11 Okt

#MeToo und  Moralischer Fortschritt

von Hilkje Charlotte Hänel (Berlin)


Lange vor Harvey Weinstein, Kevin Spacey und Louis C.K. benutzte Tarana Burke den Ausdruck „me too“, um Betroffene von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung von ihrer Scham zu befreien und Mädchen und Frauen aus überwiegend schwarzen Communities zu stärken. Später gründete sie die „Me Too“-Kampagne und führte ihre Arbeit als Teil der gemeinnützigen Organisation Girls for Gender Equity fort, 2017 gewann der Hashtag #MeToo nach einem Tweet von Alyssa Milano größere Popularität. Nach einem Sturm von Vorwürfen von sexuellen Übergriffen, sexueller Belästigung und Vergewaltigungen gegen meist prominente Männer begannen immer mehr Frauen den Hashtag zu benutzen, um über ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu berichten.

Vorwürfe über sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung sind auch in der universitären Philosophie nichts Neues. Ein Blick auf den Blog What Is It Like to Be a Woman in Philosophy? reicht, um sich davon zu überzeugen. Der letzte Beitrag vom 28. April 2018 liest sich wie folgt:

45 minutes ago I got a phone call from a man who identified himself as [name] from [University]. He asked me a few questions about my research and teaching interests, including “Do you use ancient Greek sources in your ethics class?” I said sure, a bit of Aristotle. “The Nicomachean ethics?” Yep. He then asked “When was the last time you stood naked on your desk with cum dripping from your cunt?” He followed up with several more comments, including an assurance that he was about to cum and that I liked it (why else would I be listening). […]

Die Relevanz von #MeToo für die universitäre Philosophie ist dabei allerdings zweifach: Durch das Aufzeigen sexistischer und sexualisierter Erfahrungen verschiebt #MeToo zum einen die Parameter dafür, was unter sexuellen Übergriffen und sexueller Belästigung überhaupt zu verstehen ist. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die verknöcherten Hierarchiestrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse in der universitären Philosophie (und der Wissenschaft im Allgemeinen) von Bedeutung, geht es doch bei Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnissen um verschleierte Machtstrukturen, die sowohl im großen gesellschaftlichen Gefüge existieren als auch im kleinen Kosmos der universitären Philosophie. Zum anderen ist #MeToo aber auch von moralischer Bedeutung – denn gerade durch das Aufzeigen dieser Erfahrungen lotet #MeToo auch neue moralische Normen aus.

Nach Elizabeth Anderson sind wir Menschen in aller erster Linie soziale Wesen, die ohne Unterstützung anderer und ohne die Kooperation und Koordination mit anderen weder ihre Ziele erreichen noch überhaupt überleben könnten. Dieses Bedürfnis nach Unterstützung, Kooperation und Koordination ist dabei so beständig, dass es nicht durch ad hoc- Vereinbarungen befriedigt werden kann. Vielmehr sind wir auf Regeln des Miteinanders in der Form von Konventionen, Gewohnheiten, Normen und Gesetzen angewiesen, um oben genannte Punkte dauerhaft zu garantieren. Grundlegend sind moralische Normen also kaum etwas anderes als soziale Praktiken, sie entwickeln sich im Miteinander, steuern unser alltägliches Leben und sind ständiger Reflexion (und, wenn notwendig, Veränderung) unterworfen. Mit anderen Worten ist das, was wir als moralisch falsch oder richtig auffassen, nicht konstant gegeben, sondern entwickelt und verändert sich. Eine Möglichkeit, unsere moralischen Normen zu verändern, so Anderson, ist mit Hilfe von sozialen Bewegungen gegeben. Es ist eben nicht das solitäre Individuum, das eine Veränderung unserer moralischen Normen postulieren kann, sondern ein Zusammenschluss vieler. #MeToo kann hiernach als soziale Bewegung verstanden werden, die zum Ziel hat, die Grenzen für das, was wir als sexuelle Übergriffe und sexuelle Belästigung verstehen und somit als moralisch falsch empfinden, zu verschieben. Eine soziale Bewegung wie #MeToo ist somit in erster Linie auf moralischen Fortschritt aus.

Dies ist allerdings eine umstrittene These, denn #MeToo ist häufig mit der folgenden Kritik konfrontiert: Nicht alle Erfahrungen, die im Namen von #MeToo als Erfahrungen sexueller oder sexualisierter Gewalt wiedergegeben werden, seien tatsächlich Erfahrungen sexueller oder sexualisierter Gewalt. Und da viele der wiedergegebenen Erfahrungen eben keine echten Erfahrungen seien, so die Kritiker, ist damit auch das Problem sexueller und sexualisierter Gewalt keineswegs in dem Ausmaß vorhanden, zu dem es von vielen erklärt wird. Fazit: Der Feminismus postuliert eine Epidemie, die es gar nicht gibt! Diese Kritik wiederum ruft andere Kritikerinnen auf den Plan, diesmal aus dem Lager derer, die #MeToo unterstützen: Die Tatsache, dass im Namen von #MeToo auch Erfahrungen geschildert werden, die keine echten Erfahrungen sexueller oder sexualisierter Gewalt sind, biete bedauerlicherweise eine Angriffsfläche für eben jene, die das Problem der sexuellen und sexualisierten Gewalt verharmlosen. Aber was sind denn eigentlich unechte und was sind echte Erfahrungen sexueller oder sexualisierter Gewalt?

Jay Bernstein ist der Auffassung, dass die Beharrlichkeit von sexuellen Übergriffen und sexueller Belästigung vor allem auf das kulturelle Versagen zurückzuführen ist, diese Handlungen als moralisch falsch anzusehen. Mit anderen Worten, weil wir bestimmte Handlungen nicht als moralisch falsch begreifen, sind wir auch nicht bereit, dafür zu kämpfen, dass solche Handlungen unterbunden werden. Nach Elizabeth Anderson ist allerdings das, was wir als moralisch falsch empfinden, ständiger Reflexion und Veränderung unterworfen. Es ist also eben nicht der Fall, dass bestimmte Handlungen grundsätzlich moralisch falsch sind und andere eben nicht, sondern dass es einen sozialen Prozess erfordert, um zu bestimmen, was wir als moralisch falsch empfinden. Erst vor gut zehn Jahren hat sich beispielsweise unser moralischer Kompass in Hinblick auf die Vergewaltigung in der Ehe verändert, und bis diese Veränderung zunächst moralischen und dann auch rechtlichen Bestand hatte, bedurfte es eines langen sozialen Prozesses, der vor allem auch von Feministinnen bestritten wurde. Was sagen wir also damit, wenn wir zum Ausdruck bringen, dass bestimmte Erfahrungen keine echten Erfahrungen sexueller oder sexualisierter Gewalt sind? Sagen wir dann nicht vielmehr, dass sie es zurzeit noch nicht sind, dass sie zurzeit noch nicht als moralisch falsch gelten (wenn sie vielleicht auch jetzt schon als zumindest moralisch problematisch gelten)?

Wenn nun also die Beharrlichkeit von sexueller und sexualisierter Gewalt auf das kulturelle Versagen – auf unser Versagen! – zurückzuführen ist, bestimmte Handlungen als moralisch falsch anzusehen, und wenn das, was wir als moralisch falsch ansehen, wandelbar ist und gerade soziale Bewegungen dazu beitragen können, dass sich unser moralischer Kompass ändert, kann dann nicht auch gesagt werden, dass #MeToo eben diesen moralischen Prozess anstrengt? #MeToo ist also demnach eine soziale Bewegung, die den Versuch unternimmt, bestimmte Handlungen – eben solche, die uns bisher nicht als moralisch falsch vorkamen – also moralisch falsch einzuordnen. Was wir also unter bestimmten Voraussetzungen vielleicht geneigt sind, als unechte Erfahrungen von sexueller oder sexualisierter Gewalt abzutun, sind vielmehr Erfahrungen, die zurzeit nur noch nicht von unserem moralischen Kompass geortet werden. Und es ist ja eben gerade das Ziel von #MeToo, dass auch diese Handlungen als moralisch falsch, also als Handlungen sexueller und sexualisierter Gewalt, gesehen werden sollten.

#MeToo vermag die Philosophie somit doppelt zu bereichern: #MeToo erzählt die Geschichte dessen, was wir als moralisch falsch empfinden und wie diese Empfindungen überhaupt zustande kommen, neu. Es entwirft die Idee eines moralischen Fortschritts auf Grundlage dessen, was wir als moralisch falsch erfahren. Und indem es dies tut, vermag #MeToo die Weichen dessen zu verrücken, was wir überhaupt als sexuelle und sexualisierte Gewalt wahrnehmen. Dies wiederum rückt Handlungen in den Mittelpunkt, die bis vor kurzem nicht als problematisch galten – auch im Bereich der universitären Philosophie.


Hilkje Charlotte Hänel, geboren 1987, hat Anglistik und Philosophie in Göttingen, Sheffield, Berlin und Boston studiert. Im Januar 2018 hat sie ihre Doktorarbeit in Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum Thema Vergewaltigung erfolgreich abgeschlossen; diese erscheint im August 2018 bei transcript. Heute arbeitet sie zu Themen des Feminismus und der sozialen Gerechtigkeit. Hilkje Hänel ist Vorstandsmitglied bei SWIP Germany und im Network of Analytic Philosophy and Social Critique und lebt in Berlin.

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