10 Mai

Populismus, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

von Norbert Paulo (Salzburg und Graz)


Inzwischen ist es eine allzu vertraute Taktik populistischer Politiker_innen zu suggerieren, sie wären im alleinigen Besitz der Wahrheit. Wer sich erlaubt, diese Wahrheit anzuzweifeln, wird nicht etwa argumentativ überzeugt, sondern abgewertet oder gar zum Feind erklärt. So sind Politiker_innen oder Geheimdienste, die anderer Meinung sind, Teil der „Elite“ oder des „Systems“ und damit per se unglaubwürdig. „Sogenannten“ Richter_innen oder Expert_innen wird unterstellt, nicht unabhängig nach Rechtsstaatlichkeit oder Erkenntnis zu streben, sondern eine eigene politische Agenda zu verfolgen. Wenn Medien die Vorschläge von Populist_innen kritisieren, werden sie schnell zu „Feinden des Volkes“ erklärt. Mit einer solchen Taktik immunisieren sich Populist_innen gegen Kritik: Wenn „sogenannte“ Richter_inner den US-Präsidenten daran hindern, das Land gegen die Einreise von Muslim_innen zu schützen, dann sind sie auch verantwortlich für den nächsten (islamistischen) terroristischen Anschlag. Schließlich wäre der Anschlag nicht passiert, hätten die Gerichte den Präsidenten nicht behindert. So jedenfalls wird Donald Trump es darstellen – und damit die Gerichte weiter schwächen, wie er es mit der restlichen Justiz auch tut.

So zu tun, als wäre man im alleinigen Besitz der Wahrheit, widerspricht einer Grundannahme des Liberalismus. Der Philosoph John Rawls hat diese Grundannahme so formuliert, dass es (nur) in Wertfragen einen vernünftigen Dissens gibt. Faktische Fragen kann man grundsätzlich empirisch klären. Wenn Studien zeigen, dass die Kriminalitätsrate in den letzten Jahren gesunken ist, dann kann man nicht mehr vernünftig das Gegenteil behaupten. In Wertfragen gilt das nicht. Auch wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, kann man sich vernünftigerweise darüber streiten, ob man mehr oder weniger Immigration zulassen soll. Die Taktik der Populist_innen widerspricht der Annahme, dass vernünftigerweise mehrere Ansichten über Wertfragen vertretbar sind. Das ist illiberal.

Nun könnte man sagen, dass es nicht sonderlich wichtig ist, ob das Vorgehen der Populist_innen liberal ist oder nicht, schließlich gehen sie endlich die Probleme an, die „die Eliten“ zu lange vernachlässigt haben. Man könnte also hoffen, dass sie eine für unsere Zeit richtige Politik machen, sei sie auch illiberal. Tatsächlich ist aber die Wahrscheinlichkeit gering, dass Populist_innen richtige Politik machen. Sie stellen nämlich nicht nur die liberale Annahme in Zweifel, dass es in Wertfragen vernünftigen Dissens gibt. Sie bezweifeln auch, dass man faktische Fragen grundsätzlich klären kann. Begriffe wie „postfaktisch“ oder „alternative Fakten“ sind inzwischen Teil des alltäglichen Sprachgebrauchs, und der Weg hin zu Verschwörungstheorien ist auch nicht weit. Aus dem rhetorischen Repertoire von Populist_innen sind die Bezeichnungen „Fake News“ und „Lügenpresse“ nicht mehr wegzudenken. Hinreichend bekannt dürften bspw. Donald Trumps Überzeugungen sein, dass bei seiner Amtseinführung mehr Zuschauer anwesend waren, als bei denen Barack Obamas, oder dass es massenhaften Wahlbetrug gegeben und er nur deswegen nicht die Mehrheit der Wählerstimmen erreicht habe. Auf einer Veranstaltung in Florida hat er letztes Jahr einer großen Gruppe Unterstützer_innen geschworen, von ihm – und nur von ihm – würden sie die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu hören bekommen. Tatsächlich hat er sodann einen Terroranschlag in Schweden erfunden. So etwas mag man als merkwürdig aber unwichtig abtun. Bedeutender ist, was der einflussreiche republikanische Politiker und Wahlkampfberater Trumps, Newt Gingrich, in einem Fernsehinterview mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit gesagt hat: Für die Politik ist nicht relevant, wie die Kriminalitätsrate sich tatsächlich entwickelt hat. Relevant ist allein, welchen Eindruck „die Leute“ haben. Wenn diese sich bedroht fühlen und den Eindruck haben, dass es immer mehr Kriminalität gibt, dann ist das – und nicht die von „sogenannten“ Expert_innen ermittelte Entwicklung der Kriminalitätsrate – die Grundlage für politische Arbeit.

Dass Populist_innen mit geringerer Wahrscheinlichkeit richtige Politik machen, liegt nicht daran, dass sie mehr lügen als andere Politiker_innen. Der Grund ist vielmehr, dass sie systematisch die Elemente liberaler Demokratien umgehen oder unterminieren, die die Wahrscheinlichkeit für faktische Richtigkeit erhöhen. Wie der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller herausgearbeitet hat, ist der Kern des Populismus der unverrückbare Anspruch, allein für das Volk zu sprechen: „Wir – und nur wir – vertreten das wahre Volk“. Dieses eine wahre Volk hat offenbar einen klaren und einheitlichen Willen. Populist_innen fragen allerdings niemanden nach diesem Willen; sie geben schlicht vor, ihn schon zu kennen. Wer diesen vorgeblichen Willen nicht hat, gehört nicht zum wahren Volk, bei dem allein – jedenfalls nach dem Demokratieverständnis der Populist_innen – die Staatsgewalt liegen soll. Dieser Anspruch, allein für das Volk zu sprechen, ist nur durch direkte und einseitige Kommunikation mit dem Volk aufrecht zu erhalten. Er passt nicht zur Rolle der Medien als vierte Gewalt. Twitter ist für Populist_innen das perfekte Medium, gerade weil es die Botschaft direkt und ungefiltert an die Empfänger_innen übermittelt. Klassische Medien wie Zeitungen, Fernseh- und Radiosender beschäftigen Journalist_innen, deren ureigene Aufgabe es ist, Nachrichten zu filtern. Es besteht immer die Gefahr, dass sie nicht über das berichten, was Politiker_innen gerne in den Nachrichten sehen würden. Spitzenpolitiker_innen reden fast jeden Tag ausgiebig öffentlich vor Medienvertretern (eine interessante Ausnahme bildet die neue österreichische Regierung, die aktiv „Message Controlling“ betreibt) und geben Pressemitteilungen heraus. In die Tagesschau schafft es aber lediglich ein Ausschnitt von wenigen Sekunden – wenn es gut läuft. Jemand wie Trump erreicht mit einem Tweet direkt mehr 51 Millionen Follower (zum Vergleich: die Tagesschau sehen zwischen 6 und 9 Millionen Menschen), bevor die klassischen Medien mit ihrer Tweet-Exegese beginnen und so die Nachricht noch weiterverbreiten. Wie man letztes Jahr an dem nicht weiter untermauerten Vorwurf, Obama hätte Trump vor der Wahl abhören lassen, beobachten konnte, generieren bloße Gerüchte als Tweet verbreitet ein erhebliches Medienaufkommen. Ganz ähnlich ist es auch bei dem vermeintlichen Abhörskandal „Wanzengate“ gewesen, den Österreichs frisch gebackener FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache gegen sich gewittert hat. Eine Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den in seinem neuen Büro gefundenen „Wanzen“ um jahrzehntealte Lautsprecher und Kabel handelte, die ehemals dem Mithören von Parlamentssitzungen dienten (lange bevor diese im Fernsehen oder gar im Internet überragen wurden). Da nun aber alle klassischen Medien darüber berichteten, fühlten sich beide Geschichten für viele an wie richtige Nachrichten. Auch wenn sich die Anschuldigungen später als falsch erwiesen haben, bleiben sie im Hinterkopf und spielen in der politischen Willensbildung eine Rolle, weil die Richtigstellung fast nie so dominant ist wie der vermutete Skandal. Schon George Washington wusste: „When one side only of a story is heard and often repeated, the human mind becomes impressed with it insensibly.” Das ist die Strategie der Populist_innen: Ihre Geschichte soll wieder und wieder erzählt werden; davon Abweichendes wird nach Möglichkeit unterdrückt oder diskreditiert.

Die Umgehung der klassischen Medien macht es aber nicht nur wahrscheinlicher, dass bloße Gerüchte wie echte Nachrichten diskutiert werden. Das Vorgehen Trumps und anderer Populist_innen macht es für die klassischen Medien auch schwer, ihre zweite Kernaufgabe zu erfüllen, nämlich faktische Hintergründe aufzuklären, Fehler aufzudecken und verschiedene Meinungen ausgewogen darzustellen. Wer abweichende Meinungen darstellt, ist aus Sicht der Populist_innen gegen „das Volk“. Wer Fehler aufdeckt, gehört zur „Lügenpresse“. Die Struktur ist immer dieselbe: Die Wahrheit steht bereits fest; Zweifel daran sind unerwünscht. Anders als der Liberalismus es voraussetzt, gibt es für Populist_innen keine Trennung zwischen faktischen Fragen und Wertfragen. Es gibt nur noch Wertfragen. Die Antwort auf Fragen nach dem anthropogenen Klimawandel, der Kriminalität von Migrant_innen oder der Anzahl der Teilnehmer_innen an einer Veranstaltung kann nicht unabhängig vom politischen Standpunkt gegeben werden. Es gibt keine unabhängigen Expert_innen. Es gibt auch keine unabhängigen Medien. So sehen es Populist_innen.

Ein weiterer Garant für empirische Angemessenheit ist normalerweise der demokratische Gesetzgebungsprozess, der auf komplizierten Prozeduren, der Beteiligung von Betroffenen und der Konsultation mit Experten beruht. Dieser Prozess ist zwar langwierig und führt oft nur zu Kompromissen. Er hat aber den großen Vorteil, dass in ihm mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit zumindest faktische Fehler erkannt und korrigiert werden können. Es sind schlicht so viele Fachpolitiker_innen, hochspezialisierte Ministerialbeamte, NGOs und andere externe Expert_innen beteiligt, dass man schwerlich ein Gesetz durchbringen kann, das auf faktisch falschen Annahmen beruht. Kurz: Das demokratische Verfahren wirkt rationalisierend, auch wenn man sich über Wertfragen weiter streiten mag. In Schmitt‘scher Manier werden solche Debatten als Schwäche angesehen und ein Dezisionismus gefeiert. Kürzlich musste Sebastian Kurz vom Parlamentspräsidenten (der eigenen Partei) an daran erinnert werden, dass seine Regierung das Parlament nicht vollends vernachlässigen darf.

Populist_innen ziehen also die direkte Kommunikation mit dem Volk vor und halten nicht viel von parlamentarischen Debatten. Das gesetzgeberische Äquivalent zu Twitter ist das Regieren per Dekret, das Donald Trump in seiner bisherigen Amtszeit zelebriert hat. Liberale Demokratien lassen diese Art des Regierens üblicherweise nur in Zeiten nationalen Notstands zu, weil das Regieren ohne Parlament und demokratisches Verfahren mit offensichtlichen Gefahren verbunden ist. Wer per Dekret regiert, kann sich gerade nicht auf die rationalisierende Funktion demokratischer Verfahren verlassen. Er macht mit höherer Wahrscheinlichkeit faktische Fehler.

Populist_innen wie Trump mögen also Probleme angehen, die „die Eliten“ zu lange vernachlässigt haben. Sie mögen auch sehr viel effektiver durchsetzen, was sie für richtig halten, als es Politiker_innen vom Schlage Angela Merkels tun. Man sollte aber klar sehen, wie sie das erreichen. Sie betreiben einen illiberalen Politikstil, mit dem sie systematisch viele der in einer Demokratie vorgesehenen Mittel der Rationalisierung umgehen. Dieser Politikstil macht es unwahrscheinlicher, dass sie in faktischen Fragen richtig liegen, weil sie sich der Mittel berauben, zu richtigen faktischen Überzeugungen zu kommen und Fehler zu korrigieren. Insofern ist es auch unwahrscheinlicher, dass Populist_innen richtige Politik machen. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit hat man von liberalen Demokrat_innen eher zu erwarten als von Populist_innen.


Norbert Paulo ist Post-Doc am Institut für Philosophie der Karl-Franzens-Universität Graz und am Fachbereich für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Salzburg. Außerdem ist er Fellow des „jungen ZiF“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF, Universität Bielefeld).

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