22 Mrz

Reduktion als Reiz: Zur Einfachheit in Videospielen

von Thomas Arnold (Heidelberg)


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Videospiele sind einfältig – und unter anderem deshalb so reizvoll; sie reduzieren Erfahrung und bieten gerade deshalb mehr Erlebnis. Dass viele Videospiele uns mit Mechanismen von Herausforderung, Belohnung und Flow bei der Stange halten (ähnlich wie beim Glücksspiel), ist hinlänglich bekannt. Auch die Attraktion von simulierter Autonomie und Macht ist uns vertraut: endlich frei, endlich ungebunden agieren zu können. Ein weiterer, weniger beleuchteter Aspekt der Videospiele so reizvoll macht, besteht in der  Einfachheit, Einheitlichkeit und Eindeutigkeit, denen wir in ihnen begegnen – und das in mehrfacher Hinsicht, wie wir im Folgenden sehen werden.

Der erste Zusammenhang, den wir betrachten, ist der aufseiten der virtuellen Welten und Gegenstände, also auf der Objekt-Seite von Videospielen. Wenn wir „Welt“ verstehen als ein großes Ganzes, einen sinn- und stimmungsvollen Zusammenhang, in dem das eine bedeutungsvoll auf das andere verweist, dann ist unser wirkliches Erleben eher selten besonders welt-haltig, sondern eher zerfasert, zersplittert und gefüllt mit irgendwelchem Zeug.  Zugleich bieten schon einzelne Sachen eine verwirrende Menge an Möglichkeiten, zu denken, zu fühlen oder zu handeln.

Nehmen wir einen Baum als Beispiel. Es ist ein echter Baum, den Sie auf einem Spaziergang sehen. Sie können seinen Anblick genießen. Oder sich bemühen, die Art zu erkennen. Oder überlegen, ob man aus dem Holz wohl gut Möbel machen könnte – und ob Sie ihn dafür wohl eigenhändig fällen könnten. Oder bedenken, wie lang er wohl schon hier steht. Oder sich sorgen, ob er durch irgendeinen Käfer bedroht ist – oder durch den Klimawandel. Oder vermuten, ob er wohl bald abgeholzt wird, um Platz für einen Parkplatz zu schaffen. Oder versuchen, auf ihn zu klettern. Oder Sie können den Baum einfach ignorieren. Der Baum verweist auf vieles oder auf gar nichts, je nachdem. Mit dem richtigen Blick kann sich eine (bzw. die) ganze Welt an diesem einen Baum entfalten. Es kann aber auch sein, dass der Baum als uneindeutiges Stück Landschaft verbleibt. Oder als Ärgernis. Oder als Rätsel. Jedenfalls sind sehr viele unterschiedliche, teilweise gegensätzliche Hinsichten denkbar, in denen der Baum für uns (ir)relevant sein kann und keine davon ist ohne Weiteres besser oder wichtiger als die andere.

Nehmen wir jetzt einen anderen Baum vor. Es ist ein virtueller Baum, an dem Sie in einem Videospiel vorbeilaufen (sagen wir, der Einfachheit halber, Skyrim oder The Witcher 3). Er erscheint Ihnen auf einem Bildschirm bzw. durch einen Bildschirm hindurch und dank des komplexen Zusammenspiels von Ihren Sinnesorganen einerseits mit Hardware und Software andererseits.[1] Sie können bewundern, wie gut der Baum gerendert ist. Sie können links oder rechts herum schleichen. Und natürlich können Sie auch den virtuellen Baum ignorieren. Aber viele von den Gedanken, die Sie sich in Bezug auf den echten Baum machen können, sind hier sinnlos: In den meisten Spielen gibt es weder Borkenkäfer noch Klimawandel und auch Parkplätze werden keine gebaut. Eine Kletter-Mechanik gibt es meist ebenfalls nicht. Der Baum ist also in gewissem Sinn einfach nur Baum, höchstens ein Hindernis, je nach Spiel eventuell eine Ressource, die auf relative einfache Weise in virtuelle Produktionsprozesse eingespeist wird.

Wenn das der Fall ist, gibt es vielleicht noch Werkzeuge, die es erlauben, den Baum zu fällen. Auch hier sind die Verweisungszusammenhänge aber sehr eindeutig und unterkomplex: Die Axt ist da, um den Baum zu fällen; der Baum ist dazu da, gefällt und verarbeitet zu werden; das gewonnene Holz ist da, um etwas zu bauen, das uns besser/stärker macht oder direkt zu Erfüllung einer gesetzten Aufgabe beiträgt. Der virtuelle erscheint also viel eindeutiger als der echte Baum; es gibt viel weniger Hinsichten, ihn zu erfassen. Er trägt, wenn er nicht zu verarbeiten ist, in erster Linie dazu bei, eine bestimmte Atmosphäre zu erzeugen und die Welt näher zu bestimmen, z.B. als karges Hochland oder üppigen Dschungel.

Mit der Atmosphäre ist ein weiteres Phänomen angesprochen, das in Spielwelten viel eindeutiger als in der Wirklichkeit ist – zumindest, wenn sie gut gemacht sind, wobei die Herstellung von Atmosphären eine große Kunst darstellt (wie z.B. schon die Landschaftsarchitekten vergangener Zeiten wussten). Atmosphären sind ontologisch zudem ein wenig seltsam, denn sie nicht ganz in uns (nicht ganz subjektiv), aber auch nicht einfach außen (nicht ganz objektiv). Sie sind Stimmungen, die aber nicht auf unser Innenleben beschränkt sind, vielmehr begegnen wir ihnen in Situationen und Räumen. Sie sind Zwischendinge, die eine große Rolle in unserem Leben spielen.[2] Allerdings oft auch so, dass in unserem Leben gar keine eindeutige Atmosphäre herrscht. Ein normaler Arbeitstag dürfte beispielsweise ein Mischmasch aus persönlichen Stimmungen (Langeweile, Müdigkeit, Erwartung) und unbestimmten atmosphärischen Zuständen sein (die bleierne oder freudige Atmosphäre im Büro, falls wir nicht im home-office sind, ansonsten die unauffällige Atmosphäre unserer Wohnung). Viele Spielwelten dagegen weben uns – durch Grafik, Erzählung und Klang – in dichte, eindeutige Atmosphären ein: Städte sind gehüllt in Wolken der Furcht und Unterdrückung, Berg-Panoramen sind erhebend, Wälder sind unheimlich etc. In diesen atmosphärischen Momenten zeigen sich die Spielwelten als große Einheiten: im Ganzen ist es hier wild und bedrohlich, wir daher umso heldenhafter.

Damit hätten wir dann auch ein weiteres Element von Videospielen gefunden: uns selbst. Wir selbst sind in Videospielen oft durch einen sogenannten Avatar vertreten, also eine Figur, die wir steuern können und die irgendwie in der Spielwelt lokalisiert ist, mit ihr interagieren kann, aber auch angegangen (z.B. angegriffen, angesprochen) werden kann. In anderen Fällen nehmen wir eine abstrakte (strategische) Perspektive ein und sind gar nicht direkt verkörpert. In jedem Fall handeln wir aber irgendwie. Man kann geradezu sagen, dass das Design von Videospielen die Kunst ist, uns Handlungsmöglichkeiten anzubieten, inklusive solcher, die in Wirklichkeit überhaupt nicht möglich sind. [3] Darin lässt sich auch ein entscheidender Unterschied von Videospielen zu anderen Medien ausmachen: Virtuelle Räume sind zwar auch Bildräume, aber sie sind solche, die wir selbst erkunden, erforschen und generell aktiv erleben können.[4]

Der Aspekt der Mächtigkeit im Handeln, der übermenschlichen Aktivität, sei es als Heldenfigur oder als gottgleiche Führungsinstanz, ist tendenziell übermäßig beleuchtet. Übermäßig, weil einerseits Passivität ebenfalls wichtig für das Spielerleben ist, z.B. als virtuelle Verletzbarkeit, die Situationen überhaupt erst bedrohlich und damit spannend macht – zugleich ist aber auch diese Verletzbarkeit sehr überschaubar, denn komplizierte Bandscheibenvorfälle, depressive Episoden und dazugehörige Verwaltungsakte gibt es in den wenigsten Spielen. Andererseits ist die Übermächtigkeit überbetont, weil die virtuelle Leistungsfähigkeit nur einen Teil der Anziehungskraft des virtuellen Handelns ausmacht. Ein weiterer Reiz liegt darin, dass das Handeln selbst so einfach und eindeutig ist.

Auch hier können wir wieder mehrere Aspekte ausmachen. Erstens bieten uns die Welten selbst verhältnismäßig wenige Möglichkeiten an; wie oben gesehen sind die Verweisungszusammenhänge und Handlungsoptionen meistens sehr simpel und begrenzt: es mag zwar viele verschiedene Waffen geben und einige Möglichkeiten, sie herzustellen oder zu verbessern, aber am Ende ist der Kampf mit einer begrenzten Anzahl von Waffenklassen doch ein sehr übersichtliches Tätigkeitsfeld. Dazu kommt dann eventuell noch die Navigation von Ort zu Ort, d.h. die virtuelle Reise, die aber auch fast alle langweiligen Komplexitäten einer echten Reise vermissen lässt. Jedenfalls steigen die Benzinpreise in Himmelsrand eher selten und schlecht funktionierende Ticket-Apps gibt es auch keine (obwohl die Thalmor sicher gute Kontrolleure wären). Selbst, wenn wir Handel und Diplomatie noch als Tätigkeitsbereiche hinzunehmen, sind unsere Handlungsmöglichkeiten radikal begrenzt (wie in anderen Spielen auch).  

Das ist auch gut so, denn so kann der Sinn des Ganzen ganz zur Geltung kommen. Die zweite Einfachheit in Bezug auf virtuelle Handlungen liegt nämlich gerade in ihrem Sinn bzw. ihrer Bedeutung. Die meisten Spiele erhalten einen glasklaren Sinn entweder durch ihre Regeln oder durch die Erzählung, die sie erlebbar machen. Wir sind beim Spielen eingebunden in normative und narrative Strukturen und wissen daher stets relativ genau, was wir tun oder vermeiden müssen und warum. Damit ist nicht gesagt, dass die Erzähl- und Regelstrukturen von Spielen nicht hochkomplex oder überraschend sein können; entscheidend ist hier aber, dass unser virtuelles Handeln dadurch eine Richtung und einen klaren Maßstab hat. Uns auf Videospiele einzulassen, bedeutet folglich geradezu, einen Sinn des Lebens zu akzeptieren – zumindest virtuell und auf Zeit.  

Was uns Videospiele bieten, sind also einheitliche Welten mit dichten Atmosphären, in denen wir einfach handeln können, mit einen eindeutigen Sinn vor Augen. Unser wirkliches Erleben ist dagegen ganz anders: wir leben in vielen Welten oder Feldern, die nicht klar begrenzt sind, die durchdrungen sind von atmosphärischen Uneindeutigkeiten, in denen jeder Gegenstand und jede Handlung unzählige Betrachtungsweisen zulassen; in Wirklichkeit sind auch wir selbst kompliziert, vielfach verwundbar, schwierig zu heilen und uns selbst undurchsichtig, und der Sinn des Lebens springt uns nicht unbedingt ins Auge, falls es ihn denn überhaupt geben kann. Wir können daher sagen, dass uns die reduzierten, ja einfältigen Umgebungen der Videospiele mehr bieten als die Wirklichkeit: mehr Welt, mehr Atmosphäre, mehr Selbst – und mehr Sinn.   


Dr. Thomas Arnold ist akademischer Rat am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Er forscht zu Phänomenologie, Metaphysik und ihrer Verbindung. https://www.uni-heidelberg.de/fakultaeten/philosophie/philsem/personal/arnold.html


[1] Ostritsch, Sebastian/Steinbrenner, Jakob: “Ontologie”, in: Feige/Ostritsch/Rautzenberg (eds.), Philosophie des Computerspiels, Stuttgart 2018, 55-74.

[2] Schmitz, Hermann, Atmosphären, Freiburg 2014.

[3] Nguyen, C. Thi, “Games and the Art of Agency”, in: Philosophical Review, Vol. 128, No. 4, 2019.

[4] Arnold, Thomas: “Movement & Involvement, Phenomenological Adventures in Cyberspace”, in: Harris Breslow/Antje Ziethen: Beyond the Postmodern, Inter-Disciplinary Press, Oxford 2015, 79-91.

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