02 Aug

Seid einfach unbequem

Christoph von Eichhorn (München)


„Die Beschäftigung ist rauf, die Steuern sind runter. Viel Spaß!“ twitterte US-Präsident Donald Trump kürzlich („Employment is up, Taxes are DOWN. Enjoy!“). Alles bestens, genießt es doch einfach! Maximale Vereinfachung und Verkürzung. Maximale Wirkung. Vereinfacher wie Trump haben weltweit gerade Erfolg. Aber es geht um mehr als um den Vormarsch von Populismus. Die Vereinfachung selbst ist auf dem Vormarsch. Trumps Tweets sind sicher kein Brunnen der Weisheit. Aber sie zeigen, dass wir in einem Zeitalter der großen Vereinfachung und Verkürzung leben.

Als Online-Journalist kenne ich das Leseverhalten unseres Publikums: Etwa die Hälfte der Leser fängt – im Durchschnitt – gar nicht erst an, einen Text zu lesen, nachdem sie darauf geklickt hat. Gesichert weiß ich das natürlich nur von meinen eigenen Kanälen. Doch man kann vermuten, dass es woanders ähnlich ist. Wenn Sie diesen Text bis hierhin gelesen haben, gehören sie also bereits zu einer Minderheit, einem exklusiven Club. Komplexe Gedanken sind vor allem in sozialen Netzwerken eher schwierig zu vermitteln. Statt langer Texte ist es häufig wirkungsvoller, eine Kernaussage oder das wichtigste Zitat zu posten, oder gleich ein Bild oder Meme.

Wie kann die Philosophie sich in einem Zeitalter der Vereinfachung behaupten? Wie kann sie sich überhaupt noch Gehör verschaffen in der Öffentlichkeit? Sollte sie ebenfalls vereinfachen, um Wirkung zu erzielen? Oder sollten Philosophen eher das Gegenteil tun: Lange Essays schreiben statt Posts auf Facebook. Oder in Fachjournalen komplexe Argumentationen führen, statt sich in Talkshows zu setzen und kamerataugliche Sätze zu sagen.

Beides birgt für sich betrachtet Risiken. Eine Über-Simplifizierung kann dazu führen, wissenschaftliche Standards zu verwässern oder aufzugeben. Wer zu stark vereinfacht, wird zu einem Pop-Philosophen, der dann möglicherweise gern in Talkshows eingeladen wird, aber in akademischen Kreisen nichts mehr gilt. Der Status der Philosophie als Wissenschaft ist ohnehin prekär, eine zu starke Popularisierung könnte den Wissenschaftscharakter aushöhlen. Aber auch die gegenteilige Strategie ist für die Philosophie insgesamt betrachtet riskant. Wenn die Disziplin die neuen Medien als oberflächlich verschmäht, statt damit zu arbeiten, läuft sie Gefahr, für weite Teile der Öffentlichkeit irrelevant zu werden. Im Medienjargon gesagt: Man findet nicht mehr statt. Wer Philosophie auch nur zu einem kleinen Teil als Dienst an der Gesellschaft begreift, kann das nicht wollen.

Aber vielleicht sind die Gegensätze zwischen diesen beiden Positionen auch gar nicht so groß. Zunächst sollte man bedenken, dass Komplexitätsreduktion der Philosophie überhaupt nicht fremd ist. Beispielsweise ist die Geschichte der Logik in weiten Teilen der Versuch, die Komplexität von Sprache und Argumenten auf einige Grundregeln zu reduzieren, eine universelle Ursprache, eine characteristica universalis (Leibniz) zu finden, in der sich alles ausdrücken lässt. (Logiker werden an dieser Stelle aufschreien, da diese Zusammenfassung natürlich selbst eine ungeheure Vereinfachung ist.) Auch Philosophen, die sich mit der Ethik beschäftigen, suchen im Wesentlichen nach guten, möglichst grundlegenden Regeln, um das menschliche Zusammenleben einfacher zu machen.

Man kann also argumentieren, dass Vereinfachung, darunter verstehe ich die Suche nach einfachen Mustern innerhalb von komplexen Zusammenhängen, zum Kerngeschäft der Philosophie gehört. Es ist richtig, diese Suche fortzusetzen, und es wäre zu einfach, gegen Vereinfachung an sich zu sein. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Philosophen, die nach Einfachheit streben, und Vereinfachern eines Schlags wie Donald Trump.

Widersprüche produzieren statt Lösungen

Anhaltspunkte dafür liefern wieder Trumps Tweets, in denen er gegen die „verbrecherische“ (crooked) Hillary Clinton, den „lügenden“ Ex-FBI-Chef James Comey, die „scheiternde“ (failing) New York Times oder allgemein die „Fake News Media“ hetzt. Es ist ein geschlossenes Weltbild, dass die Umwelt in Freund und Feind einteilt. Es lässt keinen Spielraum für Zweifel, für neue Einflüsse, für Kritik. Vor allem ist es ein Weltbild, das nur einfache Lösungen produziert. Das Einwanderungssystem ist fehlerhaft? Wir bauen eine Mauer (aus Stein). Arbeitsplätze in der Industrie gehen verloren? Wir bauen eine Mauer (aus Zöllen). Der Iran strebt nach der Bombe? Wir bombardieren Iran.

Zum Vergleich einige Beispiele aus der Philosophie. Die einfachen Lösungen, die diese Disziplin jemals hervorgebracht hat, haben sich als bemerkenswert störrisch erwiesen. Als Gottlob Frege meinte, er habe die Mathematik auf ein festes logisches Fundament gestellt, entdeckte Bertrand Russell plötzlich Widersprüche, die sich nicht mehr beseitigen ließen. Die Russellschen Antonomien wuchsen sich bekanntlich zu einem Grundlagenstreit über die Natur der Mathematik aus, zur Frage, inwieweit Zahlen überhaupt objektiv existieren oder nur freie Konstruktionen des Geistes sind. Als die Positivisten des Wiener Kreises Anfang des 20. Jahrhunderts die Metaphysik durch eine logische Analyse der Sprache überwinden wollten, produzierten sie mit ihren Lösungen auch neue Widersprüche, und eine feste Grundlegung der modernen Wissenschaft schien ferner als zuvor. Auch in der Ethik gibt es häufig Regeln, die miteinander in Konflikt stehen und zu neuen moralischen Dilemmata führen. Von Jean-Paul Sartre stammt ein bekannter solcher Fall, der ihm von einem französischen Studenten zugetragen wurde: Der Student hat im Krieg seinen Bruder verloren, nun erwägt er, in die Resistance einzutreten und die Nazis zu bekämpfen. Er sieht es als moralische Pflicht, sein Heimatland zu befreien. Zugleich ist da jedoch seine Mutter, um die er sich kümmern muss. Beide moralische Pflichten – die Fürsorge für die Mutter und der Kampf gegen die Unterdrücker – lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Was tun?

Die Lösungen, die aus der Philosophie kommen, sind also im Idealfall keine Lösungen, sondern nur der Ausgangspunkt für neue Fragen. Anders ausgedrückt: Während Populisten die Lösungen vereinfachen, vereinfachen Philosophen die Fragen.

Daraus lässt sich eine Strategie für die Öffentlichkeit ableiten. Wenn Philosophen öffentlich in Erscheinung treten, sollten sie nicht so tun, als hätten sie die eine Lösung für alles, sondern sie sollten vor allem neue Fragen stellen, an die vorher noch niemand gedacht hat. Die vermeintlichen Lösungen der Populisten wiederum können sie als widerspruchsvoll entlarven und diese damit bloßstellen. Philosophen sollten auf diese Weise konstruktiven Unfrieden stiften.

Für die Gesellschaft, die häufig an schnellen Antworten interessiert ist, ist das eine Herausforderung: Angenommen, da setzt sich jemand in eine Talkshow zur Flüchtlingspolitik, ohne selbst einen Lösungsvorschlag zu haben. Was soll das bringen?

Im besten Fall kann das Aufdecken von Widersprüchen und das Formulieren von Fragen sehr kreativ sein. Viele Fortschritte in der Philosophie sind überhaupt erst passiert, weil vorher Ratlosigkeit und Verzweiflung herrschten, die schließlich in etwas Neues mündeten. Der Grundlagenstreit in der Mathematik führte schließlich zur Emanzipation des Fachs von den Naturwissenschaften. Das moralische Dilemma des fürsorglichen Soldaten löste Sartre auf, indem er diesem riet: Entscheide selbst, dadurch realisierst du deine Freiheit! Mit solchen Beispielen begründet Sartre den Existentialismus.

Im besten Fall kann es also sehr kreativ sein, Unfrieden zu stiften, gerade im Zeitalter der Digitalisierung. Die ganze Kultur des Silicon Valley ist durchdrungen von der Vorstellung der kreativen Zerstörung, bei der etwas Altes angegriffen wird um etwas gänzlich Neues zu schaffen. Das Vorbild, das Philosophen sich nehmen können, ist die Figur des Hackers, der nach Schwachstellen in Systemen sucht, um diese zu überwinden.

Die Taktik, konstruktiven Unfrieden zu stiften, hat einen weiteren Vorteil. Sie ist relativ unabhängig vom Medium und eröffnet Philosophen damit die Chance, medial aufzurüsten. Der offene Charakter einer Frage oder eines Paradoxons lässt sich auch auf Youtube, Twitter oder sogar in Comicform darstellen. Formate wie 8bit Philosophy oder existentialcomics.com sind gute Beispiele hierfür.

Dem geschlossenen und sehr klaren Weltbild der Populisten kann man so eine offene, unbequeme, aber auch häufig rätselhafte Sichtweise entgegensetzen, die Menschen selbst zum Denken herausfordert, statt sie mit allzu billigen Lösungen abzuspeisen.


Christoph von Eichhorn, geb. 1987, ist Wissenschaftsjournalist und leitet das Online-Team der Wissensredaktion der Süddeutschen Zeitung. Er hat Wissenschafts- und Technikphilosophie an der TU München studiert und mit der Arbeit “Bitcoin und die Eliminierung des Vertrauens: Die Auswirkungen der Blockchain-Technologie auf einen fundamentalen Wert in Wirtschaft und Gesellschaft” abgeschlossen. Seine Themenschwerpunkte als Redakteur sind unter anderem Umwelt, Nachhaltigkeit, Energie und Ingenieurwissenschaften. Auslandsaufenthalte als Reporter im Silicon Valley und als “Medienbotschafter” der Robert-Bosch-Stiftung in China.

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