14 Dez

“Warum sollte ich’s besser wissen als andere?” Meinungsverschiedenheiten als Quelle des Nichtwissens

von Marc Andree Weber (Mannheim)


Um zu Anfang ein wenig auszuholen: In der klassischen chinesischen Philosophie findet sich bei Zhuangzi, der ungefähr 365 v. Chr. geboren wurde, folgende berühmte Stelle:

Eines nachts träumte Zhuangzi, er sei ein Schmetterling – ein glücklicher Schmetterling, der auf und nieder flatterte, wie er wollte, und nichts davon ahnte, Zhuangzi zu sein. Plötzlich wachte er, schläfrig noch, als Zhuangzi wieder auf. Und er konnte nicht sagen, ob es Zhuangzi war, der geträumt hatte, er sei ein Schmetterling, oder der Schmetterling, der träumte, er sei Zhuangzi. Doch muss zwischen beiden ein Unterschied sein! Das nennt man den “Wandel der Dinge”.[1]

Dies ist eine frühe Version des skeptischen Traumarguments, das sich auch in der abendländischen Philosophie findet, und hier am prominentesten in Descartes’ erster Meditation: Man kann nicht wissen, dass man gerade nicht träumt, und daher kann man auch nicht wissen, ob die Außenwelt tatsächlich so ist, wie sie sich einem darstellt. Die Details sind bei Zhuangzi (der, nebenbei bemerkt, gelegentlich auch “der Schmetterlingsphilosoph” genannt wird) ganz anders als bei Descartes, brauchen uns hier aber nicht zu kümmern. Relevanter ist an dieser Stelle, dass es eine ganze Reihe ähnlicher skeptischer Argumente gibt. Descartes selbst bringt die Idee eines bösen Dämons oder Täuschergotts ins Spiel: Man kann nicht wissen, dass man gerade nicht von einem ebenso bösen wie mächtigen Dämon getäuscht wird, und daher kann man auch nicht wissen, ob das, was einem als wahr erscheint, auch wahr ist. In jüngerer Zeit ist darüber hinaus die Vorstellung populär geworden, wir könnten Gehirne in Tanks mit Nährflüssigkeit sein, deren mit einem Computer verbundene Nervenenden derart mit elektrischen Impulsen gereizt werden, dass es uns erscheint, als seien wir normale Menschen in einer normalen Umgebung. Weil wir nicht wissen können, dass wir keine Gehirne im Tank sind, können wir auch in diesem Fall nicht wissen, ob wir die Außenwelt so wahrnehmen, wie sie tatsächlich ist.

Diese und viele andere skeptische Herausforderungen treten in zwei Varianten auf, einer starken und einer schwachen. Der schwachen Variante zufolge können wir nicht sicher sein, uns nicht in einem skeptischen Szenario zu befinden. Unser vermeintliches Nichtwissen resultiert gemäß dieser Variante daraus, dass jene Unsicherheit mit Wissen unvereinbar sei, weil Wissen die Möglichkeit eines Irrtums ausschließe. Dieser schwachen Variante kann man entgegenhalten – wie Geert Keil dies kürzlich in einem bei Reclam erschienenen Essay getan hat[2] –, dass ein plausibler Wissensbegriff fallibilistisch sein sollte, dass Wissen also keine Gewissheit erfordert, sondern man auch dann etwas wissen kann, wenn man lediglich gute Gründe für das Gewusste hat und keine Wahrheitsgarantie.

In ihrer starken Variante besagen skeptische Herausforderungen, dass wir keine guten Gründe haben anzunehmen, uns nicht in einem skeptischen Szenario zu befinden. Da man auch dann, wenn man einen fallibilistischen Wissensbegriff zugrunde legt, gute Gründe haben muss, um etwas zu wissen, wissen wir mithin, dieser Variante zufolge, sehr vieles nicht. Wer hier dagegen halten will, muss argumentieren, dass wir eben doch gute Gründe dafür haben, uns nicht in einem skeptischen Szenario zu wähnen. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn die Annahme, dass unsere Wahrnehmungen im Großen und Ganzen der Wirklichkeit entsprechen, eine deutliche bessere Erklärung für das ist, was uns innerweltlich begegnet, als die Annahme, wir träumten oder würden von Dämonen oder skrupellosen Wissenschaftlerinnen getäuscht.

In ihren schwachen Varianten weisen skeptische Herausforderungen auf schwer zu bestreitende Möglichkeiten hin, nämlich die, sich in einem skeptischen Szenario zu befinden, sind allerdings nicht wissensunterminierend, solange man nicht auf einem heutzutage eher aus der Mode gekommenen infallibilistischen Wissensbegriff besteht. In ihren starken Varianten konfrontieren uns skeptische Herausforderungen mit der deutlich kontroverseren Behauptung, es spreche nicht viel dafür, dass wir uns nicht im jeweils proklamierten skeptischen Szenario befinden; falls das zutrifft, haben wir für viele unserer Überzeugungen keine Rechtfertigung und wissen damit kaum mehr etwas.

In den letzten zwanzig Jahren ist in der Erkenntnistheorie eine neuartige skeptische Herausforderung aufgetreten, die ganz ohne science fiction-hafte Szenarien auskommt. Diese skeptische Herausforderung tritt nur in einer starken Variante auf, und beim Versuch, unter Verweis auf gute Gründe bestreiten zu wollen, dass es sich wie von der Herausforderung beschrieben verhält, erscheint die Suche nach einer geeigneten “besten Erklärung” aussichtslos. Im Zentrum dieser neuen skeptischen Herausforderung stehen Meinungsverschiedenheiten. Und damit sind wir nun endlich beim Thema dieses Beitrags angekommen.

Oder fast. Eine kleine Abschweifung sei noch erlaubt. Pyrrhon von Elis, genau wie Zhuangzi ungefähr im Jahr 365 v. Chr. geboren, ist in die Philosophiegeschichte eingegangen als der Begründer der nach ihm benannten pyrrhonischen Skepsis, deren konziseste Ausformulierung – Pyrrhon selbst hat wie Sokrates nichts geschrieben – ein halbes Jahrtausend später durch Sextus Empiricus erfolgte.[3] Bereits bei Pyrrhoneern wie Sextus spielt das Berufen auf Meinungsverschiedenheiten eine wichtige dialektische Rolle dabei, die Plausibilität philosophischer Standpunkte zu unterminieren. Dennoch ist die neuartige skeptische Herausforderung, von der ich spreche, nicht einfach alter Wein in neuen Schläuchen: Wie weiter unten noch genauer ausgeführt, gibt es in der zeitgenössischen Debatte entscheidende Neuerungen.

Das Meinungsverschiedenheiten-Dilemma

Damit nun also endlich zur Sache. Angenommen, ich meine mich daran zu erinnern, dass eine Freundin von mir – nennen wir sie Luna – heute Geburtstag hat. Da ich mir Geburtstage normalerweise halbwegs zuverlässig merken kann, glaube ich daher, dass ihr Geburtstag heute ist. Nehmen wir weiter an, dass ich mit einem Freund – nennen wir ihn Finn – über Lunas Geburtstag rede und sich herausstellt, dass Finn glaubt, der Geburtstag sei morgen. Wenn Finn sich Geburtstage in der Regel genauso merken kann wie ich und er Luna ähnlich nahesteht (und es keinen anderen relevanten Unterschied zwischen Finn und mir gibt und ich all dies weiß), dann gibt es für mich keinen Grund zu denken, meine vermeintliche Erinnerung an das richtige Datum sei zuverlässiger als Finns. Ich sollte daher aufhören zu glauben, Lunas Geburtstag sei heute, und stattdessen einen agnostischen Standpunkt dazu einnehmen, ob der Geburtstag heute oder morgen sei – zumindest solange, bis Finn und ich überprüft haben, wer von uns beiden recht hatte.

Das alles erscheint vollkommen vernünftig und normal. Aber angenommen, Finn und ich sprechen nicht über Lunas Geburtstag, sondern über Sinn und Unsinn eines bedingungslosen Grundeinkommens. Ich habe mich ins Thema eingelesen, habe lange darüber nachgedacht und bin, nach sorgfältiger Abwägung des Für und Wider, zu der Überzeugung gelangt, dass wir es unbedingt einführen sollten. Finn hat sich, wie ich weiß, ebenso ausgiebig informiert, hat ebenso lange darüber gegrübelt und sich eine ebenso fundierte Meinung gebildet. Nur denkt er, dass wir es auf keinen Fall einführen sollten. Da er genauso gut Bescheid weiß wie ich und außerdem, wie wir annehmen können, weder klüger noch dümmer als ich ist (und es keinen anderen relevanten Unterschied zwischen Finn und mir gibt und ich all dies weiß), gibt es für mich keinen Grund zu denken, meine Überzeugung hinsichtlich der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens sei korrekt und seine falsch. Ich sollte daher aufhören zu glauben, dass wir es unbedingt einführen sollten, und stattdessen einen agnostischen Standpunkt dazu einnehmen, ob eine Einführung sinnvoll sei.

Das wiederum erscheint alles andere als vernünftig und normal. Die eigene Überzeugung hinsichtlich eines im Kern politischen Sachverhalts aufzugeben, nur weil ein anderer, der genausogut kompetent und wohlinformiert ist wie man selbst, eine andere hat, halten wir eher für rückgratlos als für klug. Doch was ist dann der entscheidende Unterschied zwischen Überzeugungen über Geburtstagstermine, die wir bereitwillig aufgeben, wenn ein gleichermaßen gut Bescheid Wissender die gegenteilige Meinung vertritt, und Überzeugungen über politische Grundsatzentscheidungen, die wir selbstverständlich auch angesichts sachkundigen Widerspruchs beibehalten?

Der ins Auge springende Unterschied besteht darin, dass es für Finn und mich im Geburtstagsfall leicht möglich ist herauszufinden, wer recht hatte, um dann einhellig die korrekte Überzeugung auszubilden, während wir im Grundeinkommensfall nicht mal eben schnell unseren Kalender oder Luna fragen können.

Doch ist dieser Unterschied wirklich von Belang? Immerhin ging es doch im Geburtstagsfall darum, wie wir uns in dem Moment verhalten sollen, in dem die Meinungsverschiedenheit auftritt, also vor einer möglichen Klärung des Sachverhalts. In diesem Moment erscheint eine Überzeugungsenthaltung angebracht. Ob diese Überzeugungsenthaltung anschließend durch das Einholen neuer Informationen oder sorgfältigeres Nachdenken wieder überwunden werden kann, ändert nichts an ihrer ursprünglichen Sinnhaftigkeit. Und genau deshalb ist auch der Grundeinkommensfall in der hier wesentlichen Hinsicht analog zum Geburtstagsfall: In beiden Fällen habe ich zunächst keine Veranlassung, meinem eigenen Urteil eher zu trauen als dem Finns, und sollte daher nicht an ihm festhalten. Was danach passiert, ist für diesen Schritt irrelevant.

Zudem können wir den Grundeinkommensfall leicht variieren, indem wir mir nicht mehr anfänglich die normative Überzeugung zuschreiben, dass wir ein bedingungsloses Grundeinkommen unbedingt einführen sollten, sondern stattdessen die auf die Zukunft gerichtete deskriptive Überzeugung, dass die Einführung eines solchen Grundeinkommens hinsichtlich Zufriedenheit und Wohlstand innerhalb Gesellschaften wie unserer mehr positive als negative Folgen haben wird. (Finns Überzeugung wandeln wir ebenfalls entsprechend ab). Dann lässt sich, prinzipiell zumindest, überprüfen, wer von uns recht hat. Man muss nur das Grundeinkommen in manchen Gesellschaften einführen und in anderen nicht und nach einiger Zeit auswerten, welche Gesellschaften sich in den relevanten Hinsichten besser entwickeln. Wer der Ansicht ist, die Überprüfbarkeit der Überzeugungen sei entscheidend dafür, ob man sie angesichts einer Meinungsverschiedenheit aufgeben oder beibehalten sollte, müsste somit den modifizierten Grundeinkommensfall anders behandeln als den ursprünglichen. Das allerdings erscheint angesichts der Ähnlichkeit der beiden Grundeinkommensfälle unplausibel.

Vielleicht existiert aber ein anderer relevanter Unterschied zwischen dem Geburtstags- und dem Grundeinkommensfall. Immerhin kommt es im einem Fall bloß auf Gedächtnisleistungen an, im anderen aber auf Intuitionen. Wenn wir nun unseren Intuitionen generell in höherem Maße trauen könnten als unserem Gedächtnis, könnte dies doch, so mag es scheinen, die Diskrepanz erklären.

Ich bin etwas skeptisch, ob das mit der größeren Zuverlässigkeit von Intuitionen im Vergleich zu Gedächtnisleistungen so seine Richtigkeit hat, und erst recht finde ich hier die Redeweise von Intuitionen etwas unterkomplex. (Warum sollte ich beispielsweise nicht auch sagen können, ich habe die Intuition, Lunas Geburtstag sei heute? Wer sich auf die Zuverlässigkeit von Intuitionen beruft, sollte auch sagen, was er alles zu den relevanten Intuitionen zählt und worauf deren Zuverlässigkeit beruht.) Doch entscheidend ist etwas anderes: Sowohl im Geburtstags- als auch im Grundeinkommensfall zeigt das Auftreten der Meinungsverschiedenheit mit Finn, dass meine ursprüngliche Überzeugung, egal auf welcher Quelle sie beruht und wie zuverlässig sie erschien, leicht falsch sein kann. Das sieht man am besten mithilfe von Wahrscheinlichkeiten.

Angenommen, ich weiß aus langjähriger Erfahrung, dass ich mir Daten und Termine, darunter auch Geburtstage von Freundinnen wie Luna, mit 90%-iger Sicherheit korrekt merke. Wenn Finn darin genauso gut ist wie ich und zudem mit Luna ähnlich eng befreundet, dann sollte ich ihm, bevor ich von unserer Meinungsverschiedenheit erfahre, zugestehen, dass auch er das Datum von Lunas Geburtstag mit 90%-iger Sicherheit korrekt im Kopf hat. Nachdem ich allerdings höre, dass er, anders als ich, glaubt, ihr Geburtstag sei erst morgen, kann ich aus rein mathematischen Gründen nicht mehr daran festhalten, dass sowohl er als auch ich mit 90%-iger Wahrscheinlichkeit recht haben. Vielmehr sollte ich, da er nach allem, was ich weiß, weiterhin genauso gut recht haben könnte wie ich, jetzt sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich recht habe, als auch die Wahrscheinlichkeit, dass er recht hat, mit leicht unter 50% veranschlagen (“leicht unter”, weil es eine geringe Wahrscheinlichkeit dafür gibt, dass wir beide uns irrten und Luna weder heute noch morgen Geburtstag hat). Eine solch niedrige Wahrscheinlichkeit, mit der eigenen Überzeugung richtig zu liegen, kann aber nicht den Beibehalt dieser Überzeugung rechtfertigen.

Angenommen, ich weiß oder vermute (ob zurecht oder nicht, ist hier egal), dass meine Intuitionen hinsichtlich politischer Fragen dann, wenn ich mich vorher eingehend informiert habe, mit 95%-iger Sicherheit zuverlässig und die von ihnen gestützten Überzeugungen korrekt sind. Wenn ich Finn zugestehe, dass seine entsprechenden Intuitionen ebenfalls mit 95%-iger Sicherheit zuverlässig sind, muss ich im Grundeinkommensfall, bezüglich dem er genauso kompetent und wohlinformiert ist wie ich, konstatieren, dass er genauso gut recht haben könnte wie ich. Dann jedoch muss ich analog wie oben angesichts des Auftretens unserer Meinungsverschiedenheit sowohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich recht habe, als auch die Wahrscheinlichkeit, dass er recht hat, nach unten korrigieren und nun mit leicht unter 50% veranschlagen. Und analog wie oben kann eine solch niedrige Wahrscheinlichkeit, recht zu haben, den Beibehalt einer Überzeugung nicht rechtfertigen.

Wir sehen an alldem, dass die Erkenntnisquelle, sei es Gedächtnis, Intuitionsvermögen oder etwas Drittes, samt der ihr zukommenden generellen Zuverlässigkeit als irrelevant aus der Argumentation herausfällt. Entscheidend ist nur, dass unser Partner im Dissens genauso kompetent und wohlinformiert ist wie wir selbst und sich genauso lange und sorgfältig mit dem fraglichen Sachverhalt auseinandergesetzt hat, dass er uns, kurz gesagt, hinsichtlich der Beurteilung des Sachverhalts epistemisch ebenbürtig ist.

Wir stehen somit vor einem Dilemma. Einerseits scheint es keinen relevanten Unterschied zwischen Fällen zu geben, in denen wir aufgrund des Gewahrwerdens einer Meinungsverschiedenheit mit einem epistemisch Ebenbürtigen ganz selbstverständlich erst einmal, das heißt bis zur Überprüfung des Sachverhalts, einen agnostischen Standpunkt einnehmen, und Fällen, in denen wir trotz des Gewahrwerdens einer Meinungsverschiedenheit mit einem epistemisch Ebenbürtigen ganz selbstverständlich an unserer Überzeugung festhalten, typischerweise auch deshalb, weil deren Überprüfung schwierig oder unmöglich erscheint. In beiden Fällen ist die Meinungsverschiedenheit ein starkes Indiz dafür, dass wir die Wahrscheinlichkeit, mit unserer ursprünglichen Überzeugung richtig gelegen zu haben, auf weniger als 50% beziffern sollten und daher die Überzeugung aufgeben müssen. Andererseits müssten wir dann jedoch sehr viele unserer Überzeugungen aufgeben, denn wir wissen häufig, dass andere, die nicht dümmer oder schlechter informiert sind als wir selbst, sie nicht teilen. Das gilt nicht nur für Überzeugungen zu politischen Fragen wie der nach dem Sinn eines bedingungslosen Grundeinkommens, sondern auch für weltanschauliche, moralische, religiöse, philosophische, wissenschaftliche, ästhetische oder das alltägliche Leben betreffende Meinungen: Meinungen darüber, ob es einen Gott gibt, ob der Durchschnittsnutzen-Utilitarismus die beste ethische Theorie ist, ob die Stringtheorie zutrifft, der Mensch einen freien Willen hat, man Dostojewski allgemein überschätzt, die neue Chefin eine eiskalte Karrieristin ist, es auch morgen wieder regnen wird. Dass wir zu Fragen wie diesen in aller Regel keine konkreten Überzeugungen ausbilden dürfen, widerspricht nicht nur tatsächlich der Art, wie wir tagein, tagaus Überzeugungen formen und beibehalten, sondern wird von uns auch intuitiv nicht als vernünftig empfunden. Was in der Theorie kaum von der Hand zu weisen ist, erscheint in der Praxis unhaltbar.

Eine starke Skeptizismus-Variante

Und genau darin liegt die skeptische Wucht dieser Argumentation. Zahllose Überzeugungen, die wir für gerechtfertigt hielten, weil wir gute Gründe für sie anführen können, erweisen sich allein dadurch, dass epistemisch Ebenbürtige sie nicht teilen, als unhaltbar; die Menge dessen, was wir gerechtfertigterweise glauben dürfen, wird dermaßen radikal beschnitten, dass es eigentlich nicht zu glauben und erst recht nicht mit unserer Alltagspraxis zu vereinbaren ist.

Dieser Meinungsverschiedenheiten-basierte Skeptizismus ist eine starke Skeptizismus-Variante: Das Gewahrwerden einer Meinungsverschiedenheit weist nicht lediglich auf die Möglichkeit hin, dass unsere strittige Überzeugung falsch sein könnte – das war uns meist schon vorher klar –, sondern impliziert darüber hinaus, wie wir gesehen haben, dass wir die Wahrscheinlichkeit, mit dieser Überzeugung richtig zu liegen, nicht auf mehr als 50% schätzen dürfen und damit eben auch keine guten Gründe haben, an ihr festzuhalten.

Das macht auch die übliche Antwort auf die starken Varianten skeptischer Herausforderungen unmöglich. Zu argumentieren, dass die beste Erklärung für das, was uns in der Welt begegnet, diejenige sei, wonach alles so ist, wie es uns erscheint, funktioniert nicht, wenn die Dinge jemandem, der uns epistemisch ebenbürtig ist, anders erscheinen. Bevor eine Meinungsverschiedenheit auftritt, mag die beste Erklärung für meine Intuition, dass wir ein Grundeinkommen einführen sollten, die sein, dass dies tatsächlich sinnvoll ist; nachdem ich von Finns abweichender Meinung erfahren habe, kann ich nur dann an dieser Erklärung festhalten, wenn ich meine Intuition als zuverlässiger ansehe als Finns. Doch indem ich Finn für epistemisch ebenbürtig hielt, hatte ich bereits die Gleichzuverlässigkeit unserer Intuitionen eingeräumt.

Auswege aus dem Dilemma?

Was kann man Vertreterinnen eines Meinungsverschiedenheiten-basierten Skeptizismus entgegenhalten? Gibt es eine Möglichkeit, der skeptischen Bedrohung zu entkommen oder sie zumindest zu begrenzen?

Manchmal reden wir davon, dass man etwas so oder auch anders sehen kann. Dieselbe Aussage könne aus der Perspektive des einen richtig erscheinen und aus der Perspektive des anderen falsch; eine “objektive” Wahrheit gebe es nicht. Wenn Luna und Finn uneins sind bezüglich der Frage, ob Dostojewski überschätzt wird, dann liegt, dieser Auffassung zufolge, nicht einer der beiden richtig und der andere falsch, sondern beide haben eine – unter Umständen jeweils sorgfältig begründete – Meinung zu einer Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt. Wenn es in literarischen oder, allgemeiner, ästhetischen Fragen keine Objektivität gibt, fehlt hier ein robuster Streitgegenstand. Die angebliche Meinungsverschiedenheit ist dann nur eine scheinbare, und in Wirklichkeit bringen Luna und Finn nur ihre jeweiligen literarischen Präferenzen zum Ausdruck. Mit Kant gesprochen:

Denn worüber es erlaubt sein soll zu streiten, da muß Hoffnung sein, untereinander überein zu kommen; mithin muß man auf Gründe des Urteils, die nicht bloße Privatgültigkeit haben und also nicht bloß subjektiv sind, rechnen können.[4]

Es mag tatsächlich sein, dass manchmal ein robuster Streitgegenstand fehlt. Die Kosten dafür, dies anzunehmen, sind allerdings bei Licht besehen erstaunlich hoch: Entweder müssten wir nämlich bestreiten, dass Aussagen wie “Dostojewski wird überschätzt”, dem grammatischen Anschein zum Trotz, einen Wahrheitswert haben, oder wir müssten einen Wahrheitsrelativismus vertreten, demzufolge eine Aussage immer nur relativ zur Perspektive der Äußernden wahr oder falsch sein kann. Wichtiger noch ist aber, dass wir eben nur manchmal den Eindruck haben, man könne etwas so oder auch anders sehen, und eine objektive Wahrheit gebe es nicht. Bezüglich ästhetischer und vielleicht auch moralischer oder politischer Fragen mag ein solcher Standpunkt eine gewisse Plausibilität besitzen; bezüglich anderer Fragen erscheint es abstrus, nicht von objektiver Wahrheit oder Falschheit zu reden. Gott gibt es entweder, oder es gibt ihn nicht; die Stringtheorie ist korrekt, oder sie ist es nicht; wir haben einen freien Willen oder haben keinen freien Willen; und morgen wird es entweder regnen oder nicht regnen. Und auch die Grundeinkommensfrage, in der Prognosen-Variante formuliert – würde eine Einführung insgesamt eher positive oder eher negative Folgen haben? – hat eine objektive, wenngleich vielleicht nicht zweifelsfrei zu ermittelnde Antwort. All diese Dinge sind nicht Sache der eigenen Perspektive, des eigenen Blicks auf die Welt.

Aber sind sie vielleicht Sache der eigenen Perspektive in einem tieferen Sinn? Unterschiedliche Meinungen beruhen häufig auf unterschiedlichen Grundüberzeugungen, unterschiedlichen Weltanschauungen, und diese wiederum auf anderen Lebenswegen, einer anderen Sozialisation. Weil unser Selbstverständnis als Individuum sich aber zu einem nicht unwesentlichen Teil aus unserer jeweiligen Biographie und den daraus organisch erwachsenen Überzeugungen speist, können wir diese Überzeugungen, so könnte man argumentieren, nicht einfach aufgeben, ohne uns selbst infrage zu stellen – genausowenig, wie unser Gegenüber die seinen aufgeben kann.

Auch wenn das alles nicht falsch ist, so ist es doch bestenfalls eine Erklärung für das Zustandekommen und für die Robustheit unserer Meinungsverschiedenheiten. Es ist kein vernünftiger Grund dafür zu glauben, dass man selbst recht hat und der andere unrecht. Denn warum sollte die eigene Sozialisation, die eigene Biographie einen eher in die Lage versetzt haben, einen bestimmten Sachverhalt korrekt zu beurteilen, als einen anderen dessen Sozialisation und Biographie? Die Meinungsverschiedenheit verschiebt sich hier lediglich auf die Grundüberzeugungen und die Frage, wessen Weltanschauung die besser begründete ist. Wenn Finn und ich beispielsweise feststellen, dass unser Dissens zum bedingungslosen Grundeinkommen in einem unterschiedlichen Menschenbild wurzelt – er glaubt, Menschen, die sich für ein materiell sorgenarmes Leben nicht anstrengen müssen, würden fauler und antriebsloser, ich denke, sie würden mutiger und kreativer – und dieses Menschenbild wiederum einer unterschiedlichen Erziehung entspringt, dann wissen wir immer noch nicht, wer von uns recht hat, und müssten als epistemisch Ebenbürtige weiterhin erst einmal einen agnostischen Standpunkt annehmen.

Das macht uns, nebenbei bemerkt, nicht handlungsunfähig. Es kann durchaus vernünftig sein, angesichts einer Meinungsverschiedenheit keine der vertretenen Positionen für wahr zu halten und dennoch einer dieser Positionen gemäß zu handeln. Das weiß jeder, der schon einmal an einer Weggabelung stand und keine Ahnung hatte, ob ihn der linke oder der rechte Weg zum Ziel bringen würde. Auch wenn man weder überzeugt ist, dass der linke Weg der richtige ist, noch, dass es der rechte ist, sollte man nicht wie Buridans Esel bis ans Ende seiner Tage an der Weggabelung stehen bleiben, sondern auf gut Glück eine der Alternativen ausprobieren. Der Meinungsverschiedenheiten-basierte Skeptizismus verbietet das Haben vieler Überzeugungen, aber nicht das Handeln.

Trotzdem: Was könnte ein Ausweg sein? Zumindest ein partieller? Oder müssten wir auch, wenn ein uns epistemisch Ebenbürtiger bestreitet, dass der Klimawandel menschengemacht oder die Evolutionstheorie korrekt ist, agnostische Standpunkte zu diesen Sachverhalten annehmen?

Expertenkonsense

Schauen wir nochmal zu Sextus und den pyrrhonischen Skeptikern. Die Berufung auf Meinungsverschiedenheiten erfolgt dort, sehr verknappt gesagt, um die Rechtfertigungsbedürftigkeit von Überzeugungen herauszustellen – und die angemahnten Rechtfertigungen, so wird weiter ausgeführt, lassen sich kaum oder gar nicht erbringen. Die Figur des epistemisch Ebenbürtigen dagegen gibt es im pyrrhonischen Skeptizismus nicht. Nur einmal taucht bei Sextus etwas ähnliches auf: wenn er die Frage aufwirft, ob man nicht einfach dem Klügsten glauben solle. Seine Antwort darauf ist allerdings negativ, denn, so schreibt er, es ist erstens davon auszugehen, dass Uneinigkeit darüber herrscht, wer der Klügste sei, zweitens möglich, dass zu späteren Zeiten ein noch Klügerer leben werde, dem man dann eher glauben solle, und drittens alles andere als sicher, dass der Klügste uns nicht bewusst täuscht.[5]

Das ist zweifellos alles richtig. Die letzten zwei Punkte können allerdings nur begründen, warum Überzeugungen, die wir aufgrund von Auskünften des Klügsten bilden, nicht absolut sicher sind. Wenn wir keinen Grund haben zu denken, der Klügste kenne sich nicht gut genug aus oder sei nicht vertrauenswürdig, können wir mithilfe seiner Auskunft durchaus zu gerechtfertigten Überzeugungen gelangen. Die letzten beiden Punkte taugen also nur als Argument für eine schwache Skeptizismus-Variante und sollten uns, solange wir einen fallibilistischen Wissensbegriff zugrunde legen, hier kein Kopfweh bereiten.

Der erste Punkt – Uneinigkeit darüber, wer der Klügste ist – mag oftmals zu Problemen führen, aber keineswegs immer. Formulieren wir etwas moderner und realistischer und reden wir statt von “dem Klügsten” von einer Gruppe von Expertinnen hinsichtlich des fraglichen Sachverhalts, Personen also, die einander epistemisch ebenbürtig sind und allen anderen epistemisch überlegen. Dem ersten Punkt wäre dann genüge getan, wenn es (1) zum fraglichen Themenfeld eine solche Gruppe von Expertinnen gibt, sich (2) ungefähr sagen ließe, wer dazu gehört, und (3) die Expertinnen sich weitgehend einig sind. All dies ist keineswegs selbstverständlich; insbesondere sind auch Expertinnen untereinander häufig uneins. Aber manchmal scheinen (1)–(3) doch erfüllt zu sein. Führende Klimatologinnen zum Beispiel bilden eine solche Expertinnengruppe zur Frage, ob der Klimawandel menschengemacht sei, und bejahen dies übereinstimmend.

Dies ist der einzige Ausweg aus dem Meinungsverschiedenheiten-Dilemma, der mir überzeugend erscheint. Die Antwort darauf, was man glauben soll angesichts einer Meinungsverschiedenheit mit einem epistemisch Ebenbürtigen, lautet demnach: Nimm zunächst einen agnostischen Standpunkt ein und versuche dann herauszufinden, wer recht hat. Der beste Weg herauszufinden, wer recht hat, ist dabei häufig, jemanden zu fragen, der kompetenter oder besser informiert ist als man selbst, also einen epistemisch Überlegenen. Und weil dessen Urteil weniger zuverlässig ist als das derjenigen, die ihm wiederum epistemisch überlegen sind, hält man sich am besten an die weltweit führenden Experten. Sind sich die führenden Experten uneinig, wie etwa, wenn es um die Wahrheit der Stringtheorie oder Fluch und Segen eines bedingungslosen Grundeinkommens geht, muss man agnostisch bleiben; sind sie sich mehr oder weniger einig, wie etwa beim Klimawandel oder der Evolutionstheorie, darf man sich getrost ihrem Urteil anschließen.

Da Meinungsverschiedenheiten oft bis zur Expertenebene hinaufreichen, erweisen sich somit sehr viele unserer eigenen Überzeugungen zu philosophischen, politischen und allerhand anderen Themen als ungerechtfertigt und revisionsbedürtig. Auch wenn der Meinungsverschiedenheiten-basierte Skeptizismus unser vorgebliches Wissen auf nicht ganz so breiter Front anzugreifen scheint wie seine auf Traum- oder Täuschergott-Szenarien beruhenden Halbgeschwister, ist er eindrücklicher, weil schwerer von der Hand zu weisen. Mithin zeigt uns erst das Nachdenken über Meinungsverschiedenheiten, wie viel wir wirklich nicht wissen.[6]


Marc Andree Weber ist Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der Uni Heidelberg und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Uni Mannheim. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Metaphysik und der Erkenntnistheorie; seine wichtigsten Arbeiten behandeln die Themen personale Identität, Gedankenexperimente, Intuitionen und Meinungsverschiedenheiten. Aktuell forscht er zur moralischen Dimension doxastischer Normen.


[1] P. Ivanhoe und B. van Norden (Hrsg.): Readings in Classical Chinese Philosophy. New York 2001, S. 219. (Die Übersetzung aus dem Englischen stammt von mir.)

[2] Geert Keil: Wenn ich mich nicht irre. Ein Versuch über die menschliche Fehlbarkeit. Stuttgart 2019.

[3] Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Frankfurt/Main 1985.

[4] Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Hamburg 2006, S. 235.

[5] Sextus Empiricus, Grundriß, S. 163f. (II, 39–42).

[6] Mehr zu den philosophischen Herausforderungen von Meinungsverschiedenheiten und dazu, wie man ihnen meines Erachtens begegnen könnte, steht in: Marc Andree Weber: Meinungsverschiedenheiten. Frankfurt/Main 2019.

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