16 Aug

Hannah Arendt und das „postfaktische Zeitalter“

von Judith Zinsmaier (Tübingen)


Mit dem 2016 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres gewählten Begriff „postfaktisch“ soll dieser zufolge eine Situation beschrieben werden, in der sich die politischen Debatten nicht mehr an Fakten und Wahrheiten orientieren, sondern an Emotionen. Nicht das Aussprechen der Wahrheit, sondern dasjenige der ‚gefühlten Wahrheit‘ führe im „postfaktischen Zeitalter“ zum Erfolg.[1]

Unabhängig davon, ob es wirklich gerechtfertigt ist, von einem neuen „Zeitalter“ der Postfaktizität zu sprechen, ist der Gebrauch von Lügen und Unwahrheiten als Mittel in der politischen Auseinandersetzung doch ein im Zusammenhang mit dem Erstarken rechtpopulistischer Parteien in nahezu allen westlichen Demokratien zu beobachtendes Phänomen.

In Bezug auf die tiefergehende Reflexion dieses Phänomens in den Medien sind zwei Motive bestimmend: Während die einen in Anbetracht der Allgegenwart von Lügen und Unwahrheiten eine Rückkehr hin zu Fakten und Wahrheiten fordern[2], erwidern andere, diese Forderung sei Ausdruck eines „naive[n] Realismus“[3]. Schließlich gebe es die hier beschworenen interpretationsfreien Fakten und Wahrheiten überhaupt nicht. In der Verwendung des Begriffes „postfaktisch“ wird in diesem Zusammenhang teilweise sogar eine (Macht-)strategie gesehen: „Sie [die Rede von postfaktischer Politik, J.Z.] beschwört Faktengläubigkeit, indem sie bei den angeblich postfaktisch Denkenden den Mangel an Realismus beklagt“[4].

Beides ist aus meiner Sicht für sich unzureichend. So verkennt der Vorwurf eines naiven Realismus einen zentralen Punkt: Selbst unleugbare und mit allen fünf Sinnen zu verifizierende Tatsachen – und auch, wenn ihre Menge kleiner ist, als man gemeinhin denken könnte, gibt es diese durchaus – werden heute teilweise abgestritten. Ein markantes Beispiel: die Auseinandersetzung um die Menge der bei der Amtseinführung von Trump versammelten Menschen. Obwohl auf Luftaufnahmen eindeutig zu sehen war, dass hier deutlich weniger Zuschauer*innen anwesend waren als bei der Amtseinführung von Obama 2009, behaupteten Trump und sein Pressesprecher Sean Spicer das Gegenteil. Die Warnung vor einem naiven Realismus muss zwar durchaus ernstgenommen werden, darf aber nicht dazu führen, dass auch solche Tatsachen der Beliebigkeit preisgegeben werden.

Tatsächlich greift aber auch der bloße Ruf nach einer Rückkehr zu Fakten und Wahrheiten zu kurz. Denn obwohl Fakten und Wahrheiten für politisches Handeln immanent wichtig sind, bildet das eigentlich Spezifische des Politischen die Vielfalt der Meinungen. Mit Blick auf genuin politische Fragestellungen – was wir aus bestimmten Fakten folgern, welche Wertmaßstäbe wir dabei zugrunde legen etc. – gibt es die Wahrheit nicht. Wir sollten die Verleumdung und Verdrehung von Tatsachen also sehr ernst nehmen, diese aber mit Blick auf die Meinungsvielfalt als Fundament allen politischen Handelns diskutieren.

Wichtige Impulse kann hier Hannah Arendt liefern, auf die ich mich im Folgenden beziehen werde. In ihrem auf Deutsch und in seiner überarbeiteten Fassung erstmals 1969 veröffentlichten Essay „Wahrheit und Politik“ hat sie sich u.a. dezidiert mit der Problematik der Allgegenwart der Lüge im Bereich des Politischen beschäftigt[5].

Arendts allgemeine Konzeption politischen Handelns widersetzt sich ausdrücklich einer Ausrichtung allein an Fakten und Tatsachen oder gar an gänzlich außerhalb des Politischen liegenden Wahrheiten wie den philosophischen Wahrheiten im platonischen Idealstaat oder auch religiösen Wahrheiten. Beides hat für sie mit genuin politischem Handeln nichts zu tun.

Denn politisch zu handeln heißt für sie gerade nicht, bereits festgelegte Zwecke einfach nur noch umzusetzen. Wer dies glaubt, der ersetzt aus Arendts Sicht Handeln durch Herstellen und damit durch eine Tätigkeit, die der Pluralität als Grundbedingung des Politischen nicht gerecht wird[6]. So bedeutet Pluralität auch eine Pluralität der Perspektiven auf die Gestaltung der gemeinsamen Welt. Und darüber – das ist Arendts tiefe Überzeugung – muss sich eine Gemeinschaft permanent neu verständigen und streiten – Arendt versteht politisches Handeln als ein durchaus antagonistisches Unterfangen.

Nicht die Wahrheit, sondern die Vielfalt der Meinungen ist für Arendt daher das, was das Politische im Kern ausmacht. In “Wahrheit und Politik” schreibt sie, dass „die Diskussion, der Austausch und Streit der Meinungen […] das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus[macht]“[7]. Sie unterscheidet hier zwischen der „überzeugende[n]“ Natur von Meinungen und der „zwingende[n] Natur“ von Tatsachen und Wahrheiten[8]. Auch ihr nicht-zwingender Charakter verbinde die Meinungen mit dem politischen Handeln. Denn das unter der Bedingung der Pluralität stehende politische Handeln ziele stets auf eine Veränderung des Bestehenden ab. Und indem Meinungen versuchen zu überzeugen, tun sie genau das: Sie stellen bestehende Zustände oder andere Meinungen in Frage, um sie zu verändern.

Die Wahrheit kundzutun ziele dagegen nicht schon per se auf eine Veränderung des Bestehenden ab. Arendt nennt allerdings eine Ausnahme: Wenn Lügen vorherrschen, kann das Aussprechen der Wahrheit selbst schon Ausdruck politischen Handelns sein: „Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte“[9].

Dennoch lässt sich im Anschluss an Arendts Politikverständnis unter Rückgriff auf Tatsachen und Wahrheiten allein grundsätzlich nicht politisch handeln. Das heißt: Wo – wie heute so häufig – Sachzwangargumente, Alternativlosigkeit und Technokratie vorherrschen, da hat Politik aufgehört im eigentlichen Sinne politisch zu sein. Denn das Politische lebt gerade von der radikalen Vielfalt der Perspektiven und einer auf das Gemeinsame bezogenen, aber antagonistischen Diskussionskultur.

Arendt warnt ausdrücklich davor, das Aussprechen von Wahrheiten allein zur Grundlage des Politischen zu machen. Ihre Befürchtung hierbei ist, dass dies „eher Menschen veranlassen [dürfte], sich damit abzufinden, daß die Dinge nun einmal so sind, wie sie sind“[10]. Mit Blick auf unsere momentane politische Lage scheint es, dass Arendt die Auswirkungen einer Politik der Alternativlosigkeit zumindest an dieser Stelle unterschätzt hat. Denn zu beobachten ist heute ja nicht allein ein Sich-mit-den-Dingen-Abfinden, sondern auch irrationale, Fakten und Tatsachen gegenüber vollkommen blinde Agitation.

Wenngleich Wahrheiten nicht den eigentlichen Kern des Politischen darstellen, so spielen sie für Arendt als Grundlage des Meinungsbildungsprozesses dennoch eine wichtige Rolle. Im Anschluss an Leibniz unterscheidet sie Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Vernunftwahrheiten seien demnach alle philosophischen, mathematischen und wissenschaftlichen Wahrheiten, Tatsachenwahrheiten alle Fakten und Ereignisse, die sich unmittelbar aus dem menschlichen Handeln ergeben[11]. Als Beispiele für Tatsachenwahrheuten führt Arendt historische Fakten an „wie daß die Hitlerherrschaft von einer Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt oder daß Frankreich im Jahre 1940 von Deutschland entscheidend besiegt wurde“[12].

Die für den politischen Bereich relevanten Wahrheiten sind für Arendt nun die Tatsachenwahrheiten. Denn als Ergebnisse menschlichen Handelns seien sie zwar nicht das eigentlich Spezifische des Politischen, aber dennoch Teil davon. So sind Meinungen für Arendt nur dann legitim, wenn sie sich auf Tatsachenwahrheiten beziehen: „Tatsachen sind der Gegenstand von Meinungen, und Meinungen können sehr verschiedenen Interessen und Leidenschaften entstammen und doch alle noch legitim sein, solange sie die Integrität der Tatbestände, auf die sie sich beziehen, respektieren“[13]. Auch wenn Arendt also alles andere als einen „naiven Realismus“ vertritt, so ist der Rekurs auf bestimmte nicht zu leugnende Tatsachen ihrer Ansicht nach für den Bereich des Politischen überlebensnotwendig.

In „Wahrheit und Politik“ analysiert sie daher auch, welche Auswirkungen es hat, wenn Tatsachen konsequent und bewusst geleugnet werden. Weil Lügen immer den Versuch einer Änderung des Bestehenden, nämlich der Änderung von (vergangenen) Tatsachen darstellen, sind sie für Arendt im Gegensatz zum Aussprechen der Wahrheit von vornherein politisch: „denn er [der Lügner] sagt, was nicht ist, weil er das, was ist, zu ändern wünscht“[14].

Dennoch – und dies ist ein entscheidender Punkt – ist die Hauptgefahr ihr zufolge nicht, dass durch organisiertes Lügen irgendwann eine gänzlich fiktive an die Stelle der eigentlichen Wirklichkeit tritt. Denn um wirklich zu gewährleisten, dass Tatsachen auf immer der Vergessenheit anheimfallen, müssten alle um die Tatsachen Wissenden getötet werden. Tatsachen erweisen sich aufgrund der Unmöglichkeit, dies jemals vollständig umzusetzen, letzten Endes immer als sehr hartnäckig.[15]

Das eigentliche Problem einer Allgegenwart der Lüge besteht nach Arendt daher darin, dass der Orientierungssinn des Menschen und damit seine Fähigkeit, Wahrheit und Unwahrheit schlechterdings unterscheiden zu können, zerstört wird[16]. Gerade weil aufgrund der Grundbedingung der Pluralität, unter der das Politische steht, die Folgen des politischen Handelns stets unabsehbar sind, ist es auf ein Minimum an Bodenhaftung angewiesen – und dazu leisten Tatsachen einen entscheidenden Beitrag[17]. Versagt der menschliche Orientierungssinn, so können Tatsachen, Meinungen und Lügen nicht mehr auseinandergehalten werden und politisches Handeln verliert seine Bodenhaftung.

Es ist meiner Ansicht nach genau das, was wir auch heute beobachten können. So schafft Trump mit seinen sich teilweise sogar selbst widersprechenden Lügen nicht eine gänzlich neue Wirklichkeit. Was seine Lügen und Verwirrungstaktiken allerdings bewirken und was sie so gefährlich macht, ist die Zerstörung des Sinns für richtig und falsch überhaupt. Weil sie die Grundbedingung der Fähigkeit zum politischen Handeln und Urteilen ist, ist es letztlich diese selbst, die so vernichtet wird.

Die Warnung vor einem naiven Realismus allein reicht also ebenso wenig aus wie der bloße Ruf nach einer Rückkehr zu Fakten und Wahrheiten, um die Krise zu beschreiben, in welcher sich unsere demokratischen Öffentlichkeiten heute befinden.


Judith Zinsmaier studierte Philosophie, Allgemeine Rhetorik und Musikwissenschaft an der Universität Tübingen. Seit 2016 arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Internationalen Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit Hannah Arendts Konzeption des Politischen, die sie als Alternative zu liberalistischen Ansätzen der politischen Philosphie versteht.


Endnoten

[1] Bär, Jochen: Pressemitteilung der Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. zur Wahl des Worts des Jahres 2016, online verfügbar unter https://gfds.de/wort-des-jahres-2016/#postfaktisch, letzter Zugriff am 07.05.2018, 16:50.

[2] Z.B. Kaeser, Eduard: Das Postfaktische Zeitalter, in: Neue Zürcher Zeitung vom 22.08.2016, online verfügbar unter https://www.nzz.ch/meinung/kommentare/googeln-statt-wissen-das-postfaktische-zeitalter-ld.111900, letzter Zugriff: 07.05.2018, 22:37.

[3] Z.B. Güntner, Joachim: Die Beschwörung der Tatsachen, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16.11.2016, online verfügbar unter https://www.nzz.ch/feuilleton/schlagwort-postfaktisch-die-beschwoerung-der-tatsachen-ld.128894, letzter Zugriff am 07.05.2018, 22.40.

[4] Ebd.

[5] Arendt, Hannah: „Wahrheit und Politik“, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Übungen im politischen Denken I, 2. Aufl., München 2013, S. 327-370.

[6] Vgl. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, 12. Aufl., München 2013, S. 278-293.

[7] Arendt: „Wahrheit und Politik“, S. 342.

[8] Ebd., S. 341.

[9] Ebd., S. 354.

[10] Ebd., S. 354.

[11] Vgl. ebd., S. 330 f.

[12] Ebd., S. 336.

[13] Ebd., S. 338.

[14] Ebd., S. 352.

[15] Arendt, Hannah: „Die Lüge in der Politik“, in:  Wahrheit und Lüge in der Politik: Zwei Essays, 3. Aufl., München 2016, S. 7-43, hier: S. 15 f.

[16] Vgl. Arendt: „Wahrheit und Politik“, S. 361.

[17] Vgl. Arendt: „Die Lüge in der Politik“, S. 11.

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