14 Apr

Wer, wenn nicht wir? Über einen Topos der Klimadebatte

von Rudolf Schüßler (Bayreuth)


Wer, wenn nicht wir, soll die Klimakrise beheben, von der die Welt bedroht wird? Das ‚wir‘ in diesem Satz bezieht sich auf alle Menschen, wird aber oft genug auch für einzelne Staaten und Staatengruppen beansprucht. Angela Merkel meint die Deutschen, wenn sie fordert: Wer, wenn nicht wir. Aber weshalb sollten bestimmte Staaten mehr für den Klimaschutz leisten müssen als andere? Die Klimaethik nimmt in dieser Hinsicht vor allem die Industriestaaten in die Pflicht, die mehr Treibhausgase emittieren als andere Staaten. Allerdings lassen sich auf diesem Weg zunächst nur Prima-facie-Pflichten begründen, also in erster Annäherung geltende Pflichten, von denen noch gezeigt werden muss, dass sie auch in der konkreten Realität handlungsbindende Geltung haben. In diesem Blogbeitrag möchte ich auf eine gravierende Hürde für diesen letzten Schritt der Geltungsbegründung hinweisen. Die Unsicherheit der politischen Kooperation zwischen Staaten steht der verbindlichen Geltung besonderer Leistungspflichten von Industriestaaten im Weg.

Das wird Vielen nicht gefallen, die sich von der Moralphilosophie fraglose Unterstützung für die von ihnen bevorzugte Klimapolitik erwarten. Aber die Aufgabe der Moralphilosophie besteht, wie ich meine, vornehmlich in der nüchternen Analyse von Forderungen und Argumenten, auch dann, wenn das Ergebnis nicht allen zusagt. Es kann natürlich nicht darum gehen, die Existenz und anthropogene Verursachung der globalen Erwärmung in Frage zu stellen. Beide sind hinreichend belegt. Auch eine prima facie bestehende ‚abgestufte Verantwortung‘ (differentiated responsibility) von Industriestaaten, bei der Bewältigung der Klimakrise mehr als andere zu leisten, soll nicht bestritten werden. Pflichten aus historischer Verantwortung für längst vergangene Treibhausemissionen (vor 1990) sind zwar in der Fachdebatte kontrovers und niemand muss es als vernünftig geboten ansehen, sie anzuerkennen. Allein schon die auch seit 1990 höheren Pro-Kopf-Emissionen von Industriestaaten und deren höhere finanzielle Leistungsfähigkeit legen jedoch nahe, ihnen strengere Pflichten und größere Lasten beim Kampf gegen die globale Erwärmung zuzuschreiben. Das gilt jedoch nur prima facie, wobei mögliche entkräftende Gründe noch nicht berücksichtigt sind, und gerade dieser Punkt erweist sich als problematisch. Entkräftende Gründe sind nämlich in der gegenwärtigen Weltlage vorhanden.

Es gibt vor allem einen gewichtigen Grund, eine für jeden einzelnen Industriestaat prima facie bestehende Pflicht, in der Klimapolitik voranzugehen und die sich zuspitzende Klimakrise zu beheben, nicht auch hier und jetzt, alles in allem als geltend anzuerkennen. Es besteht keine Gewähr für die Kooperation hinreichend vieler Staaten, um die menschengemachte globale Erwärmung wirksam unter 1,5–2 Grad Celsius einzudämmen (gemessen im Vergleich zur vorindustriellen Periode). Ohne schnelles Handeln durch die USA, China, und vorgreifend auch Indien, wird sich die Klimakrise nicht ohne die Überschreitung der genannten Grenzen eindämmen lassen. Handeln diese Staaten nicht oder zu spät, hat alles, was die Deutschen oder Europäer sich auferlegen mögen, insbesondere wenn beim Klima irreversible Kippeffekte auftreten, kaum mehr als symbolische Bedeutung. Es entspricht dem Apfelbäumchen, das manche Menschen nach eigenem Bekunden noch am Vorabend der Apokalypse pflanzen würden. So viel inbrünstige Zuversicht mag beeindrucken, sie kann aber nicht Pflicht sein. In jeder geläufigen folgenorientierten Ethik sind Handlungspflichten mit der Aussicht auf Handlungserfolg korreliert, und es kann nicht verboten sein, sich eine solche geläufige Ethik zu eigen zu machen. Wenn der Setzling nach vernünftiger Erwartung nicht überleben wird, kann es nicht Pflicht sein, ihn zu pflanzen. Wie hoch ist also – emotionslos betrachtet – die Wahrscheinlichkeit, dass die weltweiten Großemittenten ihre Emissionen in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren aus freien Stücken soweit zurückfahren werden, dass die 1,5 oder 2 Grad-Ziele der UN Klimakonferenzen eingehalten werden können? Wenn ich mich nicht selbst belügen will, muss ich sagen, meines Erachtens sehr gering.

Wird das Vorbild der Deutschen oder der Europäer die anderen Großemittenten nicht zum Einlenken bewegen? Wird sich nicht überall eine Klimabewegung bilden, die alle Staaten zwingt, sich auf nachhaltige Emissionspfade zu begeben? Vielleicht. Das sind hehre Hoffnungen. Aber müssen alle vernünftig planenden Menschen erwarten, dass es so kommen wird, weshalb von ihnen gefordert werden kann, ihr Handeln auf die entsprechenden Erwartungen zu gründen? Wohl kaum. Weshalb sollte beim Klimaschutz gelingen, was mit Blick auf Armut und Gewalt nie gelang? In der Geschichte der Menschheit hat das Vorleben von Solidarität und Friedfertigkeit nie ausgereicht, auf breiter Basis die Armut zu besiegen oder den Frieden zu sichern. Es gab schon viele Gretas in der Menschheitsgeschichte, und viele Solidaritäts- und Friedensbewegungen. Die Gretas haben ihren Weg in die Heiligenlegenden gefunden, aber nicht die Probleme beseitigt, die sie so ergreifend beklagt haben. Wenn es einen Fortschritt der Menschheit hin zu weniger Armut und Gewalt gibt, wie manche Forscher behaupten, dann nicht durch Einsicht und Kooperation, sondern als indirekte Folge von sehr langsamen Prozessen der Modernisierung. Solche Prozesse reichen aber nicht aus, um eine akute Klimakrise oder gar einen Klimanotstand zu beheben.

Wenn die Welt in diesem zugegeben unromantischen Licht betrachtet wird, lässt sich das jede unmittelbare Geltung hemmende ‚prima facie‘ aus den besonderen Pflichten von Industriestaaten nicht ohne Weiteres entfernen. Die Lage ähnelt der eines Dorfes (in einer vergangenen Epoche), das durch das Anrücken einer marodierenden Armee bedroht wird. Gelingt es nicht, die Armee abzuwehren, hat das katastrophale Folgen für das Dorf. Eine Verteidigung hat aber nur Aussicht auf Erfolg, wenn hinreichend viele andere bedrohte Dörfer sich an dieser Aufgabe beteiligen. Es darf vernünftig erwartet werden, dass die Chancen hierfür gering sind. Weithin herrscht Fatalismus im Land. Nun mögen die kriegserfahrenen Männer im Dorf prima facie eine besondere Pflicht haben, ihr Dorf zu verteidigen – eine Pflicht, die beispielsweise über die der noch nicht kampferprobten Männer und Frauen (die bis vor Kurzem nicht Kriegsdienst leisteten) hinausgeht. Das heißt, jedoch nicht, dass die kriegserfahrenen Männer alles in allem verpflichtet sind, gegen eine übermächtige Armee ins Feld zu ziehen. Wenn nach vernünftigem Ermessen nicht erwartet werden muss oder sogar unwahrscheinlich ist, dass ausreichend viele Verteidiger zusammenkommen, dann müssen auch kriegserfahrene Männer sich nicht ohne Aussicht auf Erfolg opfern. Es ist dann zwar heroisch und von hohem symbolischem Wert, wenn doch einige dem Feind entgegen ziehen, aber dies kann nicht Pflicht sein. Alle Dorfbewohner dürfen erwägen, ob sie nicht lieber fliehen möchten oder darauf hoffen wollen, zu den Überlebenden zu gehören.

Gilt die angenommene Parallele zum Klimaschutz? Diese Frage verdient genauer diskutiert zu werden, als es hier möglich ist. Was gezeigt werden sollte, war lediglich, dass eine prima facie im Rahmen kollektiver Gefahrenabwehr bestehende besondere Pflicht, mehr als andere zu leisten, in Situationen der Unsicherheit über ausreichende Kooperation nicht ohne Weiteres eine alles in allem konkret geltende Handlungspflicht begründet.

Heißt das, dass ich den Versuch, die Klimakatastrophe noch aufzuhalten, als Traumtänzerei ansehe? Ich bin jedenfalls, wenn ich mich zwinge, die Lage nüchtern zu analysieren, skeptisch hinsichtlich des Erfolges. Nichtstun ist dennoch keine Alternative, deshalb gilt es nicht zuletzt auf klassische Instrumente zu setzen, die rationale Erwartungen hinsichtlich der Kooperation von Staaten begründen. Staaten sollten verbindliche Abkommen mit klaren Einsparungszielen für Treibhausemissionen abschließen. Wenn sich keine Staaten finden, die sich binden wollen, ist auch dies ein Datum, das wohlfeile moralische Rhetorik entlarvt. Es gilt dann, gezielt an den Voraussetzungen für verbindliche Klimabündnisse zu arbeiten. Der Vorschlag der EU-Kommissionspräsidentin, Einfuhrzölle für nicht klimagerecht produzierte Güter zu erheben, geht ebenfalls in die richtige Richtung.   


Rudolf Schüßler ist ist Professor für Philosophie (Lehrstuhl Philosophie II) an der Universität Bayreuth. Er arbeitet historisch zur frühneuzeitlichen Scholastik und zu Fragen der zeitgenössischen angewandten Ethik und Politischen Philosophie. Zu Fragen der Klimaethik und Energiepolitik hat er u.a. veröffentlicht: ‚A Luck-Based Moral Defense of Grandfathering‘, in L. Meyer and P. Sanklecha (eds.), Climate Justice and Historical Emissions, Cambridge University Press 2017, 141-164; ‚Non-Identity: Solving the Waiver Problem for Future People’s Rights‘, Law and Philosophy 35, 2016, 87-105; ‚Dynamic Properties of Energy Affordability Measures‘ (mit Peter Heindl), Energy Policy 86, 2015, 123-132.

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