22 Mai

Pluralismus, die Wiege des Populismus? Plädoyer für einen institutionellen Kosmopolitismus

von Volker Kaul (Rom)


Ich möchte hier folgende Fragen untersuchen: Könnte es sein, dass der von Liberalen letztens so sehr gepreiste Pluralismus die Fundamente für den allseits gefürchteten Populismus gelegt hat? Könnte es sein, dass gerade der Wertepluralismus, d.h. die Zuschreibung moralischen Gehalts an unterschiedliche Weltsichten und Lebensformen, verantwortlich für das Entstehen des Populismus ist?

Die Frage, der ich hinterhergehe, ist also nicht jene, die viele der derzeitigen Analysten des Populismus beschäftigt, nämlich ob Populismus mit Pluralismus vereinbar ist. Ich glaube, dass Jan-Werner Müller in dieser Hinsicht völlig recht hat und dass „the core claim of populism is a moralized form of antipluralism.“[1] Von Ungarn, Polen bis Italien, um nur einige Länder aus heimischeren Gefilden zu nennen, in denen Populisten eine Regierungsmehrheit haben, stellen diese, egal welcher Couleur sie angehören, zentrale Elemente jeder liberalen Demokratie wie Toleranz, Offenheit, Meinungs- und Pressefreiheit und Unabhängigkeit der Justiz radikal in Frage.

Die Frage, die mir unter den Nägeln brennt, ist hingegen, ob der von Müller und anderen viel beschworene Pluralismus als Gegenmittel zum Populismus wirklich eine Lösung darstellt oder vielmehr Teil des Problems ist. Es macht sich gerade in den Sozial- und Politikwissenschaften eine These breit, der zufolge der Liberalismus so wie er in den letzten drei bis vier Jahrzehnten verstanden und praktiziert wurde, zum Entstehen des Populismus beigetragen hat. In der derzeitigen Sonderausgabe der Zeitschrift Philosophy & Social Criticism (44 (4)) über “The Populist Upsurge and the Decline of Diversity Capital”, die ich zusammen mit Alessandro Ferrara und David Rasmussen herausgegeben habe, sind sich politische Theoretiker aus unterschiedlichsten Richtungen, wie Michael Sandel, Akeel Bilgrami oder Albena Azmanova, darüber einig, dass die neoliberale Öffnung der Märkte und Technokratisierung der Politik unzweifelhaft den Populismus befördert haben.

Michael Sandels Analyse des Populismus ist in dieser Hinsicht besonders deutlich.[2]  Sandel zeigt mit größter Scharfsicht, wie der liberale Pluralismus, d.h. die Annahme einer Vielzahl von individuellen moralischen und ethischen Werten, die untereinander nicht unbedingt vereinbar sind, untrennbar mit dem Neoliberalismus verbunden ist. Nur der offene Markt und eine rein auf Prozeduren basierte und Neutralität ausgerichtete Politik seien in der Lage, die unterschiedlichsten Verständnisse des Guten miteinander in Einklang zu bringen. Um Sandels Analyse auf ein sehr aktuelles Beispiel umzumünzen, so ist es alles andere als ein Zufall, dass die Europäische Union politikfremd und gleichzeitig marktfixiert ist.

Dementsprechend schlägt Sandel als Lösung des Problems des Populismus vor, nationale Identität wieder als zentralen Bestandteil der Politik zu machen. Politik und das Gemeinwesen seien nichts anderes als die Antwort auf die Frage nach dem guten Leben.

Obwohl ich Sandel zustimme, dass liberaler Pluralismus den Neoliberalismus nach sich zieht, glaube ich doch, dass dessen wahres Problem ganz woanders liegt, ein Problem übrigens, demgegenüber der Kommunitarismus durchaus nicht immun ist. Der Markt ist weniger Problem als Möglichkeit, wie die starke Reduzierung der globalen Armut in den letzten Jahrzehnten der Globalisierung zeigt.[3] Die Technokratisierung der Weltpolitik, Stichwort Washington Consensus, ist nicht ein Problem, weil sie demokratiefeindlich ist, wie viele insbesondere kritische Theoretiker glauben, sondern weil sie gezielt die Institutionen des Staates geschwächt hat. Und hier wären wir dann auch beim wirklichen Problem des Pluralismus: Pluralismus macht die Regierung des Menschen unmöglich und öffnet daher, pace Müller, dem Populismus Tür und Tor.

Dem Pluralismus liegt in der liberalen als auch kommunitaristischen Interpretation ein gewisses Menschenbild zugrunde. Pluralisten gehen davon aus, dass Menschen autonome Personen sind. Persönliche Autonomie setzt voraus, dass Menschen in der Lage sind, sich bestimmte Prinzipien anzueignen und ihnen entsprechend zu handeln. Obwohl sich Liberale und Kommunitaristen über den Ursprung des Inhalts der jeweiligen Prinzipien uneinig sind – Liberale sehen diesen im Individuum, Kommunitaristen hingegen in der Gemeinschaft –, stimmen beide politische Theorien darüber hinein, dass, erstens, die Menschen nicht Teil der Natur sind und, zweitens, dass die Prinzipien nach den die Menschen leben nicht unbedingt eine epistemologische Komponente haben und den Anspruch der Objektivität erfüllen müssen.[4] Insoweit das Individuum als auch die Gemeinschaft Ursachen in sich selbst sind, ist der Pluralismus als Wertekonzept größtenteils faktenunabhängig und zumindestens in dieser Hinsicht mit dem Populismus vergleichbar.

Nun könnte man natürlich entgegnen, dass zu mindestens John Rawls in Political Liberalism den Pluralismus über die Bedingung der Vernünftigkeit stark begrenzt, dort wo Kommunitaristen nicht unähnlich den Populisten in reine Willkür abzudriften drohen. Es bleibt jedoch bei der Tatsache, dass die Autonomie der Menschen den politischen Spielraum liberaler öffentlicher Institutionen stark beschränkt. Im Grunde genommen kann der liberale Staat nicht viel mehr als die formale Freiheit der Menschen garantieren, eine Freiheit von der die Reichen und Starken in der Gesellschaft sicherlich profitieren, die den Armen und Schwachen aber nur bedingt zugute kommt.

Im Zeitalter der Globalisierung und offenen Märkte hat dies zur Folge, dass insbesondere die unteren Schichten sich vom Staat und der Politik im Stich gelassen fühlen. Sie wären auf die Intervention von starken staatlichen Institutionen angewiesen, um auf dem Weltmarkt erfolgreich zu konkurrieren. Da sich nun aber die Linke die pluralistische Weltsicht weitgehend zu eigen gemacht hat und damit einhergehend die Idee der Gleichheit immer weiter verblasste, ist den „Verdammten dieser Erde“ letztlich wenig anders übrig geblieben, als sich in die Hände der Populisten zu begeben, um ihre verlorene Ehre wiederzugewinnen.

Wie kann man dann heute dem Populismus entgegentreten? Wie ich es oben schon erwähnt habe, kann sich die Welt angesichts der noch immer hohen globalen Armut keinen neuen Protektionismus leisten. Darüberhinaus kann man globale Märkte auch nicht auf staatlicher, sondern nur auf überstaatlicher, eben globaler Ebene lenken und regieren. Was man der Linken im Nachhinein vorwerfen muss, ist nicht, dass sie die Liberalisierung Clintons, Blairs und Schröders unterstützt haben, sondern dass sie weiterhin dem nationalen Wohlfahrtsstaat vertraut und verpasst hat, ein globales institutionelles Gerüst aufzubauen, das in der Lage ist, wirtschaftliche sowie finanzielle Ungleichgewichte und soziale Ungleichheiten zu bekämpfen.[5] Diese letztere Position ließe sich mit dem Begriff institutionellem Kosmopolitismus umschreiben und würde im Konkreten viele von Emmanuel Macrons EU-Reformvorschlägen aufgreifen als auch versuchen, ähnliche Politiken auf globaler Ebene voranzutreiben.[6]

Ein wohlverstandener Liberalismus sieht persönliche Autonomie nicht als Ausgangspunkt jeder möglichen Politik, sondern als Zielvorgabe an. Dies setzt gleichzeitig ein empiristisch-psychologisches und kein idealistisch-transzendentales Menschenbild voraus, d.h. weniger Kant und Hegel und mehr Hume und Marx.


Volker Kaul ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Ethics and Global Politics an der LUISS ‚Guido Carli‘ Universität in Rom und Dozent am CEA Rome Center. Darüber hinaus arbeitet er als wissenschaftlicher Koordinator der Istanbul/Venice Seminars für die Stiftung Reset-Dialogues on Civilizations. In seiner Forschung beschäftigt er sich mit dem Problem der Identität in der Politik. Er hat zusammen mit Seyla Benhabib ein Buch mit dem Titel „New Democratic Imaginaries – Istanbul Seminars on Islam, Culture and Politics“ (2016) herausgegeben. Derzeit arbeitet er zusammen mit Ananya Vajpeyi an einem Buch über „Minorities and Populism“ und mit Ingrid Salvatore an einem Band über „What is Pluralism? The Question of Pluralism in Politics“.

Endnoten

[1] Jan-Werner Müller, What is Populism?, Philadelphia (PA), University of Pennsylvania Press, S. 20.

[2] Michael J. Sandel, „Populism, Liberalism, and Democracy“, in Philosophy & Social Criticism 44 (4), S. 353-359. Sonderausgabe über “The Populist Upsurge and the Decline of Diversity Capital. Reset DOC Seminars 2017,” herausgegeben von Alessandro Ferrara, Volker Kaul und David Rasmussen.

[3] Siehe http://www.worldbank.org/en/topic/poverty.

[4] John Rawls (1993), Political Liberalism, New York (NY), Columbia University Press, S. 56 f. und Charles Taylor (1995), “Overcoming Epistemology”, in Philosophical Arguments, Cambridge (MA), Harvard University Press, S. 1-19.

[5] Siehe dazu auch den aktuellen Beitrag von Rana Dasgupta, “The Demise of the Nation State”, in The Guardian, 5. April, 2018 (https://www.theguardian.com/news/2018/apr/05/demise-of-the-nation-state-rana-dasgupta).

[6] Für einschlägige Vorschläge siehe insbesondere Joseph Stiglitz (2007), Making Globalization Work, New York (NY), W. W. Norton & Company; Antonio Badini (2016), The Changing Process of Globalization, Rome, LUISS University Press.

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