28 Sep

Grammatik und Gewissheit. Für einen befreiten Wittgenstein

Von Ulrich Metschl (Innsbruck)


Mit gerade einmal einhundert Jahren seit Erstveröffentlichung nimmt sich Wittgensteins Logisch-Philosophische Abhandlung – der Tractatus – unter den klassischen Werken der Philosophie fast noch wie ein Neuzugang aus. Doch vielleicht ist ein Jahrhundert genau der passende Abstand zu fragen, was vom Tractatus, und wenn wir schon dabei sind: von Wittgensteins Philosophie überhaupt, an bleibenden Einsichten zu würdigen ist. Oder, wenn wir dem Urteil zukünftiger Generationen nicht vorgreifen wollen, was an Wittgenstein zumindest heute noch philosophisch belangreich erscheint.

Nun hat es an Stimmen, die Wittgenstein insgesamt für überschätzt halten, freilich nie gefehlt, und mit Lust an der Provokation hat Crispin Sartwell vor einigen Monaten diesen Vorwurf erneut aufgelegt.[i] Doch sind derartige Einschätzungen wohl eher ein Anzeichen dafür, dass Wittgenstein als typischer Vertreter jener gelten muss, die Elizabeth Anscombe beiläufig einmal als „philosophers‘ philosopher“ klassifiziert hat. Deren Bedeutung erschließt sich, so dürfen wir der Einfachheit halber annehmen, angemessen nur in einem fachlichen Kontext und unter den Spezialisierungen, die dieser nun einmal mit sich bringt. Darin ist nichts Verwerfliches zu erkennen und es ist auch im Falle Wittgensteins zunächst kein Anlass zu Geringschätzung. Das heißt aber nicht, dass Fragen nach dem bleibenden Wert seiner Philosophie damit gegenstandslos geworden wären. Was auch immer der fachliche Kontext gewesen sein mag, es liegt schließlich nicht unbedingt auf der Hand, dass die Bildtheorie des Tractatus zur Bestimmung von Satzbedeutungen als eine bahnbrechende Entdeckung von breiterem Interesse gesehen werden muss. Der „Grundgedanke“ des Tractatus, „daß die »logischen Konstanten« nicht vertreten“ (TLP 4.0312) mag eine wichtige philosophische Einsicht darstellen – soweit es die Philosophie der Logik betrifft. Doch Wittgenstein selbst war der erste, der betonte, wie wenig damit gewonnen ist. Und was wäre so aufregend an der Erkenntnis, dass eine Privatsprache, im Sinne Wittgensteins, einer contradictio in adiecto gleichkommen müsste?

Natürlich bergen Fragen nach dem Stellenwert spezifischer philosophischer Einsichten immer die Gefahr, allzu kleinkariert gedacht zu sein. Vielversprechender ist die Einordnung in einen größeren Bezugsrahmen. Der philosophische Umsturz wäre demnach, so ein naheliegender Vorschlag, zuvörderst in der Sprachphilosophie selbst zu erblicken, zu der Wittgenstein wie kaum ein Zweiter beigetragen hat. Insofern sind nicht einzelne Thesen für sich, wie beispielsweise die, dass der sinnvolle Satz das logische Bild einer Tatsache sei, von philosophischer Bedeutung, sondern die daraus erwachsende Einsicht in die Grenzen des Sagbaren. Nicht der Nachweis der Unmöglichkeit einer Privatsprache ist das Entscheidende, sondern die Konsequenzen, die dies für die neuzeitlichen Vorstellungen vom Mentalen und Bewusstsein nach sich zieht. Und der philosophische Fortschritt wäre dann auch erst mit den weiteren Auswirkungen von Wittgensteins Überlegungen gegeben, Auswirkungen, die einer philosophiegeschichtlichen Korrektur von einer Tragweite gleichkommen, wie sie im 20. Jahrhundert vielleicht nur noch Martin Heidegger für sein Werk reklamieren kann.

Solchen Bemühungen um eine angemessene Einschätzung lässt sich kaum etwas entgegensetzen. Und doch haftet dem Versuch etwas Biederes an, Wittgenstein akademisch verengt auf einen Beitrag zur allgemeinen Mastererzählung zu reduzieren, der zufolge die neuzeitliche Philosophie die antike Frage nach dem Sein durch die epistemologische Frage nach der Möglichkeit von Erkenntnis ablöste, nur um dann selbst mit dem linguistic turn in der Frage nach den Grenzen des Sagbaren aufzugehen. Der Zauber Wittgensteins, dem sich selbst jene nicht ganz entziehen können, deren Verhältnis zu seiner Philosophie am Ende ambivalent bleibt, ist aber gerade das Widerständige und Unorthodoxe seines Denkens, das an philosophischen Traditionen allenfalls gebremst Anteil nimmt. In seinem Desinteresse an akademischen Gepflogenheiten liegt eine Haltung, die in ihrer Kompromisslosigkeit am ehesten noch an Spinoza erinnert, wenn es denn eines Vergleichs bedürfte. Nur Wittgenstein schafft es, von einer kombinatorischen Betrachtung über die Übereinstimmung eines Satzes mit den Wahrheitsmöglichkeiten von n Elementarsätzen (TLP 4.42) in wenigen Schritten zu Bemerkungen über die Welt des Glücklichen, die eine andere ist als die des Unglücklichen (TLP 6.43), zu wechseln, ohne dass es albern wirkt. Die darin erkennbare Entschlossenheit aufs Ganze zu gehen ist keine, die sich mit der ‚Behandlung‘ einer philosophischen Frage zufriedengeben könnte. Oder wenn, dann allenfalls, wenn diese „wie eine Krankheit“ behandelt wird. Doch in einer spürbaren Zwiespältigkeit, also dort, wo Wittgenstein ganz bei sich selber ist, lassen seine philosophischen Überlegungen zugleich immer eine gewisse Verachtung für die Philosophie insgesamt erkennen, die über das Eingeständnis ihrer begrenzten Brauchbarkeit in den Vorworten zum Tractatus bzw. den Philosophischen Untersuchungen hinausgeht und sich mit dem Generalverdacht, dass philosophische Fragen meist nur ein grammatisches Missverständnis anzeigen, keineswegs erschöpft.

Nun besteht alle große Philosophie in dem Versuch, die Philosophie, wenigstens in Gestalt eines überkommenen philosophischen Erbes, hinter sich zu lassen und tradierte ‚Probleme‘ nicht einfach zu lösen, sondern als gegenstandslos zu entlarven. Kant, Husserl, Heidegger oder Dewey hat das nicht abgehalten, entsprechende Bemühungen jeweils mit ihrer eigenen Lehre und in systematischer Gestalt vorzunehmen. Wittgenstein ist auch darin radikaler. Aus dem eingestandenen oder zumindest behaupteten Unvermögen, seine Einsichten in kohärenter Form entlang linearer Argumentation aufzublättern, macht Wittgenstein die Tugend des Aphorismus. Doch diese Aphorismen sind nicht nur geistreiche Aperçus oder witzige Bonmots, und notorisches wisecracking ist erst recht nicht ihre Absicht. Ob es in Wittgensteins Philosophie eine Methode gibt, ist Gegenstand akademischer Debatten.[ii] Das Aphoristische ist jedoch fraglos mehr als ein bloßes Stilelement. Im Tonfall mögen sich die Sätze des Tractatus apodiktischer geben als die oft eher fragenden Formulierungen der Philosophischen Untersuchungen, doch aphoristisch bleiben sie hier wie da.

Gleichwohl sind es vor allem die späteren Schriften, in denen das Aphoristische auf subtile Weise seine argumentative Wucht entfaltet, ohne sich je im eigentlichen Sinne als Argument erkennen gegeben zu haben. Die vermeintliche Gewissheit, dass cartesische Subjekten ein Bewusstsein ihrer selbst mit privilegiertem Zugang eignet, bricht nicht unter den Attacken einer lückenlosen Beweisführung gegen die Möglichkeit einer Privatsprache weg, sie erodiert unter dem sanften Anrollen der Fragen, die die nur scheinbar oft unzusammenhängend aufeinander folgenden Aphorismen eher anklingen lassen, anstatt sie in aller Deutlichkeit aufzuwerfen. Die Schwächen von Moores Versuch, den Skeptizismus in die Schranken des gesunden Menschenverstands zu verweisen, legt Wittgenstein nicht in einer zwingenden Argumentation gegen die sichere Erkenntnis der Außenwelt bloß. Er skizziert sie in der Grammatik des Zweifels, die in der Fülle der Anmerkungen in Über Gewißheit freilich flüchtig bleibt.

Wittgensteins aphoristisches Vorgehen mag vielleicht nicht den Rang einer strengen Methode einnehmen, aber ein diskursives Verfahren ist es doch, wie das Vorwort der Philosophischen Untersuchungen eigens betont. Die „Natur der Untersuchung selbst“, heißt es dort, „[…] zwingt uns, ein weites Gedankengebiet, kreuz und quer, nach allen Richtungen hin zu durchreisen“. Das Ergebnis dieser gedanklichen Reisetätigkeit ist „eine Menge von Landschaftsskizzen“, und zu deren Wesenszug gehört vor allem jeglicher Verzicht auf den apodiktischen Tonfall von Lehrsätzen. Was immer es ist, das an Einsicht vermittelt werden soll, es wird eher umschritten als bündig benannt. Doch was wäre der Inhalt des Ganzen, auf den dann noch verwiesen werden könnte, um Wittgensteins Bedeutung zu fassen? Ohne den Wert seiner sprachphilosophischen Einsichten kleinreden zu wollen, zeigt sich Wittgensteins bleibende Größe gerade dort, wo er das philosophische Tagesgeschäft hinter sich lässt und aufhört, bloß ein philosophers‘ philosopher zu sein. Und gerade die aphoristische Form könnte das rechte Mittel sein, den solchermaßen erweiterten Blick zu rahmen. Denn die gegenständliche Seite dieser Form ist Wittgensteins skeptischer Umgang mit skeptischen Fragen.[iii] Nicht dass Wittgenstein der erste gewesen wäre, der einer skeptischen Herausforderung mit einer skeptischen Erwiderung begegnet wäre. Die Urheberschaft dafür reklamiert kein geringerer als David Hume, und Hume qualifiziert sich damit insofern als pyrrhonischer Skeptiker, als er so die Zweifel an empirischer Erkenntnis eben nicht zur Doktrin unüberwindlicher Schranken des Wissens erheben muss. Wie es sich nach Wittgenstein für die Philosophie ziemt, so kann man auch für Humes Haltung behaupten: „sie läßt alles, wie es ist“ (PU §124). Wie Hume skeptische Paradoxien skeptisch löst, ist jedenfalls hinlänglich bekannt. Der Zweifel verdichtet sich nicht zu einer Anti-Gewissheit, wonach die menschliche Neigung, z.B., kausale Zusammenhänge zu unterstellen, auch wo die damit behauptete Notwendigkeit der Verknüpfung jeglicher Beobachtung entzogen bleibt, fehlgeleitet wäre. Vielmehr löst sich die Skepsis, die aus dem Hinterfragen der wissenschaftlichen Methode entsteht, unter den Erfordernissen des praktischen Lebensvollzugs auf: „I find myself absolutely and necessarily determined to live, and talk, and act like other people in the common affairs of life“ (Treatise, Book I, Part IV, sec. vii). Was einen derartigen Umgang mit einer skeptischen Herausforderung zu einer ‚nur‘ skeptischen Erwiderung macht, ist der Verzicht auf deren direkte Entkräftung, mit dem indirekten Eingeständnis, dass entsprechende Versuche ohnehin scheitern müssten. Der verbleibende Ausweg besteht in einer Änderung der Perspektive. Hume wechselt die Parameter der Fragestellung, wenn er die praktischen Dinge des Lebens ins Spiel bringt. Der Zweifel ist damit nicht als unbegründet zurückgewiesen und der Skeptizismus nicht nach seinen eigenen Regeln der Kunst widerlegt, aber die Spitze ist ihm doch genommen.

Wittgensteins skeptische Lösung für ein skeptisches Paradox, wie das des Regelfolgens (PU §201), nimmt eine andere Richtung als die von Hume eingeschlagene. Statt seitlich in die Welt der common affairs of life auszuweichen, begibt sich Wittgenstein in die Tiefe der Grammatik. Nun wird in der These, dass philosophische ‚Probleme‘ ein grammatisches Missverständnis anzeigen, gerne die Wittgensteins Denken vom Tractatus bis zu Über Gewißheit umspannende Klammer gesehen. Mit der Entwicklung, die sich in seinem Denken von den Philosophischen Bemerkungen bis zu den Philosophischen Untersuchungen vollzieht, schwindet dann lediglich der im Tractatus noch vorhandene Glaube an die Eindeutigkeit der Grammatik und an die Verlässlichkeit ihrer Regeln, die richtige Anwendung festzulegen. Eindeutig sind grammatische Regeln so wenig, wie es Lebensformen sein können, und kein innerer Vorgang legt fest, welcher Regel wir glaubten gefolgt zu sein.

Doch mit den sprachphilosophischen Feinheiten hinter dieser allgemeinen Einordnung, die Gegenstand gelehrter Abhandlungen sind, wollen wir uns gar nicht erst aufhalten. Losgelöst von derartigen fachspezifischen Fragen zeigt sich in Wittgensteins Denken eine Haltung, die über die damit gewonnenen Ergebnisse hinausweist. Der Schritt in die Grammatik ist, auch wenn er schließlich zur Lebensform führt, ein Schritt hinter das für selbstverständlich Gehaltene, der neue Gewissheiten entschlossen verweigert. In seiner Wirkung besonders anschaulich wird die Kombination aus grammatischer Betrachtung und aphoristischer Darreichungsform in den aus Wittgensteins letzten Lebensmonaten stammenden Notizen, die posthum unter dem Titel Über Gewißheit erschienen sind. G.E. Moores Versuch, skeptische Vorbehalte gegen die Existenz der Außenwelt im common sense Verfahren zu zerstreuen, dient Wittgenstein als Einladung, die grammatischen Grenzen des Zweifelns zu erkunden. Man mag, wie Crispin Sartwell dies getan hat, beklagen, dass diese Erkundung kein eindeutiges Ergebnis liefert, das uns mitteilt, was wir von Moores Versuch zu halten hätten. Doch eben dies ist vielleicht das wahrhaft Richtungsweisende an Wittgensteins Vorgehen: die grammatische Einsicht findet sich nicht in der Dimension der philosophischen Fragestellung, die ihr Anlass war, sondern dort, wo wir aus der Frage heraustreten. Eine Lehre, die kanonisch zu vermitteln wäre, ergibt sich damit freilich nicht. Wenn Moores Gewissheit seiner Hand schließlich auch philosophisch nicht zu beanstanden ist, dann nicht weil seine Beweisführung im strengen Sinne gelungen wäre, sondern weil es einer solchen gar nicht bedurfte. Auch für den Zweifel braucht es Gründe (ÜG §122), und Gründe für den Zweifel finden sich nur dort, wo ein Irrtum möglich ist: „Das Spiel des Zweifels setzt selbst schon die Gewißheit voraus“ (ÜG §115).

In der Abkehr von dem, was uns zunächst so selbstverständlich und unhinterfragbar erschien, liegt Wittgensteins über die Philosophie hinausreichende Leistung. Aufgrund des aphoristischen Vorgehens beider ist oft auf die Nähe Wittgensteins zu Blaise Pascal hingewiesen worden. Von der Form abgesehen ähneln sich beide auch in der Ernsthaftigkeit ihres Ringens um Klarheit, und auch ihres Ringens um den rechten Glauben. Doch bei Wittgenstein ist alle Gewissheit bestenfalls eine vorläufige, und philosophische Freiheit besteht im Verzicht auf jede Letztbegründung. Die wiederkehrende Frage „wie sähe hier ein Irrtum aus?“ ist eine Frage nach der Grammatik und deren Regeln finden sich nur in genau jener Praxis, die durch sie, die Regeln, bestimmt werden soll. Der Rahmen, das „Sprachspiel“, ist immer schon da und uns bleibt lediglich es hinzunehmen, wie es ist. Andere als skeptische Lösungen für das skeptische Paradox, dass das Meinen oder Verstehen der Regeln diese nicht festlegen kann, sind im Zuge dessen nicht zu haben. In ihrer Vorläufigkeit bleibt jede skeptische Lösung so offen wie die Aphorismen, in denen sie vorgetragen wird. Dafür, so meine ich, sollten wir Wittgenstein vor allem schätzen: er lebt uns den Verzicht auf jeglichen Anspruch, bedingungslose Antworten erhalten zu können, vor und die Bereitschaft, Voraussetzungen hinzunehmen, wo ihr Hinterfragen nur in Aporien endet. Die Einsicht, die uns Wittgenstein zudem schenkt, ist, dass auch wenn das sinnvolle Fragen irgendwann an sein Ende kommt, weniges nur als selbstverständlich gelten kann.

Wittgenstein zögerte nicht, sich selbst zu korrigieren, wenn er einen Irrtum einsah. Erwachsen ist man, so heißt es bei Heimito von Doderer einmal, wenn man nicht mehr auf sich selber reinfällt. Mit Wittgenstein verstehen lernen, dass skeptische Herausforderungen nur skeptische Lösungen erlauben werden, könnte uns helfen, philosophisch erwachsener zu werden.


Ulrich Metschl ist assoziierter Professor am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Seine Forschungsinteressen bewegen sich zwischen Politischer Philosophie, insbesondere unter Einbeziehung der Sozialwahltheorie, und der Philosophie der Logik.


[i] Crispin Sartwell: Overrated: Ludwig Wittgenstein; Standpoint, September 2019, https://standpointmag.co.uk/overrated-ludwig-wittgenstein/

[ii] Sebastian Wyss: Does Wittgenstein Have a Method? The Challenges of Conant and Schulte; in: Nordic Wittgenstein Review 4 (2015), S. 167 – 193.

[iii] Die Beobachtung, dass Wittgensteins Privatsprachenargument, insbesondere wenn es als Korollar zu den Bemerkungen über das Regelfolgen gelesen wird, als eine skeptische Lösung für ein skeptisches Problem gelten kann, wurde unabhängig von Robert J. Fogelin und Saul A. Kripke gemacht, siehe Robert J. Fogelin: Wittgenstein; London, Routledge and Kegan Paul, 21987, und Saul A. Kripke: Wittgenstein on Rules and Private Language; Oxford, Basil Blackwell, 1982.

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