18 Apr

Heidegger und das Wesen der Dichtung

Von Gerhard Poppenberg (Heidelberg)

Der Beitrag zeigt, dass Heideggers Engagement für den NS und seine Abwendung davon philosophisch parallel zu seiner „Kehre“ stattfindet: seiner Wendung zur Dichtung als einer Neukonzeption der Ontologie. Deren Implikationen werden im Folgenden angedeutet. Das Problem eines nicht metaphysischen „Wesens der Dichtung“ steht mit Hölderlin im Kontext eines ebenfalls nicht metaphysischen, sondern historischen „Wesens des Deutschen“, das Heidegger vor allem in seinen Hölderlin-Vorlesungen der Dreißiger- und Vierzigerjahre sowie seinen Aufsätzen zum Werk des Dichters entfaltet. Damit deutet sich die Komplexität der Frage nach Heidegger und dem NS an, die jenseits wohlfeiler Verurteilungen als philosophisches Problem zu erörtern ist. Der Beitrag ist eine Ergänzung zu den Ausführungen des Autors in der Philosophischen Rundschau. (Anmerkung der Redaktion der Philosophischen Rundschau)

Die sprachphilosophische Wende der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert hat ihr stärkstes Motiv darin, den sprachlichen Grund der geistigen Vorgänge zu verstehen. Die Sprache ist nicht das Ausdrucksmittel für die selbst sprachunabhängigen sinnlichen und mentalen Vorgänge, sondern die Bedingung ihrer Möglichkeit. Wenn Wahrnehmung und Denken zutiefst sprachlich verfasst sind, wird ein zureichendes Verständnis der Sprache unerlässlich. Die analytische Philosophie, die Hermeneutik, der Strukturalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen und die Dekonstruktion haben dabei die methodischen Vorgaben gemacht und bedeutende Einsichten gewonnen.

Die Gedanken Heideggers zu Sprache, Denken und Dichten sind von einer Tragweite, die nur schwer zu ermessen ist. Er hat sein Sprachdenken nicht – analytisch – aus der Alltagssprache und nicht – linguistisch – aus der formalen Verfassung der Sprache, sondern – poetisch – aus dem Geist der Dichtung entwickelt. Er stellt die Frage nach der Sprache als die nach ihrem Wesen und bestimmt das Wesen der Sprache von der Dichtung her, indem er auch ihr Wesen bestimmt. Das ist nichts weniger als selbstverständlich; vor dem Hintergrund der traditionellen Bestimmung von Dichtung und Sprache ist es nachgerade unverstehbar.

In der Politeia (599a-607d) hat Platon die Dichtung aus dem wohlverfassten Gemeinwesen ausgeschieden, weil sie keinen Zugang zum Wesen der Dinge hat, also selbst ganz unwesentlich ist. Er unterscheidet drei Formen der Dinge: das Wesen, die Wirklichkeit, den Schein. Das Wesen gibt an, was eine Sache in Wahrheit ist, das wirkliche Ding ist davon eine Ausprägung, und die künstlerische Nachbildung ist im Verhältnis dazu nur der Schein des Dings. Die bildende und dichterische Kunst gibt die Dinge nur in einer bestimmten Erscheinungsform wieder, nicht aber als sie selbst und erst recht nicht in ihrem Wesen. Deshalb ist sie in der Abfolge das Dritte und denkbar weit von der Wesenswahrheit der Dinge entfernt. Die Dichter stellen Erscheinungen und nicht wirkliches Seiendes dar. Das Mittel dieser Scheinbildung sind beim Maler die Formen und Farben, beim Dichter die Worte. Der nachahmende Künstler versteht also nichts von der Wahrheit der Dinge, sondern nur vom Schein. Deshalb sind die Kunstwerke unwesentlich: Spiel, statt Ernst. In einem zweiten Schritt wird diese Untersuchung auf das Denken ausgeweitet. Wie die Kunstwerke von der Wirklichkeit und Wahrheit der Dinge entfernt sind, so auch vom wirklichen und wahrhaften Denken. Sie richten sich an den Teil der Seele, der sich täuschen lässt, weil er fern von der Vernunft ist. Deshalb werden die mimetischen Künste und vor allem die Dichtung zu Recht nicht in einen Staat mit einer guten Gesetzgebung aufgenommen. Die mimetischen Künste verderben das Vernünftige der Seele.

In dieser Perspektive ist die Dichtung als das Fiktive das Unwirkliche und als das Scheinhafte das Unwahre und Wesenlose. Das gilt entsprechend für die Sprache, die das Ausdrucksmittel der Dichtung ist. Die Worte sind im Verhältnis zur Wirklichkeit der Dinge nur ihre Zeichen, die ebenfalls nicht die Dinge selbst, sondern nur ihren Schein geben, und haben zum Wesen der Dinge einen noch größeren Abstand. Dichtung ist deshalb als sprachlich verfasste Fiktion endgültig scheinhaft und unwirklich, unwahr und wesenlos. Im Rahmen einer solchen Konzeption wird die Frage nach dem Wesen von Sprache und Dichtung als sinnlose Frage nach dem Wesen des Wesenlosen erkennbar.

Wenn Heidegger gleichwohl in diesem Feld nach dem Wesen fragt, muss dem ein anderes Verständnis von Sprache und Dichtung zu Grunde liegen, das entsprechend zu einem anderen Begriff des Wesens führt. Nachdem ihm klargeworden war, dass sein Versuch, die Grundfragen der Philosophie gegen die metaphysische Tradition neu zu stellen und neue Antworten auf sie zu geben, mit ausschließlich philosophischen Kategorien nicht durchzuführen war, begann er damit, die philosophische Tradition ausgehend von der Erfahrung der Dichtung auf andere Weise umzuwerten. Hölderlin und Nietzsche, George, Rilke und Trakl in der Moderne, die vorsokratischen Dichter-Denker in der Antike sind ihm dabei die leitenden Figuren für die Kehre. Es geht ihm darum, auf dem Grund eines angemessenen Verständnisses von Dichtung den Begriff des Wesens neu zu begründen. Und weil Dichtung sprachlich verfasst ist, muss auch ein anderes Verständnis von Sprache entwickelt werden. Dazu ist es hilfreich, zunächst den überlieferten metaphysischen Begriff des Wesens darzustellen, um vor dessen Hintergrund zu verstehen, was es mit der Umwertung dieser Überlieferung auf sich hat und was die Pointe der Frage nach dem Wesen von Dichtung und Sprache sein kann.

Die Frage ist umso dringlicher, als die Kritik der überlieferten Philosophie und die Überwindung der Metaphysik eines der stärksten Motive der Moderne war. Vollends die – analytisch oder strukturalistisch formatierte – Postmoderne gefiel sich darin, alle metaphysischen Begriffe abgeschafft zu haben. Die nominalistischen Konstruktivismen jeglicher Couleur haben ontologische Kategorien und Fragestellungen insgesamt für sinnlos erklärt und im Zeichen einer Affirmation des Semiotischen, Simulakrischen und Virtuellen alles vermeintlich Substanzielle und Wesenhafte als sprachlich und gesellschaftlich verfasste Bildungen erkennbar ge­macht. Die verschiedenen Sprachen führen zu unterschiedlichen Formen des Denkens und so zu unterschiedlichen Konzeptionen von Wirklichkeit und Wahrheit. Die Einsichten des Struk­turalismus in die differentielle Verfassung von Sprache und Denken hat endgültig die Konzeption von ontologischen Substanzen in die von differentiellen Relationen aufgelöst und jede Frage nach Wahrheit und Wesen sinnlos erscheinen lassen. Die Tatsache, dass in diesem Feld der Postmoderne gerade die Literatur und die Künste allgemein als Modell der Einübung ins Virtuelle und Simulakrische genommen wurden, könnte ein Hinweis darauf sein, dass auch die postmoderne Affirmation des Scheins auf eine noch unverstandene Weise eine Spielform der Metaphysik und eine weitere Fußnote zu Platon ist.

Das Wort ousía bedeutet in der griechischen Alltagssprache zunächst den Besitz, das Eigentum, zumal das bäuerliche Anwesen; es wird erst durch Platon zu einem philosophischen Begriff. Auch im Deutschen verweist Wesen – aus *ves: verweilen, wohnen – etymologisch auf das Anwesen als den Aufenthalt, die Wohnstätte. Es wird vor allem durch die philosophische Mystik Meister Eckharts zu einem Begriff; er unterscheidet in der Predigt 11 das Wesen der Seele von den Seelenkräften und das Wesen Gottes von den trinitarischen Personen. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird durch die Gnade gestiftet. Sie ist nicht eine ursächliche göttliche Kraft, die im Menschen eine Wirkung hervorbringt, sondern eine dynamische Interferenz. Das ergibt ein Werk, das seine Wirklichkeit in einem Werden hat, dessen Form das Fließen ist. „Die Gnade wirkt nicht; ihr Werden ist ihr Werk. Sie fließt aus dem Sein Gottes und fließt in das Sein der Seele.“ Das Wesen ist elementar in die drei Seelenkräfte und die drei trinitarischen Personen artikuliert. Die Seelenkräfte wohnen im Wesen der Seele, die Personen der Trinität im Wesen Gottes. Das Wesen hat seine Bestimmung von dieser Art des Wohnens als Anwesen der trinitarischen Personen und seelischen Potenzen. Dem liegt eine „höhere und bessere Weise“ von Vielheit zu Grunde als es die der weltlichen Dinge zu denken gestattet: eine Vielheit die zugleich Einheit ist und in der Einheit Vielheit bleibt. Diese Konzeption des Wesens aus dem Werden präfiguriert Heideggers Umwertung des metaphysisch-ontologischen Begriffs.

In der ontologischen Tradition ist das Wesen einer Sache ihre Washeit: das, was sie als diese Sache bestimmt und sie diese Sache sein lässt. Das griechische ousía und das lateinische es­sentia sind beides Substantive, die vom Partizip des Verbs sein abgeleitet sind. Die platonische ousia ist ein vom Nichtsein und vom Werden unterschiedenes unveränderliches und ewiges Sein. Es ist das, was einem Ding als Unveränderliches und Bleibendes zu Grunde liegt und was für die vielen Einzelnen das übersinnliche und übermenschliche einheitliche Eine ist. Dieses We­sen ist das Bleibende im Verhältnis zu den wechselnden Eigenschaften, den Akzidenzien, und das Wahre im Verhältnis zum Schein. Es ist das wirklich Seiende, das nur dem Denken zugänglich ist; als unsinnliche geistige Wirklichkeit ist es dem entgegengesetzt, was sinnlich wahrnehmbar ist.

Das Wesen ist ens per se; es ist an sich selbst und nicht bezogen auf anderes. Alles, was ens per aliud, also auf anderes bezogen ist, hat demgegenüber defizienten Charakter. Dieses Wesen ist als Ewiges und Bleibendes den Dingen immer schon ontologisch vorgeordnet. Aristoteles nennt es das to ti en einai (Met. VII,4-12), die lateinische Scholastik das quod quid erat esse. Die darin sich andeutende zeitliche Verfassung ist die einer absoluten Vergangenheit: das, was einem Ding sein Sein als sein Wesen je schon war, sein erstes Wesen. Als das Wesenswirkliche ist es der Möglichkeit der Dinge vorgeordnet (Met. VIII,8). Das Wesen wird als die begriffliche Bestimmung eines Dings in der sprachlichen Definition erfasst. Es ist für Platon eine von den Dingen unabhängige ideale Wirklichkeit, für Aristoteles ist es den Dingen als ihr Grund, als Wesensursache, Formursache und Zweckursache ontologisch vorgeordnet. Das Wesen ist das, woraus etwas in seiner bestimmten Gestalt und zu seinem bestimmten Zweck ist: die ontologisch vorgängige Bestimmung der Wirklichkeit alles Seienden.

Heideggers Bestimmung des Wesens wertet diese Definition der Washeit, die das Ding auf sein Wassein festlegt und in die Washeit eingrenzt, auf verschiedene Weise um. Eine Form ist die Figur des Gesprächs, das eine relationale Figur ist. Das Wesen ist nicht ein An-sich-Sein, sondern ein In-Hin­sicht-auf-anderes-Sein. Das wird durch eine andere Bestimmung erweitert, die der christlichen Theologie entstammt. Die Freiheit als eine elementare Bestimmung des Menschen verändert die Konzeption des Wesens. Die Freiheit des Willens kann nicht durch ein vorgängiges Wesen bestimmt werden, sondern bestimmt Grund und Zweck als das Wesen ihres Tuns selbst. Die Freiheit ist der Bereich des Offenen, der über alles Substanzielle und Beharrende hinausgeht; es ist der Bereich des wesentlich Relationalen und der Bewegung, in dem sogar das Gute böse und das Böse wieder gut werden kann. Wenn der Begriff des Wesens von der Freiheit her neu bestimmt wird, erhält er eine zeitliche Verfassung. Er bekommt eine Zukunftsdimension, weil Freiheit in einem offenen Möglichkeitsraum agiert.

Das metaphysisch gedachte Wesen ist die ontologisch vorgängige Bestimmung der Wirklichkeit eines Seienden; das kann die Gestalt von realen Ideen oder von realen begrifflichen Distinktionen haben. Die materielle Welt ist bereits eine abgeleitete Gestalt dieser wesenhaften Wirklichkeit. Wenn Kunst unter dem Paradigma der Mimesis als Nachahmung von solchem Seienden konzipiert wird, ist sie noch einmal eine abgeleitete Gestalt, die ihre Bestimmung von dem hat, was sie nachahmt. Die Werke der Kunst und der Dichtung bilden fiktionale Scheinwelten, die bestenfalls nichtiges Spiel, schlimmstenfalls Lüge sind, weil sie Unwahres als wahr und Scheinhaftes als wirklich ausgeben.

Der Vortrag Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1936) ist für diese Neuorientierung grundlegend. Für das Verständnis der Hölderlin-Deutung Heideggers ist ein Text von Norbert von Hellingrath hilfreich, den er als „Vorrede“ zu Band IV seiner historisch-kritischen Ausgabe der Werke Hölderlins publiziert hat. Heidegger hat Hellingrath immer wieder mit größter Hochachtung erwähnt. Der Text von Hellingrath führt Motive ein, die für Heideggers eigenes Denken von Bedeutung sind: das Werk als Weg, dessen Folgerichtigkeit in die Irre führen kann, und vor allem die Konstellation von deutscher und griechischer Kultur als historische Aufgabe. Heidegger hat Hellingrath seine grundlegenden Überlegungen Hölderlin und das Wesen der Dichtung mit dem Hinweis gewidmet, dass er 1916 im Krieg gefallen ist. Das stellt den Text in einen historisch-politischen Kontext: die 1936 höchst bedeutende und kritische Frage nach dem Wesen des Deutschen. Hölderlin wird für Heidegger in einem elementaren Sinn ein deutscher Dichter und, mehr noch, der Dichter des Deutschen. Die Umwertung des Begriffs des Wesens allgemein, des Wesens der Dichtung besonders hat entsprechend auch Auswirkungen auf die Bestimmung des Wesens des Deutschen.

Für Hellingrath ist das Amt des Dichters, ein Seher zu sein. Der Gehalt der Hymnen ist der „gute Geist des Vaterlands“. Er deutet Hölderlins Dichtung als eine politisch-theologische Poetik, die zugleich eine theologisch-poetische Politik und womöglich auch eine politisch-poetische Theologie ist. Das Poetische, das Politische und das Theologische sind ineinander verschränkt. Man kann an diesem „göttlichen Beruf des Dichters“ zweifeln, aber es ist „unleug­bar“ und „nichts Geringes, wenn in den Worten selber, die ihn verkünden, ein Unterpfand des verkündeten Vorranges gegeben ist“. Nicht der Anspruch des Dichters auf „göttlichen Beruf“ ist entscheidend, sondern die Sprache selbst, in der er diesen Anspruch verkündet. Die „Worte selber“ sind das „Unterpfand“, das den Anspruch einlöst (XI). Damit verlagert sich der Akzent vom Dichter auf die Sprache und ihre performative Kraft.

Das Amt des Dichters wird im Horizont der europäischen, griechischen wie jüdisch-christlichen Geschichte ausgeübt. Das ist zum einen der „Traum von Hellas“, der durch Hölderlin zum „Vorrecht der Deutschen“ geworden ist. Er ist eine Sache der Sprache, weil „heute allein von allen die deutsche Sprache den Alten sich vergleichen darf“. Das geschieht als eine „Verkörperung in Wort und Wortgefüge“, nicht als „Darstellung oder Beschreibung durch Wörter“. Darin liegt der Vorrang der deutschen Sprache vor den „romanischen Schwestern“. Die dichterische Kraft der Sprache, die „in den Worten selber“ das „Unterpfand“ ihrer Wirksamkeit hat, wird als „Verkörperung in Wort und Wortgefüge“ weiter entfaltet. Die Sprache der Dichtung ist nicht semiotisch und informativ, sondern poietisch und performativ. Sie bildet die Welt nicht mimetisch ab, sie bildet eine Welt überhaupt erst aus. Der Sinn der „vaterländi­schen“ Wende Hölderlins ist, „deutsch zu sein, wie die Griechen griechisch waren“. Sie bedeutet nicht ein „Abwenden vom antiken Vorbild“, sondern „das Wertvollste, in höherem Sinne Deutscheste“ freizusetzen (XII-XIII).

Wenn Hellingrath den „Vorrang“ der deutschen Sprache vor den „romanischen Schwestern“ behauptet, ist das im Kontext der nationalistischen Wallungen des Ersten Weltkriegs zu verstehen; eine Begründung liefert er nicht. Heidegger greift das auf, wenn er immer wieder behauptet, man denke nur wirklich auf Griechisch oder Deutsch, nicht aber auf Latein oder Romanisch. Humboldt hatte in seinen sprachphilosophischen, durch die Kenntnis diverser Sprachen gestützten Studien gezeigt, dass Sprachformen Denkformen sind und jede Sprache ihr besonderes Denken hervorbringt. In dieser Deu­tung ist das „Deutscheste“ die Freisetzung der Möglichkeiten der deutschen Sprache, aber ohne einen „Vorrang“ vor anderen Sprachen.

Für das neue Dichterische macht Hellingrath eine Denkfigur geltend, die Heidegger aufgreift und weiter entfaltet. Für die Dichtung ist „das Verkünden selbst Unterpfand des Verkündeten“ und „Beweis für das Unglaubhafte“, dass „kindlich wahrer Glaube die Götter herabrufen kann, dass die Sage, echtes mythisches Denken, unter uns Spätgeborenen noch nicht erstorben ist“, dass die „alten Götter […] noch unter uns lebendig sind, nach neuem Dasein und Namen drängen“. Sie vollzieht sich als eine typologische Korrespondenz von Griechisch-Antikem, Jüdisch-Christlichem und Deutsch-Modernem und eröffnet eine Zukunft, die in Hölderlins Dichtung präfiguriert wird. Die aus dem Geist der Vergangenheit sich eröffnende Zukunft wird zur wesentlichen Dimension der Zeitlichkeit.

Bereits die formale Verfassung von Hölderlin und das Wesen der Dichtung macht das Neue im Denken Heideggers deutlich. Dem Text sind fünf „Leitworte“ vorangestellt, fünf Zitate aus dem Werk Hölderlins. Die Leitworte, die dem Text eine allgemeine Orientierung geben sollen, sind dem besonderen Werk Hölderlins entnommen; und sie sollen zudem die Orientierung für die Auslegung der Dichtung Hölderlins geben. Bei der Frage nach dem Wesen der Dichtung steht das Allgemeine in einer elementaren Beziehung zum Besonderen; das Besondere der Dichtung Hölderlins ist leitend und maßgebend für das Allgemeine als das Wesen der Dichtung. Dann ist aber das Wesen der Dichtung nicht ein allgemeiner Begriff oder eine vorgängige Idee von Dichtung, es ergibt sich aus der Dichtung selbst und wird von ihr überhaupt erst ausgebildet. Und dafür ist die Dichtung Hölderlins besonders bedeutsam. Weil das Besondere in der Frage nach dem Wesen der Dichtung elementar ist, „zwingt“ sie „uns zur Entscheidung“. Die Entscheidung liegt darin, diese besondere Dichtung als leitend zu wählen; der Zwang hat seinen Grund darin, dass sie als diese besondere Dichtung wahrhaft allgemein bedeutend ist. Das Verhältnis zur Dichtung wird durch einen Zwang und eine Macht vorgegeben. Mit der Entscheidung des Dichters, sich zu dieser zwingenden Macht zu verhalten, geht etwas von ihr in ihn ein. 

Das Allgemeine als Begriff, der für alle Elemente der Gattung, die er begrifflich umfasst, gleich gültig wäre, bleibt in Fragen der Dichtung – und nicht nur in diesen – gleichgültig. Das Wesen der Dichtung ist nicht vorgegeben als ein Allgemeines, dem einzelne Exemplare der Dichtung untergeordnet wären; es ist der Dichtung selbst aufgegeben, dieses Wesen zu bilden. Hölderlins Dichtung hat die Bestimmung, „das Wesen der Dichtung eigens zu dichten“. Das Wesen der Dichtung wird erst in der und durch die Dichtung und besonders in Gestalt der Dichtung Hölderlins. Das Wesen ist eine Wirkung der Dichtung als poiesis; sie bewirkt das Wesen als Werk, indem sie es bildet. Sie ist dieses Wesen selbst, indem sie es wird, und sie wird es, indem sie es „eigens dichtet“. Die partikulare Dichtung Hölderlins hat die Gestalt eines Allgemeinen als des Wesens der Dichtung.
Das Wesen der Dichtung ist einerseits etwas, das durch die Dichtung selbst, andererseits etwas, das durch die besondere Dichtung Hölderlins ausgebildet wird. Und gleichwohl soll es als Wesen eine Dimension des Allgemeinen haben. Das Wesen als Allgemeines hat eine besondere Beziehung zum Partikularen; und dieses Partikulare ist offenbar eine besondere Gestalt des Allgemeinen. Das gilt für Hölderlins Dichtung und für Hölderlin als Dichter – und entsprechend für das von ihm gedichtete „Deutscheste“. Wenn Hölderlin „der Dichter des Dichters“ und seine Dichtung immer auch Dichten über das Dichten ist, bedeutet das nicht Absonderung und Weltlosigkeit im Sinne eines l’art pour l’art, sondern die Grundlegung eines anderen Weltverhältnisses.


Gerhard Poppenberg ist (emeritierter) Professor für Romanistik an der Universität Heidelberg.


Dieser Text ist der Teil einer Kooperation mit der Philosophischen Rundschau. Der ausführliche Artikel zum Thema findet sich hier.

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