04 Jun

Nietzsche als Wegbereiter und prophetischer Kritiker postmodernen Denkens

Von Clemens Sander (Wien)


Für Michel Foucault war die Lektüre von Nietzsches zweiter unzeitgemäßer Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ eine Art Erweckungserlebnis. Zufälligerweise war dies mein erstes Nietzsche Buch, und auch mich hat es gleichermaßen beeindruckt wie den weltberühmten Denker, aber nicht auf die gleiche Weise.

Foucault wurde bekanntermaßen zu einem großen Ideengeber für die „postmoderne Bewegung“, die ab den 1970ern ihren Siegeszug begann. Auch wenn er für sich selbst die Begriffe „postmodern“ und „poststrukturalistisch“ ablehnte, war Foucault vorne mit dabei bei der Verbreitung eines Generalverdachtes gegen die Vernunft und dem Eintreten für epistemologischen Skeptizismus und ethischen Subjektivismus.

Um die Jahrtausendwende, als mir Nietzsches Historienschrift in die Hände fiel, war postmodernes Denken noch uneingeschränkt cool, wenn nicht sogar Pflicht unter fortschrittlichen PhilosophiestudentInnen. Nietzsche sowieso, aber nicht jener, der sich mir in diesem Buch vorstellte. Gerade in Anbetracht des postmodernen Zeitgeistes empfand ich die Botschaft dieses Buches als bissige unzeitgemäße Betrachtung, als Warnung vor etwas, das er später selbst mit ins Rollen gebracht hat. Ein paar Zitate daraus habe ich bis heute im Ohr, wenn ich mich mit postmodernen Gedanken oder Nietzsches eigenen Argumenten gegen die Wahrheit und das Subjekt beschäftige, wie einen Daimon, der „ja, aber…“ sagt.

Das Werk „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ aus dem Jahre 1874 ist zwar eine Kampfschrift gegen den Historismus seiner Zeit, aber man könnte es heute genauso gut als prophetische Schrift unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachteil der Postmoderne für die Jugend“ lesen. Und Nietzsches Urteil fällt verheerend aus: „Der junge Mensch ist heimatlos geworden und zweifelt an allen Sitten und Begriffen. Jetzt weiß er es: In allen Zeiten war es anders, es kommt nicht darauf an, wie du bist.“[1] Leider postmodern. Kein Trost mehr durch Philosophie, weder durch Metaphysik noch durch irgendeine materialistische Teleologie. Postmodernes Denken kann befreiend sein, aber auch lähmend wirken. Ich will jenen Nietzsche ausgraben, der gegen die Lähmung impfen will. Damit soll nicht gesagt sein, dass jene Nietzsche-Lesart, die so befruchtend für die Postmoderne war, zurückzuweisen ist.

Es soll hier nicht kleingeredet werden, dass Nietzsche Sätze geschrieben hat wie jene, dass Wahrheiten bloß Illusionen seien, von denen man vergessen habe, dass sie welche seien, dass es keine Fakten gebe, sondern bloß Interpretationen, dass das Subjekt selbst bloß eine Fabel sei (…) Er gilt zu Recht als einflussreicher Wegbereiter postmodernen Gedankengutes, er war zweifelsohne ein Dekonstrukteur. Michel Foucault rechnet seine Untersuchungen daher nicht unberechtigterweise zu den „großen nietzscheanischen Forschungen“[2]. Aber es gibt auch einen ganz anderen Nietzsche, den man vor allem in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung kennenlernen kann.

Der zersetzende und der erbauliche Nietzsche

„schädlich“ sein und „zu Grunde richten“ gehört so gut zu den Aufgaben des Philosophen wie „nützlich sein“ und „aufbauen.“[3]

Nietzsche war sich des Risikos bewusst, dass es ein Zuviel an Aufklärung geben kann, das für das Leben kontraproduktiv wird. Er ist bekannt dafür, dieses auf sich genommen und keine gefährlichen Gedanken gescheut zu haben, doch in der Historienschrift sowie in seinem Erstlingswerk „Die Geburt der Tragödie“ schreibt er noch dagegen an. Dort heißt es, jede Kultur, ja jede junge Seele, verlöre ohne Mythos ihren Halt und ihre Schöpfungskraft. Diesen Vorbehalt gegen eine völlige Entmythologisierung findet man explizit im letztem Kapitel der Historienschrift: Darin wendet er sich direkt an die Jugend und setzt sich für das „Überhistorische“ ein, als Arznei gegen eine „Wissenschaft“, die starke Parallelen zu Foucaults Methode aufweist:

„überhistorisch“ nenne ich die Mächte, die den Blick von dem Werden ablenken, hin zu dem, was dem Dasein den Charakter des Ewigen und Gleichbedeutenden gibt, zu Kunst und Religion. Die Wissenschaft – denn sie ist es, die von Giften reden würde – sieht in jener Kraft, in diesen Mächten gegnerische Mächte und Kräfte: denn sie hält nur die Betrachtung der Dinge für die wahre und richtige, also für die wissenschaftliche Betrachtung, welche überall ein Gewordenes, ein Historisches und nirgends ein Seiendes, Ewiges sieht.[4]

Es verwundert, dass Nietzsche hier nicht nur als Verteidiger der Kunst auftritt, sondern sogar die Religion in seinen Schutz nimmt – mit einem Seitenhieb macht er sich auch darüber lustig, dass die Theologie so naiv gewesen sei, sich der historisch-kritischen Methode der Bibelinterpretation geöffnet zu haben und damit ihre eigene Glaubwürdigkeit untergrabe.

Foucaults Präferenz für den genealogischen Nietzsche

In seinem Aufsatz „Nietzsche, la généalogie, l’histoire“, in dem Foucault sich explizit auf Nietzsche als Mentor beruft, womit er „auf den Schultern eines Riesen“ stehe, legt auch er dar, dass die Erforschung der Herkunft kein Fundament liefere, sondern zur Beunruhigung führe, weil sie jede Kohärenz auflöse. Doch im Unterschied zu seinem Mentor bejaht er dies uneingeschränkt, „wahrheitszersetzendes Opfer“ und „identitätszersetzende Auflösung“ sind bei ihm voll und ganz positiv besetzte Begriffe. Daher verwundert es wenig, dass Foucault, obwohl er im Titel seines Aufsatzes auch auf Nietzsches Historienschrift anspielt, sich fast ausschließlich auf „Zur Genealogie der Moral“ (1887) bezieht, worin Nietzsche eine Wurzelbehandlung an den christlichen Moralbegriffen vornimmt. (Gleich 13 Fußnoten verweisen auf die „Genealogie“, während die „Historie“ nur ein einziges Mal zitiert wird.) Was kann uns nun Foucault dazu sagen, was bei Nietzsche nicht für sich selbst spricht? Er analysiert weniger den Inhalt als vielmehr die Methode, die Genealogie statt der Moral, und bekennt, dass seine Methode, die er „Archäologie“ nennt, nichts anderes sei als Nietzsches „Genealogie“. Diese ist für ihn eine Ahnenforschung nach der Abstammung der Begriffe und Denkstrukturen. Im Gegensatz zur gängigen Geschichtsauffassung bezeichnet er die Genealogie als die „wirkliche Historie“. In diesem Sinne lehnt der Genealoge Foucault es ab, die Vielfalt der Zeit in eine Totalität zu bringen, er will keine Historie, die uns überall uns selbst wiedererkennen lässt und in allen Verschiebungen Versöhnungen sieht. Nietzsches Blick ist für Foucault nichts als ein zersetzender, so zersetzend, dass er auch sich selbst auflösen und die Einheit jedes menschlichen Wesens auslöschen kann.

Das letzte Ziel der Genealogie besteht für Foucault in der Opferung des Erkenntnissubjekts. Sie sieht den Erkenntnisinstinkt als etwas Böses und Mörderisches, das nichts für das Glück der Menschen tun könne und wolle. Wie die Religionen einst die Opferung des menschlichen Leibes forderten, fordert die Genealogie, dass wir die Einheit des Subjekts opfern. An dieser unserer Erkenntnisleidenschaft, so lehrt sie uns, werden wir zugrunde gehen. – Wozu dieser Lobpreis Foucaults auf die Genealogie, wenn sie uns schadet? Um der Wahrheit willen, dass die Wahrheit ein Irrtum ist? Dem Genealogen im Sinne Foucaults dient das Wissen nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden. Das trifft aber nicht global auf Nietzsche zu. Ende der 1880er Jahre, als er an seinem systematischen Hauptwerk arbeitet, will er „eine Theorie aus einem Guss, die alles erklärt, alles verstehbar macht, die den Schlüssel des Weltgeheimnisses in die Hand bekommt.“[5]

Es ist nicht so, dass Foucault diese Seite Nietzsches nicht kannte; in den letzten Zeilen seines Aufsatzes geht er auch kurz auf den Unterschied zwischen dem Nietzsche der Genealogie und dem der Historienschrift ein und merkt an, dass dieser in der Historienschrift der kritischen Historie noch vorwarf „uns von unseren wirklichen Quellen abzuschneiden und die Bewegung des Lebens der Sorge um die Wahrheit zu opfern“. Doch zu seiner Genugtuung unterstreicht er, dass Nietzsche wenig später selbst zum kritischen Historiker wurde, eben mit der Absicht, „die Zerstörung des Erkenntnissubjekts zu wagen.“[6]

Nietzsche gegen den „Tod des Subjekts“

Foucaults Verkündung des Endes des Konzepts Subjekt/Mensch um den Geist oder das Bewusstsein zu verstehen und dessen Ersetzung durch Sprache/Diskurs ist zweifellos ein Erbe Nietzsches. In dessen Historienschrift findet sich aber auch eine Polemik gegen das, was sich heute unter dem Schlagwort „Tod des Autors“ in der postmodernen Literaturwissenschaft etabliert hat, wonach der Autor/die Autorin kein kreativ-bildendes Subjekt mehr sei, sondern ein Schnittpunkt der Diskurse – nicht deren Urheber, sondern deren Produkt. Nietzsche war wohl zu überzeugt von seiner individuellen Schöpfungskraft, um dem Geniekult den Todesstoß zu versetzen. Nur ein „ausgehöhlter Bildungsmensch“ stelle die Historie des Autors über dessen Werk, wahre Künstler seien bis in alle Ewigkeit der Wirklichkeit enthoben, „Die Einsicht in die Herkunft eines Werkes geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an: nie und nimmer die ästhetischen Menschen, die Artisten!“[7] Eine Erklärung für diesen Unterschied könnte sein, dass Nietzsche beides sein wollte: Artist und Vivisektor des Geistes, Foucault eher nur letzteres.

Resümee

„Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ ist eine Kampfschrift gegen jene Art von Wissensvermittlung, die alles dem „Foltersystem der historischen Kritik“ unterwirft und daher nicht dem Leben diene. Ihr Apell ist heute aktueller denn je: Ein übertriebener postmoderner Kulturrelativismuskann einen dazu bringen, sich von jeder Unbedingtheit zu verabschieden. Dagegen die Warnung Nietzsches: „Jedem, den man zwingt, nicht mehr unbedingt zu lieben, hat man die Wurzeln seiner Kraft abgeschnitten: er muss verdorren, nämlich unehrlich werden.“[8] Diesem harten Urteil zufolge würde eine radikale Genealogie im Sinne Foucaults zu Unehrlichkeit führen. Aber dieser Vorwurf kann den postmodernen Denker nicht treffen – Foucault leugnet in seinem Aufsatz über Nietzsche nicht „das System seiner eigenen Ungerechtigkeit“ und gibt zu, dass er „einen Maskenball veranstaltet.“ Foucault nimmt sich bewusst und offen das Recht heraus, jene Seiten Nietzsches hervorzuheben, mittels derer er seine Methode legitimieren kann. Wenn jede Interpretation gewaltsam ist, wie Foucault selbst schreibt, dann nimmt er seine eigene nicht davon aus. Ich halte es hingegen ebensowenig für ungerecht, angesichts seines 175. Geburtstages an den anderen, weniger bekannten, „unzeitgemäßen“ Nietzsche zu erinnern.

Genau in dieser Spannung zwischen trostloser Wahrheit und tröstendem Schein, zwischen einer aufklärerisch destruktiven Wissenschaft, die uns Menschen als das zeigt, was wir nicht sein wollen – grausame, heuchlerische Tiere, die ihre Vernunft überschätzen – und der Möglichkeit, uns mittels Kunst und Mythos trotzdem ein sinnvolles, hoffnungsfrohes Leben zu erdichten, oszilliert Nietzsches Werk. Während er die metaphysischen Philosophen als „Honigsammler des Geistes“ verspottet, weiß er zugleich um die Süße dieses Honigs. Während er die bestehenden großen Erzählungen mit scharfem Blick dekonstruiert, sie mit dem Hammer attackiert, weiß er zugleich um ihren Wert und die Gefahren des Nihilismus. Das Paradoxe an Nietzsches Zugang zur Wahrheit ist, dass er sie für sich als Illusion durchschaut hat – was gedacht werden kann, müsse sicherlich eine Fiktion sein – aber trotzdem erkennt, dass wir sie zum Leben brauchen, als eine umhüllende Atmosphäre aus Illusionen, Leidenschaften und Liebe, um lebendig zu bleiben.[9]

Es bleibt die Frage, ob es nicht erst recht postmodern ist, aus ästhetischen und/oder pragmatischen Gründen einen selbst gewählten Mythos hochzuhalten, obwohl man weiß, dass es sich um einen solchen handelt. Oder ob es überhaupt möglich ist, wenn der Schein einmal als Schein erkannt ist, so zu leben als wäre er keiner. Nach Nietzsche haben wir mit der wahren Welt ja auch die scheinbare abgeschafft. Was man von Nietzsche auf jeden Fall auch nach 175 Jahren besser als von kaum einem anderen lernen kann: Nicht ungedacht lassen, was gegen einen selbst gedacht werden kann.


Clemens Sander unterrichtet Ethik, PUP (Philosophie und Psychologie) und Spanisch am BRG/BORG St. Pölten und ist im Bereich der LehrerInnenbildung der Universität Wien tätig.


[1] Nietzsche, F. (1999): Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Stuttgart: Reclam, S. 70.

[2] Foucault, M. (1973): Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 11.

[3] Nietzsche, F. KSA 11, S. 248f.

[4] Ebd., S. 107.

[5] Safranski, R. (2008) Nietzsche. Biographie seines Denkens. Frankfurt am Main: Fischer, S. 301.

[6] Foucault, M. (2000) Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Foucault, M. Von der Subversion des Wissens. Frankfurt am Main: Fischer, S. 88.

[7] Ebd., S. 96.

[8] Ebd., S. 65.

[9] Vgl. Safranski, R. (2008) Nietzsche. Biographie seines Denkens. Frankfurt am Main: Fischer, S. 116.

Print Friendly, PDF & Email