielle Verbindlichkeit nehmen zu wollen, was sich exemplarisch in einem Begriff wie dem der „Präkonversionsexistenz“ (Martin Przybilski) zeigt. Mit der Konversion ändert sich nicht der Name des Gottes, zu dem man betet, sondern der Sinn und die Aufgaben der Existenz und die gläubige Person im Ganzen. Was den Bruch mit einer Religion oder einer vorreligiösen Existenz ermöglicht, ist die Religiosität selbst. Bei Plessner ist die Religion „Definitivum“ und „Heimat“; das Phänomen der Konversion zeigt, dass sie mehr Heimat als Definitivum ist.

Die Konversion ist über ihre immanente Struktur hinaus das experimentum crucis der Glaubensfreiheit innerhalb der Religion. Ist die Konversion von der Religion selbst her Verrat, dann ist die freie Religionsausübung und damit die Freiheit des Glaubens, die allein die eigentliche Religiosität stiften kann, kein Element der Religion selbst. Die Religion lebt dann – in einer anverwandelnden Umkehrung des Böckenförde-Diktums gesprochen – von über die Gläubigen verhängten Voraussetzungen, welche die Unmöglichkeit der Freiheit garantieren, die eigentliche, d.h. nicht durch Zwang und Überwachung forcierte Gläubigkeit ermöglichte. Weil die Konversion von Religionen nicht vorgesehen ist, diese sich aber heute in halbwegs entwickelten Staaten begegnen, muss sie von Staaten gewährt werden. Missverstehen diese die Religionsfreiheit dahingehend, der Religion die Freiheit zu lassen, Konversionen tabuierenden Druck oder erschwerenden Zwang auszuüben und strukturell zu implementieren durch religiöse Institutionen, so ist nicht nur die Freiheit des Glaubens dahin, denn die „Sozionomie“ im Stile von Motorradfahrerclubs übernimmt dann die religiösen Institutionen und beschlagnahmt die Freiheit des Glaubens. Wenn Konversionen explosives Potenzial haben, stehen die Religionsfreiheit und die Glaubensfreiheit in einem antagonistischen Verhältnis zueinander; wie damit umzugehen sei, ist eine Frage, der nur „erwachsene“ Staaten sich adäquat stellen können.


Sebastian Edinger arbeitet an der Universität Potsdam im Rahmen des DFG-Projekts (Eigene Stelle) „Negative Anthropologie als systematischer      Konvergenzpunkt von Philosophischer Anthropologie und Kritischer Theorie“.

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