04 Apr

„Eine Zeit zum Zerreißen“ (Koh 3,7)

von Angelika Walser (Salzburg)


Folgender Beitrag ist weder eine wissenschaftlich-nüchterne Abhandlung noch ein distanzierter Essay. Seine Autorin ist „aus der Fassung geraten“. Und steht zu ihrem Zorn.

„Die gesamte Redaktion der vatikanischen Frauenzeitschrift „Donne Chiesa Mondo“ tritt zurück“, so lautet eine Meldung vom 27.3.2019, die es auch in die österreichischen Tageszeitungen geschafft hat. Die genannte Frauenzeitschrift war einmal monatlich Beilage des „L’Osservatore Romano“ und galt als Vorzeigeprojekt für einen neuen Kurs in der Frauenfrage unter Papst Franziskus. Ein neuer Chefredakteur hat nun offenbar Redakteurinnen wieder „auf Linie“ zu bringen versucht ‑ vergeblich. Laut der Gründerin der Frauenzeitschrift, Lucetta Scaraffia, sei „ein echter, freier und mutiger Dialog, zwischen Frauen, die die Kirche in Freiheit lieben, und Männern, die Teil derselben sind nicht mehr möglich“. Stattdessen müssten Gehorsamsgarantien abgegeben und Vorgaben von oben befolgt werden. Alle 11 Redakteurinnen waren dazu nicht bereit und zogen die Konsequenzen.

Mit wachsendem Zorn verfolge ich in letzter Zeit die frauenpolitischen Entwicklungen innerhalb „meiner“ katholischen Kirche, der ich mich nach wie vor und trotz allem zugehörig fühle. Wer, wie ich, die ARTE-Dokumentation über sexuelle Gewalt gegen „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ gesehen hat (/so der Titel des Films), kann nur noch mit Fassungslosigkeit reagieren: In 23 Ländern quer über alle 5 Kontinente hinweg wurden Ordensfrauen oder weibliche Angehörige neuer geistlicher Gemeinschaften von katholischen Priestern bzw. männlichen Ordensangehörigen sexuell missbraucht und über Jahre hinweg vergewaltigt. In Afrika betreiben Priester gemeinsam mit weiblichen Ordensoberen laut der Dokumentation Sklavenhandel mit Nonnen, die als garantiert gesund, d.h. frei von HIV, gelten. Im Fall einer Schwangerschaft werden sie zur Abtreibung gezwungen.

Doris Wagner, Autorin des Buches „Spiritueller Missbrauch“[1], ist ebenfalls eine der Interviewten in der ARTE-Dokumentation. Ihr Gesicht und Sätze wie die folgenden brennen sich ein: „Es hat zu meiner Rolle gehört, dass ich Sachen getan habe, die ich nicht wollte oder die ich nicht verstanden habe. Das hat zum Gehorsam dazu gehört. Was aber unmöglich war, dass mir jemand meine Jungfräulichkeit raubt! Dass ein Priester das macht, der ja auch Jungfräulichkeit gelobt hat!“

Wer auch immer selbst einmal religiös/idealistisch/ „auf der Suche“ war und mit dem Gedanken eines Eintritts in einen Orden gespielt hat, der weiß, wie verletzlich junge Frauen und Männer sind, die diesen Weg gehen. Umso heftiger muss die Reaktion auf den Vertrauensbruch und die schweren Menschenrechtsverletzungen durch ihre Vorgesetzten ausfallen. „Kann ich zu so einem Apparat noch dazu gehören und ihn in der Öffentlichkeit repräsentieren ?“ fragen mich derzeit bange nicht nur meine Theologiestudierenden, darunter auch angehende Priester. Auch ich selbst zweifle neuerdings, ob ich meine Große mit ihren 14 Jahren noch zum Firmunterricht schicken soll. Dort werden „die Gebote des Youcat durchgenommen“ und mit ihnen natürlich das sechste Gebot ‑ vermutlich also „alles sehr lieb“, gewissermaßen im katholischen Bienchen- und Blümchen-Modus. Angesichts der in der ARTE-Dokumentation gezeigten Vergewaltigungen an Ordensfrauen, die von ihren geistlichen Begleitern als „mystische Hochzeiten“ verbrämt wurden, bleibt einem die neuerdings in traditionalistischen katholischen Kreisen angesagte Verklärung der Freuden ehelicher Sexualität als göttliche Gabe im Hals stecken. Sie ist Teil einer kirchlichen Tabuisierungsstrategie, die nun angesichts der erdrückenden Befunde der MHG-Studie aber nicht mehr aufgeht.[2]

Fast wöchentlich unterzieht sich neuerdings ein sichtlich betroffener Bischof einem öffentlichen Vergebungsritual, bittet „im Namen der Kirche“ die Opfer um Verzeihung. Was sonst sollte er auch tun? Doch die kollektive Schamkultur[3], die hier jedes Mal strapaziert wird, lässt mich ratlos zurück: In wessen Namen entschuldigen sich die Bischöfe? Ich habe niemanden sexuell missbraucht und ich bemühe mich, die Selbstbestimmung und die Freiheit der mir anvertrauten Personen in einem umfassenden Sinn zu achten. Muss ich mich als Katholikin sozusagen „fremd schämen“? Wäre damit der heilige Leib der Kirche endlich vom Makel einer „zügellosen Sexualität“ befreit, die laut Aussage etlicher Kardinäle letztlich aufs Konto der Reformer geht, also auf meines?[4]

Wie eigentlich kommen junge Frauen einer Gesellschaft wie der unsrigen dazu, jahrelang all das mit sich machen zu lassen, was in der Dokumentation gezeigt wird? Wie sind sie im 21. Jahrhundert aufgewachsen, welche Elternhäuser hatten sie? Welche Mütter haben ihnen das „Nein sagen“ beigebracht? Welche Erziehungsstile gab es zuhause: Laissez-faire oder autoritär? Wurden sie vor Emanzipation und Selbstbestimmung gewarnt? Hat man ihnen von der „gefährlichen Gender-Ideologie“ erzählt, welche so viele Amtsträger der katholischen Kirche derzeit in ganz Europa so vehement bekämpfen und die sie dazu bringt, die reale Not von Frauen zu übersehen?[5] Oder haben sie ganz von sich aus das Loblied der weiblichen Selbstlosigkeit anzustimmen begonnen und Kategorien wie Autonomie und Emanzipation – sozusagen die Flaggschiffe der Frauenbewegung in Europa – als überflüssig ad acta gelegt, weil das derzeit auf Instagram wieder en vogue ist? Hat man sie „Respekt vor dem Priester“ gelehrt ‑ egal was er tut? Wo waren die Mitschwestern in den Orden und neuen geistlichen Gemeinschaften, in deren Häusern sich jahrelange Vergewaltigungen durch geistliche Begleiter abgespielt haben? Die wörtliche Sprachlosigkeit der Opfer, die in den Interviews dokumentiert ist, wirkt nach: „Ich hatte keinen Namen dafür, was da passiert ist. Das Wort ‚Vergewaltigung‘ war noch nicht in meinem Kopf.“

Seit Jahrzehnten bemüht sich die katholische Theologie, hier allen voran die theologische Ethik, um einen anderen und erneuerten Umgang mit Sexualität. Dies betrifft nicht nur einen wertschätzenden Umgang mit Menschen, die in anderen Lebensformen als der traditionellen Ehe ihr Glück finden, wie ihn auch Papst Franziskus in seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Amoris Laetitia“ im Namen einer inklusiven Pastoral fordert. Es betrifft auch die geschlechteranthropologischen Grundlagen der Sexualethik. So ist in der Rezeption der Kategorie Gender das Paradigma der Komplementarität seit langem in Diskussion und mit ihm die metaphysische Überhöhung insbesondere einer festzementierten Weiblichkeitsideologie (neben asexueller Männlichkeit), die bar jeglichen Geschichtsbewusstseins ist. Die Kategorien Freiheit und Selbstbestimmung, die Doris Wagner in ihrem Buch zu Recht einfordert, hat die Amtskirche vor allem in Bezug auf Frauen bislang kaum zu denken gewagt.[6] Sie sind weder im spirituellen noch im moralisch-ethischen (u.a. auch im reproduktiven) Bereich wirklich präsent oder gar hoch geschätzt, sondern im Gegenteil: Selbstbestimmung und Autonomie ‑ noch dazu von Frauen ‑ stehen stets unter dem Generalverdacht, Einfallstore des Atheismus zu sein. Das Ergebnis einer solchen autonomiefeindlichen Mentalität, die sich in Handlungen und Haltungen gleichermaßen niederschlägt, sehen wir jetzt so deutlich wie nie zuvor.

Schon meine eigenen theologischen Lehrer kämpften während meines Studiums in Deutschland in den 90er Jahren mit Anzeigen aus Rom, wurden dorthin zitiert, distanzierten sich oder auch nicht (je nach persönlichem Leidensdruck), meldeten tapfer weiterhin strukturellen Reformbedarf an und legten Konzepte für eine neue Rolle von Frauen in Leitungsfunktionen oder auch der normativen Neubewertung insbesondere von Homosexualität vor. Ganz zu schweigen von all den Kolleginnen, die ihre Theologie abseits akademischer Institutionen betreiben mussten/müssen, weil sie niemals einen Lehrstuhl erhalten haben oder auch heute noch öffentlich für Publikationen gerügt werden.[7] Warum hat man sie diszipliniert oder suspendiert, ihnen mangelnden Glauben unterstellt und zum Gebet aufgerufen, anstatt endlich Reformen anzupacken? Etliche von ihnen sind bereits verstorben oder haben die Kirche mittlerweile verlassen.[8] Ich bin sicher: Sie stünden heute genau wie ich erschüttert und zornig vor dem Scherbenhaufen.

Mangelnde Konfliktkultur und eine angesichts von Menschenrechtsverletzungen in den eigenen Reihen weder nachvollziehbare noch zulässige Obrigkeitshörigkeit scheinen Teile der weltweiten katholischen Kirche bis heute zu prägen. Vor allem die seit Papst Johannes Paul II. hoch gelobten und finanziell geförderten Neuevangelisierungsgemeinschaften werden in der ARTE-Dokumentation explizit erwähnt. Dies kann Zufall sein, genaue Statistiken liegen nicht vor. Doch in der geschlossenen religiösen Welt derartiger Gemeinschaften, in der das Argument der „Selbstbestimmung von Frauen“ entweder niemals reflektiert oder als Ausdruck von „Kampffeminismus“ abgelehnt wird, herrschen hierarchisch-autoritäre Strukturen, die auch der Kennerin der katholisch-alltäglichen Pfarrwelt nicht gänzlich unbekannt sind: Das kollektive „Wir“ der von vornherein angeblich feststehenden Ansichten in moralisch-ethischen Fragen; das Ritual, das im Notfall alle in der kollektiven Umarmung des „Wir haben uns doch lieb und vergeben einander!“ erstickt, bis wegen Sauerstoffmangels keine/r mehr eine abweichende Meinung zu ventilieren vermag. Dies alles wird auch von „gläubigen Frauen“ mitgetragen, wie das neuerdings nun wieder heißt, um die „Gläubigen“ von den „Ungläubigen“ zu scheiden. Letztere sind vielfach längst gegangen. Anstelle ihrer Berufung zur Priesterin zu folgen, lassen sie sich nun als Ritualbegleiterin ausbilden und praktizieren ihr Christentum entweder in einer anderen Kirche oder oft einfach privat für sich allein bzw. im Rahmen neuer säkularer Spiritualitäten. Wer hat ihnen aufrichtig nachgeweint? Wer hat ihren Austritt überhaupt bemerkt und bedauert? Es ist wohl leider richtig: Keine der großen Religionen hat suchenden Frauen des 21. Jahrhunderts eine lang bestehende Tradition der Geschlechtergerechtigkeit zu bieten, wenngleich derzeit überall Aufbrüche zu verzeichnen sind.

Der „heilige Rest“, der nach dem Abgang solch „ungläubiger Frauen“ zurück bleibt, kann umso besser an normativen Leitsätzen festhalten, deren Begründung schon lange brüchig ist und die offensichtlich nicht einmal in der eigenen Kirche gelebt werden. Doch müssen sie mit Zähnen und Klauen verteidigt werden, weil sie zur Identität des katholischen Glaubens zu gehören scheinen und ihn gegen die angeblich stets drohende sexuelle Anarchie einer aufgeklärten Gesellschaft schützen. Vor allem aber: Weil sie Insignien verlorener klerikaler Macht sind und letztlich Ausdruck der permanenten Angst vor dem Körper und seinem Begehren: „Jede direkt angestrebte sexuell-genitale Lusterfahrung außerhalb der Ehe ist Sünde – teilweise sogar generell als peccatum grave, als schwere Sünde, angesehen.“[9] Solange solche Normsätze als eherne Wahrheiten verteidigt werden, wird sich nichts ändern. Unter der pastoralen Fassade der Barmherzigkeit bleibt die Ordnung angeblich göttlicher Wahrheiten unangetastet.

Ja, dieser Beitrag mag dem einen oder anderen zu Recht als polemisch erscheinen. Es fehlt ihm vermutlich an Distanz und wissenschaftlicher Kühle. Wenn man sich heute aber immer noch als katholische Theologin zu bezeichnen traut, hat man angesichts der mit Füßen getretenen vom Vatikan so oft beschworenen „Würde der Frau“ das Recht dazu. Und man hat die Pflicht zu sagen: Wenn die Entwicklung so rasant weiter verläuft wie bisher, wird die katholische Kirche in der westlichen Welt in ca. 1-2 Generationen nur mehr als sektiererische Randgruppe erscheinen, deren Frauenbild das 19. Jahrhundert widerspiegelt. Das wichtige Recht, in zentralen ethischen Fragen in der Gesellschaft mitzusprechen, hat die Kirche dann verwirkt. Sie kann sich dann noch rühmen, an zentralen Normsätzen der katholischen Morallehre festgehalten zu haben. Nur: Mit der Botschaft des Jesus von Nazareth und seiner Heilszusage Gottes für alle Menschen hat das alles rein gar nichts mehr zu tun.


Angelika Walser ist Universitätsprofessorin für Moraltheologie und Spirituelle Theologie an der Universität Salzburg.


[1] Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch. Freiburg 2019.  

[2] Vgl. die Redebeiträge der theologischen ExpertInnen zur Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe in Lingen 2019: https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/studientag-zum-thema-die-frage-nach-der-zaesur-zu-uebergreifenden-fragen-die-sich-gegenwaertig-stel/detail/ (Zugriff vom 28.3.2019)

[3] Rita Werden: Systemische Vertuschung. Zur Rede von Scham in den Stellungnahmen von Bischöfen im Kontext der Veröffentlichung der MHG-Studie, in: Magnus Striet: Unheilige Theologie 41-77.

[4] Vgl. die Sammlung von Zitaten ebd., 63 f.

[5] So beispielsweise die katholischen Bischöfe Kroatiens, welche seit Jahren Seite an Seite mit nationalistischen Gruppierungen die sog. „Istanbul-Konvention“ bekämpfen, die es sich zum Ziel setzt, Gewalt gegen Frauen zu einzudämmen.

[6] Magnus Striet: Ernstfall Freiheit. Arbeiten an der Schleifung der Bastionen, Freiburg 2018.

[7] So besonders prominent die katholische Ordensfrau Margaret Farley, deren Sexualethik „Just sex“ weltweit rezipiert worden ist, vor deren Publikationen der Vatikan aber ausdrücklich warnt.

[8] Prominent ist beispielsweise Doris Strahm, katholische Schweizer Theologin und Verfasserin zahlreicher Einführungswerke in feministische Theologie. https://www.feinschwarz.net/austritt-aus-der-katholischen-kirche-fuenf-fragen-an-doris-strahm/ (Zugriff vom 28.3.19)

[9] Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Normsatz traditioneller Moral, u.a. mit Blick auf seine historische Genese, findet sich beispielsweise schon bei Bernhard Fraling: Sexualethik. Ein Versuch aus christlicher Sicht, Paderborn 1995,106;158. Leider werden solche normkritischen Auseinandersetzungen bis heute kaum ernsthaft von der Leitung der katholischen Kirche rezipiert. Daran ändert auch das Lamento über die sexuelle Gewalt an Jugendlichen nichts.

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