02 Aug

Symphilosophie und Provokation. Zu Friedrich Schlegels 250. Geburtstag

Von Johannes Korngiebel (Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar)


Friedrich Schlegel, dessen Geburtstag sich am 10. März 2022 zum 250. Mal jährt, war ein Denker der Moderne. Weitsichtig hat er deren Probleme, aber auch Potentiale erkannt. Sein Gesamtwerk lässt sich als Auseinandersetzung mit der um 1800 erstmals umfassend spürbaren Moderneerfahrung interpretieren. Dabei geht es Schlegel nicht nur um eine Analyse des Phänomens. Er entwickelt auch Lösungsansätze, um mit den Herausforderungen der Moderne produktiv umzugehen.

Die Zeit um 1800 ist durch tiefgreifende Umbrüche geprägt. Der Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, die Einführung neuer Staats-, Finanz- und Marktsysteme, die beginnende Technisierung und Industrialisierung, die daraus hervorgehenden sozialen Umwälzungen und der Wegfall traditioneller Wert- und Bedeutungssysteme veränderten die Lebenswirklichkeit der Menschen nachhaltig. Gab es zuvor auf prinzipielle Fragen der Menschheit verbindliche Antworten, wird deren Begründung in der Moderne fraglich. Die daraus resultierende Unsicherheit stellte das Individuum vor bisher ungekannte Herausforderungen. Hoch spezialisiert kann der Mensch das Ganze der Welt nicht mehr überblicken. Der Einzelne entfremdet sich zunehmend von der Gesellschaft, vereinsamt und vereinzelt. Die wachsende Komplexität des Ganzen wird durch die Verluste des Einzelnen erkauft. – An dieser Problematik hat sich in den letzten 200 Jahren kaum etwas geändert.  

Einer der ersten, der diese Prozesse theoretisch zu erfassen versucht hat, war Friedrich Schlegel. Für ihn war die Moderne nicht nur durch ein Unverhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft geprägt, sondern auch durch eine Zersplitterung des Bewusstseins des Einzelnen: „Aber nicht bloß im Äußern, auch im Innern des Menschen ist Trennung, und die Wiedervereinigung wird gefordert als Problem“.[1] Ohne die traditionellen Wertesysteme ist das Individuum auf sich allein gestellt. Inmitten pluralistischer Lebensformen, ständig sich wandelnden Bedingungen und der beschleunigten Entwicklung des Erfahrungsraums kann Sinn und Zusammenhang nur aus der Konstruktion des Einzelnen gezogen werden. Gleichzeitig wächst aber dessen Unverständnis gegenüber einer immer komplexer werdenden Welt: „alles“ – so fasst Schlegel bündig zusammen – „widerspricht sich“.[2] – Allerdings bleibt Schlegel bei diesem Befund nicht stehen. Vielmehr entwickelt er Ideen, mit denen der drohenden Zersplitterung begegnet werden kann.

Grundsätzlich lassen sich in Schlegels Werk verschiedene Lösungsansätze für die Herausforderungen der Moderne finden. Sie können in zwei unterschiedlichen Antwortstrategien zusammengefasst werden. Die erste dieser Tendenzen könnte man die einheitsstiftende nennen. Dahinter verbirgt sich der Versuch, die unverbundene Vielheit miteinander ins Gespräch zu bringen, zu verbinden und die Brüche und Dissonanzen zu heilen. Diese einheitsstiftende Tendenz lässt sich in vielfältiger Weise in Schlegels Werk nachweisen. Am bekanntesten ist vielleicht die Symphilosophie. Sie bezeichnet die Idee, dass sich verschiedenartige Geister gegenseitig anregen und befruchten. Von diesem Modell erhoffte sich Schlegel eine wahre Revolution:

Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.[3]

Die Symphilosophie ist also nicht nur eine Form der Geselligkeit, in der Neues vorgestellt und diskutiert wird, sondern zugleich eine Produktionsgemeinschaft, in der innovative Ideen entwickelt werden. So sind bspw. die berühmten Athenäumsfragmente, in denen sich der zuvor zitierte Satz findet, ein Gemeinschaftswerk, an dem neben den Gebrüdern Schlegel auch Schleiermacher und Novalis mitwirkten. Voraussetzung einer solchen Zusammenarbeit ist eine republikanische Grundhaltung, die auch – und das war neu in jener Zeit – Geschlechtergerechtigkeit einschließt.

Abgesehen davon, dass die Frühromantiker neue, innovative Formen des Zusammenlebens erprobten, bietet die Symphilosophie auch eine Antwort auf die Frage, wie Ergebnisse von hoch spezialisierten Einzelwissenschaften so rückübersetzt werden können, dass sie für andere fruchtbar und anschlussfähig werden. Entsprechend gehörten zum Kreis der Frühromantiker nicht nur Dichter, Künstler und Philosophen, sondern auch Naturwissenschaftler und Theologen. Durch dieses dichte Netzwerk unterschiedlichster Professionen erhoffte sich Schlegel innovative Querbezüge und neue Perspektiven. Die Symphilosophie gleicht einem gigantischen Verschmelzungsversuch, der fremde Sphären miteinander ins Gespräch bringen will.

Diese einheitsstiftende Tendenz wird auch in anderen Projekten deutlich. So können Schlegels Idee einer Neuen Mythologie, sein Enzyklopädie-Projekt, die Schlüsselstellung, die er dem modernen Roman als Mischform aller Gattungen zuerkennt, und das Verweisungssystem der Fragmente als Versuch gewertet werden, die vielfältigen Einzelperspektiven zu einem Ganzen zu verdichten. Ein weiteres Beispiel ist die vielbeschworene ‚romantische Ironie‘. Auch sie sucht Universalität, indem sie den Gegensatz der eigenen Position stets mitzudenken versucht.

Dabei gilt allerdings eine generelle Einschränkung: Durch keines dieser einheitsstiftenden Projekte kann der Mensch sein Ziel erreichen und eine ganzheitliche Sicht auf die Welt gewinnen. Der Grund dafür liegt Schlegel zufolge in der Beschränkung unserer geistigen Fähigkeiten und dem Perspektivismus unseres individuellen Blicks. Ironie, Roman und Symphilosophie können lediglich schlaglichtartige Ausblicke auf das Absolute bieten. Daher propagierte Schlegel die unendliche Annäherung. Sie strebt – in dem Wissen, ihr Ziel nie erreichen zu können – ewig dem Ganzen und Unendlichen entgegen. Die einheitsstiftende Tendenz ist also notwendigerweise eine annäherungsweise. Schlegel beschrieb sie auch als Sehnsucht, die nie gestillt werden kann, weil sie sich „ewig von neuem erzeugt“.[4]

Hegel hat dieses romantische Bewusstsein, das ewig strebend sein Ziel nie erreicht, als ein unglückliches beschrieben. Für Schlegel hingegen war die Einsicht in die Unerreichbarkeit des Höchsten der Garant des ewigen Werdens und Wirkens. Gerade weil das Absolute nicht erreicht werden kann, ist das Bewusstsein unaufhörlich tätig. Die Bestimmung des Menschen bestand für Schlegel darin, an der Vollendung der Welt mitzuarbeiten, obwohl er weiß, dass dieses Ziel nicht erreicht werden kann.

Damit sind wir bei der zweiten Antwortstrategie. Man könnte sie – in Abgrenzung zur einheitsstiftenden – die differenzierende nennen. Hier zeigt sich, wofür die Frühromantiker und vor allem Schlegel berühmt, ja berüchtigt waren: radikale Frechheit, Provokation und Polemik. Deren Zentrum bildete das Athenäum, die Zeitschrift der Frühromantiker, deren Programm August Wilhelm Schlegel einmal als „kritischen Terrorismus“ beschrieb.[5] Ganz in diesem Sinne erweckten die jungen Wilden seit Mitte der 1790er Jahre vor allem dadurch Aufmerksamkeit, dass sie laut tönend gegen die im Literaturbetrieb etablierten Größen anschrieben.

Bei aller Provokation ging es Schlegel aber nie um ein generelles ‚Dagegen‘. Vielmehr war seine Polemik stets wohl begründet. So ging es, wenn der frühromantische Kreis in Jena genüsslich die Anekdote kolportierte, man habe beim Lesen von Schillers Glocke vor Lachen unter dem Tisch gelegen, um eine fundamentale Kritik an Schillers antiquiertem Frauenbild – „Und drinnen waltet die züchtige Hausfrau“! Darüber hinaus richtete sich die frühromantische Provokation nicht nur gegen Personen. Wenn Schlegel etwa in der Lucinde die freie, ungebundene Liebe feierte und außerdem eine Rechtfertigung der Frechheit und der Faulheit lieferte, dann war das ein mit Fleiß berechneter Affront, der die heuchlerischen Moralvorstellungen der Zeit aufs Korn nahm.

Provokation und Polemik sind also integrale Bestandteile der frühromantischen Methode. Dennoch aber darf diese Lust am Verneinen nicht als Mittel der Anarchie missverstanden werden. Mit dem Zweck, das Falsche zu entlarven, kommt ihr vielmehr eine zentrale Funktion zu. Indem die Kritik den Finger in die Wunde legt, bildet sie das unerlässliche Korrektiv falscher Meinungen und Positionen. Sie benennt Schwierigkeiten, merzt Fehler aus, beseitigt Irrtümer und garantiert so die Überwindung der als falsch erkannten Positionen. Die Aufgabe der „Polemik“ ist es Schlegel zufolge, „den Verstand [zu] schärfen“ und „die Unvernunft [zu] vertilgen.“[6]

Damit wird deutlich, dass die beiden entgegengesetzten Strategien – die einheitsstiftende und die differenzierende – im Grunde auf einander bezogen sind. Sie bestehen notwendigerweise nur gemeinsam und setzen sich wechselseitig voraus. Das Zusammensprechen der Symphilosophie erfordert das Gegeneinandersprechen der Kritik – oder wie Schlegel es ausdrückte: „Die Philosophen welche nicht gegeneinander sind, verbindet gewöhnlich nur Sympathie, nicht Symphilosophie.“[7] Die einheitsstiftenden Projekte müssen sich folglich den peinlichen Nachfragen der Kritik stellen. Nur durch diese Kontrolle ergibt sich die qualitative Steigerung, die der unendlichen Annäherung eigen ist. Gerade im Lernen durch Irrtum besteht also der unverzichtbare Wert der differenzierenden Tendenz. Sie ist der Motor des Fortschritts, der folglich nicht als linearer Prozess, sondern als zyklische Entwicklung mit zahlreichen Irr- und Umwegen zu verstehen ist.

Neben dem Plädoyer für die Einheit stand die Frühromantik demzufolge immer auch für ein Denken der Differenz! Es ging Schlegel um die Vielfalt der Perspektiven, das Nebeneinander von Gegensätzen und eine prinzipielle Offenheit und Pluralität, in der sich zwar jede Position behaupten muss, in der andererseits aber auch jede geachtet wird. Gerade aus den Unterschieden – nicht den Gemeinsamkeiten! – resultiert die der Frühromantik eigene fundamentale Achtung des Individuellen. Dem frühen Schlegel ging es um das Ideal einer republikanischen Gesellschaft, in der ein radikal offenes, freiheitliches Denken nicht nur möglich, sondern geradezu geboten ist, und in der Widersprüche ausgehalten werden, statt sie einzustampfen.

Obgleich der gemeinschaftliche Diskurs den Einzelnen nicht von seiner Eigenverantwortlichkeit entbindet, erleichtert er doch die Suche nach tragbaren Lösungen. Der Perspektivenreichtum kommt allen zu Gute: Durch die Vergemeinschaftung verschiedener Perspektiven wird der Horizont aller erweitert. Gemeinsam erblicken wir mehr als wir allein zu sehen im Stande sind. Friedrich Schlegel ist ein Denker der Moderne von dessen Ideen wir noch heute profitieren können.


Johannes Korngiebel hat Philosophie und Kulturgeschichte in Jena und Padua studiert. Er arbeitet an einer Dissertation zu Friedrich Schlegels Jenaer Vorlesung zur Transcendentalphilosophie (1800/01) und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mitherausgeber der historisch-kritischen Edition von Goethes Tagebüchern im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar.


[1] Die Werke Schlegels werden zitiert nach: Schlegel, Friedrich: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. v. Ernst Behler u. a. Paderborn u. a. 1958 ff. (im Folgenden: KFSA), hier Bd. 12, S. 89.

[2] KFSA 18, S. 86, Nr. 673.

[3] KFSA 2, S. 185, Nr. 125.

[4] KFSA 2, S. 285.

[5] August Wilhelm Schlegel an Schleiermacher, 16.6.1800.

[6] KFSA 2, S. 265, Nr. 93.

[7] KFSA 2, S. 181, Nr. 112.

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