26 Dez

Über die „Kluft zwischen Nehmen und Geben“. Vom Schenken des Beschenkt-Werdenden

Von Sarah Bianchi (Frankfurt)


Nun ist es soweit: In diesem Herbst feiern wir Nietzsches 175. Geburtstag. Zu Geburtstagen macht man bekanntlich Geschenke. Das will ich nun nicht tatsächlich tun. Doch eben dies zum Anlass nehmen, um solche Passagen aus seinem Werk herauszugreifen, die sich um das Motiv der sozialen Praktik des Schenkens und um die damit einhergehenden relationalen Gesten des „Nehmen[s] und Geben[s]“ (EH, 6, 346) drehen. Solche leisen Zwischentöne werden bisweilen weniger in Nietzsches Werk verfolgt. Zu oft wird Nietzsche bloß als der Philosoph abgestempelt, der mit dem ‚Hammer philosophiert’. Doch bei genauerem Hinsehen, bei einer Technik also, die er im Übrigen selbst einfordert und sie auch in seiner Lehre einübt, springt einem augenblicklich ins Auge, dass er einen ganz anderen Hammer im Blick hat, nämlich ein Hämmerchen, genaugenommen den Auskultationshammer, wie er hierzu in seiner späten Schrift Götzen-Dämmerung Auskunft gibt. Dieses Hämmerchen kennen wir nur zu gut aus der Medizin. Mit ihm klopft uns der Arzt ab, um genau das hören zu können, was sich mit den bloßen Ohren nicht so leicht vernehmen lässt. So ähnlich verhält es sich mit den leisen Zwischentönen nach Nietzsche. Sie machen im Kleinen aufmerksam auf dasjenige, was im Großen aus dem Rahmen fällt. Meiner Interpretation zufolge charakterisiert eine solche Technik sowohl Nietzsches eigenes Werk als auch dessen Sichtweise auf die Mitwelt. Was dies für das Fallbeispiel des Schenkens bedeutet, soll im Folgenden erkundet werden.[1]

 Nietzsche nimmt vorwiegend in seiner mittleren Schaffensperiode die feinfühligen Schattierungen im Prozess des Schenkens in Augenschein. Insbesondere im 20. Jahrhundert werden diese Grauzonen weiter aufgegriffen. So sind sich Postmoderne und Kritische Theorie darin einig, dass ein so sensibles soziales Gespinst wie das Schenken in der ‚verwalteten Welt’ schwierig, wenn nicht gar ein Ding der Unmöglichkeit ist.[2] Mit Nietzsche lässt sich diese Problematik durch folgende Frage aufgreifen: „[H]at der Geber nicht zu danken, dass der Nehmende nahm?“ (Za, 4, 279). Hiermit sind wir bei der Thematik, die dem Blogbeitrag auch den Titel gibt, nämlich bei dem Schenken des Beschenkt-Werdenden. Nietzsche stellt sich bewusst nicht die Frage, die offen auf der Hand liegt. Explizit fragt er nicht: Was soll ich schenken? Ihn interessiert vielmehr der Prozess, wie das so gehen könnte, dass das Geschenk auch tatsächlich ‚gut ankommt’, wie man neudeutsch sagen würde. Damit nimmt er nicht nur die Perspektive desjenigen ein, der ein Geschenk macht. Natürlich, diese Perspektive ist nicht außer Acht zu lassen. Nietzsche jedoch unternimmt ganz bewusst einen ‚Perspektivwechsel’. So betritt nun der „Nehmende“ die Bühne, also derjenige, an den das Geschenk gerichtet ist. Diesem fällt nun eine überraschende Rolle zu: Auch er macht ein Geschenk und zwar dem Schenkenden allein dadurch, dass er als der eigentlich Beschenkte das Geschenk auch tatsächlich annimmt. Diesen Perspektivwechsel vom Schenkenden zum Beschenkten gilt es genauer unter die Lupe zu nehmen: Versuchen wir uns daher an einem Beispiel, das nicht ganz weit weg von unserem Leben liegt. Nur zu gut kennen wir die Szene aus unserem Alltag: Wir sind zu einem Fest eingeladen, kommen gerade von der Arbeit und müssten eigentlich auch schon gleich wieder los, nur haben wir noch kein Geschenk. Auch Nietzsche ist ein solch alltägliches Szenario nicht ganz fremd und genau hier setzt seine Beschreibung ein: Denn, wie Nietzsche beobachtet, nur zu leicht wird der Schenkende verführt, das zu schenken, was er aus seiner Sicht kennt und mag. Wenn wir also, zu unserer Entschuldigung müssen wir anfügen: weil wir in Eile sind oder sonstwie nicht genügend Zeit hatten, bloß etwas schenken, was lediglich unserer Perspektive entspricht, so verfehlen wir jedoch genau das, worauf es im Schenken ankommt: nämlich die Relationalität und damit den Wechsel der Perspektiven zwischen dem Schenkenden und dem Beschenktwerdenden. Die Frage, ob unser Geschenk auch wirklich zu dem Beschenkten passt, gerät so leicht in Vergessenheit. Natürlich kann es für den Beschenkten interessant sein, Neues zu entdecken und sich somit von unserem Blickwinkel inspirieren zu lassen. Der mittlere Nietzsche sucht allerdings genau diejenigen versteckten egoistischen Motive zu entlarven, die sich zu selbstverständlich in eingespielte soziale Abläufe einschleichen. Nietzsche genügt schon allein die Tatsache, dass wir aus welchen Gründen auch immer zu wenig die Sichtweise des Schenkenden anerkannt haben, um einen versteckten Egoismus auszumachen. Denn wer mehr an sich als an die anderen denkt, muss sich schon diesen Vorwurf gefallen lassen. Auch von einer anderen Perspektive her, lässt sich dieser Egoismus dingfest machen. Hierbei geht es nun gar nicht so sehr um die Frage, ob wir nun etwas passendes gefunden haben oder nicht, Nietzsche reicht allein die Tatsache aus, egoistische Motive bei einem solchen Schenkenden aufzuspüren, wenn er sich in seiner gebenden Position gefällt und sich selbst gern darin sieht, „sein Gesicht zu zeigen“ (M, 3, 279). Aber auch für diesen hat Nietzsche klare Worte übrig. So schreibt er in der Morgenroethe: „Es ist so ungrossmüthig immer den Gebenden und Schenkenden zu machen“ (ebd.). Wird demnach auf die eine oder andere Weise die Relationalität im Schenken verkannt, so öffnet sich eine „Kluft […] zwischen Nehmen und Geben“ (EH, 6, 346), wie es Nietzsche in seiner Autobiographie Ecce homo resümiert. Allerdings hat Nietzsche nicht nur ein negatives Bild von eben diesem Prozess des Schenkens. Durchaus gesteht er die Möglichkeit zu, so etwas tatsächlich tun zu können, auch wenn dies noch so viel Mühe und Sorgfalt kosten sollte. In diesem Sinn lässt er seinen Zarathustra rufen, den persischen Weisen und Verkünder der neuen Bilder: „Ich aber bin ein Schenkender: gerne schenk ich, als Freund den Freunden“ (Za, 4, 114).


Sarah Bianchi arbeitet seit 2019 als Postdoc an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. In diesem Kontext ist es geplant, das Buch „Mikroanalytik der Aufklärung“ innerhalb des Projekts „Perspektiven der Kritischen Theorie“ zu schreiben. Zuvor war sie Projektleiterin des Teilprojekts „Governing Oneself: Critical Aesthetics of Enhancement“ im Rahmen des amerikanischen Forschungsprogramms „The Enhancing Life Project“ der Universität Chicago, IL. Dabei wurde sie im Februar 2016 mit dem PSCS Visiting Scholar Award der Stanford University, CA, ausgezeichnet. Im Frühjahr 2016 setzte sie ihre Forschung an der Princeton University, NJ, fort. Dort schloss sie auch die Publikation ihrer Doktorarbeit „Einander nötig sein. Existentielle Anerkennung bei Nietzsche“ ab. Begonnen hatte ihre Beschäftigung mit der Enhancement-Thematik während ihrer Zeit als Fellow am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar im Frühjahr 2015. Die Gesamtergebnisse fließen in das Buch „Governing Oneself: Critical Aesthetics of Enhancement“ ein, das diesen Herbst zum Abschluss kommt. 


[1] Vgl. zu einer anerkennungstheoretischen Ausdeutung des Schenkens: Sarah Bianchi, Einander nötig sein. Existentielle Anerkennung bei Nietzsche, Paderborn 2016.

[2] Mit Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 143ff auf der einen Seite sowie Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 2003, S. 46f auf der anderen.

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