13 Jun

Nachhaltigkeitspolitik in Thesen

Von Konrad Ott (Kiel)

Konrad Ott stellt den Zusammenhang zwischen Nachhaltigkeitspolitik und Corona-Krise in 43 prägnanten Thesen dar:

  1. Die Zeitlichkeit der Nachhaltigkeit hat drei Dimensionen: Chronos, Kinesis und Kairos.[1] Chronos ist die objektiv vergehende Zeit. Die Kinetik der erwünschten und unerwünschten, zu- oder abnehmenden Bestände definiert Indikatoren einer (nicht) nachhaltigen Entwicklung (Schadstoffe, Artenzahlen, Humusgehalt usw.). Der Kairos bezieht sich auf die günstige oder ungünstige Zeit des politischen Handelns. Er entspricht dem, was Politikwissenschaftler*innen „window of opportunity“ nennen.
  2. Es wurde seit den 1960er Jahren vor drohenden Umwelt- und Naturschädigungen durch den Metabolismus des Industriesystems gewarnt. Diese Warnprognosen füllen Bibliotheken. Trotz einiger Erfolgsgeschichten ist die Umweltpolitik den schadensträchtigen Entwicklungen zumeist nur „hinterhergehinkt“ und über Übelminimierung nur selten hinausgelangt. Viele einstmalige Nachhaltigkeitsziele in den Bereichen der Biodiversitätsstrategie, der Verkehrspolitik, dem Ausbau des ökologischen Landbaus und der Flächenumwandlung wurden verfehlt.
  3. Im Bereich des Klimaschutzes wurden die nationalen Ziele für 2020 (minus 40% CO2-Emissionen gegenüber 1990) knapp verfehlt. Der deutsche Reduktionskorridor bis 2050 ist anspruchsvoll; gleichwohl überschreitet Deutschland in diesem Zielkorridor das „carbon budget“, das zur Verfügung steht, wenn Deutschland seinen Beitrag zum globalen Ziel einer Erhöhung der globalen Mitteltemperatur nur um „well below 2°C“ gegenüber über vorindustriellen Temperaturen leisten will. Eine Berechnung des „carbon budget“ findet sich im neuen Gutachten des SRU.[2] Allerdings könnte durch eine aktive Senken-Politik das „carbon budget“ auch erhöht und die Überschreitung könnte durch negative Emission budgetär ausgeglichen werden. Hier ist insbesondere an sog. „natural climate solutions“ zu denken, durch die sich Ziele des Klima- und des Naturschutzes verbinden lassen (Moore, Wälder, Böden, Salzgraswiesen).    
  4. Die nachwachsenden Generationen haben gute moralische und darüber hinaus existentielle Gründe, eine andere Klima- und Umweltpolitik einzufordern. Die Lebensführung im Klimawandel wird zunehmend unberechenbarer. Wir sind Mitgliedern zukünftiger Generationen auch ein Niveau von durchschnittlicher Lebenssicherheit schuldig, das dem unsrigen entspricht.
  5. Es bestehen anno 2020 ernste Befürchtungen hinsichtlich sich überlagernder Krisen, die die politischen Kapazitäten demokratischer Rechtsstaaten u.U. überfordern könnten: Klimawandel, Wirtschaftskrise, Pandemie, Staatsverschuldung, Migrationsdruck, Hitze- und Dürreperioden, Ernterückgänge[3] usw. Die Resilienz sozialer Systeme ist derzeit angespannt.
  6. In geschichtlicher Betrachtung zeigt sich, dass die Verbindung von Klimawandel und Pandemien das antike römische Großreiche ökonomisch und außenpolitisch entscheidend schwächen konnten.[4] Es wäre Hybris, Ähnliches für moderne Staaten auszuschließen.
  7. Die durch den „lock down“ gestiegene psychische Anspannung (emotionaler Stress, Zukunftsängste) machen viele Menschen anfällig für Obskurantismus, Desinformation und den Botschaften der „terribles simplificateurs“ (Jacob Burckhardt). Es bedarf daher Reformvorschläge, die das Projekt der Moderne im Geist der Aufklärung fortschreiben.     
  8. Das Ziel der Überwindung der Covid-Pandemie darf nicht die Rückkehr zum „status quo ante“ sein. Hierüber herrscht in einer Fülle von Stellungnahmen aus dem Frühjahr 2020 weitgehend Einigkeit. Ein Zurück zur alten, vielfach defizitären Normalität wäre reaktionär.
  9. Die seltsame Koinzidenz von Covid-Pandemie und Frühjahrstrockenheit, die zum dritten Dürrejahr in Folge führen könnte, sollte von Staat und Gesellschaft als „Wink mit dem Zaunpfahl“ gedeutet und als „Kairos“ einer Entwicklung hin zu einer resilienten und nachhaltigen Entwicklung genutzt werden.
  10. Nachhaltigkeit und ökologisch-soziale Resilienz stehen im Verhältnis der Korrelation zueinander. Man kann beide Konzepte nicht isoliert voneinander, sondern nur wechselseitig begrifflich bestimmen.
  11. Die „schlechten“ Zeiten können Zeiten des „richtigen“ Handelns werden. Nachhaltigkeitspolitik verbindet den Kairos („jetzt“) mit langfristig ausgerichteten Reformen (Transformation).
  12. „Kairos“ ist Jetztzeit.
  13. Das Konzept „starker“ Nachhaltigkeit mitsamt dessen Regelwerk ist diskursrational vorzugswürdig.[5] Ethische Grundlagen dieses Konzepts sind intergenerationelle Gerechtigkeit und Umweltethik.[6] Der umfassende Schutz gilt den Naturkapitalien der Gesellschaft auf unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Skalen.[7]
  14. Der Grundsatz der Landethik Aldo Leopolds kann auf die Höhe der Gegenwart gehoben und im Sinne starker Nachhaltigkeit interpretiert werden. Er lautet: „In allen Fragen der Nutzung von Land, Wasser und Meer ist darauf zu achten, dass die Produktivität, die Resilienz und die Diversität des gesamten Naturhaushaltes erhalten und gefördert wird“.[8]
  15. Aus biblisch-religiöser Sicht kann ein neuer Zugang zu „Natur als Schöpfung“ performativ eingeübt werden.[9] Der sog. Unterwerfungsauftrag bedeutet im Urtext der Genesis: Im Segen als Zeichen/Mandatar inmitten der sehr guten Schöpfung auftreten dürfen.“
  16. Die methodischen Grundlagen der eher ökonomisch ausgerichteten Naturbewertung (Total Economic Value, Ecosystem Service Approach) haben in Verbindung mit vielen sozialwissenschaftliche Studien ergeben, dass viele Menschen die produktiven Leistungen, aber auch die Eigenart, Vielfalt und Schönheit der Natur stark wertschätzen.
  17. Ökonomisch betrachtet, ist die gesellschaftliche Nachfrage nach Naturschutz höher als das Angebot.  
  18. Die Gutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen zwischen 2002 und 2020 sind Fundgruben für Vorschläge, die Grundkonzeption starker Nachhaltigkeit politisch auf nationale und europäische Politikfelder zu übertragen und mit Zielen und Instrumenten zu untersetzen. Für die Gutachten des WBGU gilt ähnliches für die globale Ebene (Klima, Ozean, Biodiversität, Umwelt und Armut usw.).
  19. Die Begründungsprobleme sind weitgehend gelöst, Nachfrage und Programmatiken sind vorhanden, der „kairos“ wäre da. An gut begründeten Orientierungswissen fehlt es jedenfalls nicht. Was fehlt, ist der kollektive politischer Wille zu entsprechenden Anstrengungen.[10]
  20. Das Konzept der Nachhaltigkeit entspricht verfassungsrechtlich der Staatszielbestimmung des Art 20a GG, die alle staatlichen Gewalten zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch in Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen anhält. Art 20a GG enthält implizit einen Verbesserungsauftrag.
  21. Der Tierschutz gemäß Art 20a GG („und die Tiere“) erstreckt sich, da nicht auf domestizierte Tiere eingeschränkt, auch auf wildlebende Tiere und auf Kulturfolger. Dies begründet einen umfassenden Schutz von Habitaten.
  22. Der § 1 des BNatSchG enthält im Begriff des „eigenen Wertes von Natur und Landschaft“ einen Verweis auf physiozentrische und eudaimonistisch-kulturelle Naturschutzbegründungen. Dieser Verweis kann umweltethisch eingeholt werden.   
  23. Das institutionelle Gefüge für Nachhaltigkeitspolitik ist vorhanden. Es kann und soll in einer konzertierten Aktion jetzt dauerhaft aktiviert werden.
  24. Ausgangspunkt können drei vorhandene, eng aufeinander abzustimmende Strategien sein: Nachhaltigkeitsstrategie, nationale Biodiversitätsstrategie (NBS), deutsche Anpassungsstrategie (DAS). Diese Strategien sind trotz ermutigender Ansätze seit etwa 2008 durch den permanenten Krisenmodus von Politik in die Defensive geraten. Es bedarf keiner neuen Strategien, sondern der Reaktivierung der vorhandenen Strategien.  
  25. Zentrale politische Sektoren der Nachhaltigkeits-Strategie sind: Klima, Agrar, Forst, Gewässer, Naturschutz/Biodiversität, Mobilität, Stadtentwicklung, ökologische Steuer- und Finanzreform, Handelspolitik u.a.
  26. Anpassung an den Klimawandel ist ein Querschnittsthema von Nachhaltigkeitspolitik.
  27. Die Nachhaltigkeitsstrategie wird[11] von der Exekutive (Bundeskanzleramt) durch ein „green cabinet“ auf Staatssekretärsebene institutionalisiert. Es legt wissenschaftlich belastbare und normativ anspruchsvolle Sektorziele fest und definiert Aufgaben für die zuständigen Ministerien, die in Form der Ressortabstimmung verhandelt und umgesetzt werden.
  28. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft 2020 wird genutzt, „starke“ Umweltrichtlinien der EU-Kommission auf den Weg zu bringen. Die EU soll sich als „Netto-Null-Raum“ bezüglich der Treibhausgasemissionen institutionalisieren. EU-Beihilfen werden an Nachhaltigkeitszielen konditioniert.
  29. Nationale Hilfen für Covid-geschädigte Industriebranchen werden an Bedingungen geknüpft. Industrieverbände entwickeln entsprechende Selbstverpflichtungen, um Konditionen für staatliche Unterstützung zu erfüllen.    
  30. Der Umweltausschuss des Bundestags wird zum fraktionsübergreifenden parlamentarischen Arm der Integration der genannten Strategien. Das Parlament berät regelmäßig über Erfolge und Vollzugsdefizite der Nachhaltigkeitspolitik.  
  31. Die Bund-Länder-Ausschüsse übernehmen und spezifizieren die nationalen Ziele für die einzelnen Länder. Der Deutsche Städtetag nimmt sich der kommunalen Ebene an. Staatliche und kommunale Träger nehmen Vorbildfunktionen bei der Beschaffung, bei der Bewirtschaftung von Forsten und bei der Verpachtung von Agrarflächen ein. 
  32. Neuer „Öko-Räte“ bedarf es nicht. Die deliberativen Resonanzräume zwischen Staat und Zivilgesellschaft sind plural ausdifferenziert. Dort existiert eine Fülle an Konzepten, Strategien, Programmen, Instrumentarien etc.  
  33. Die Gremien der wissenschaftlichen Politikberatung (SRU, WBGU, RNH) arbeiten ihre vorhandenen Gutachten für die Integration der drei genannten Strategien auf. So wäre bspw. das Gutachten „Für eine Stärkung und Neuorientierung des Naturschutzes“ des SRU aus dem Jahre 2002 zu aktualisieren.
  34. Die staatlichen Ämter (BfN, UBA) definieren ihre Aufgaben gemäß dem Grundsatz: Verwaltung folgt Aufgaben. Die vorhandene Wissensbasis wird auf die Integration der Strategien ausgerichtet. Dies geschieht auch in den wissenschaftlichen Einrichtungen (ZALF, Geomar, Umweltzentrum Leipzig usw.).
  35. Die Gremien der Nachhaltigkeitsforschung (DKN, Leopoldina, BMBF, DFG) definieren neue Forschungsfragen. Hierbei kommen in Betracht: a) Potentiale von „natural climate solutions“ für Deutschland, b) Feuchtigkeitshaushalt angesichts von Klimawandel, c) Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit, d) Agro-Forestry-Systeme, e) Waldumbau, f) naturverträglicher Inland-Tourismus, g) Renaturierungspotentiale, h) Weideland, i) Stadtnatur u.v.m.  
  36. Die zivilgesellschaftlichen Verbände (NABU, BUND, DNR u.a.) werden angemessen beteiligt und restrukturieren ihre Arbeitsstellen entsprechend. Der Staat bietet (nach dem Modell der Naturerbe-Flächen) schutzwürdige Flächen zu Sonderkonditionen an.
  37. Die Finanzierung dieser Politik bedarf der Umschichtungen in vorhandenen Etats. Nachhaltigkeitspolitik darf nicht kreditfinanziert sein. Staatliche Budgets sind keine Besitzstände einzelner Ministerien.
  38. Deutschland stehen 28.8 Milliarden € aus dem Wiederaufbauprogramm der EU zu. Unabhängig davon, wie man dieses Programm europapolitisch bewertet, ist davon auszugehen, dass es verwirklicht werden wird. Deutschland investiert etwa ein Drittel seines Anteils in Nachhaltigkeits- und Naturschutzpolitik.
  39. Der nationale Lastenausgleich zur Minderung der Folgen der Covid-Pandemie (etwa ein erneuerter „Soli“ oder eine einmalige Vermögensabgabe) wird ebenfalls zum Teil in die Nachhaltigkeitsstrategie sowie in NBS und DAS investiert.   
  40. Es gibt keine finanzpolitischen Gegenargumente gegen Nachhaltigkeitspolitik (Folgerung aus 38 & 39).
  41. Die Covid-Pandemie hat die Resilienzschwächen neoliberaler Regime schonungslos bloßgelegt. Die soziale Marktwirtschaft hat sich in der Pandemie besser bewährt. Sie wird im kommenden Jahrzehnt zum nachhaltigen Ordo-Liberalismus weiterentwickelt.   
  42. Die Epoche des Neo-Liberalismus ist vorüber.
  43. Realistische Utopie (im Sinne von John Rawls) im Ausblick: eine den „Kairos“ nutzende, demokratische, resiliente und umfassend nachhaltige Postwachstumsgesellschaft auf nationaler und auf EU-Ebene schaffen und Unterstützung leisten für einem „Wettbewerb der Kontinente“ um die besten (Aus)wege im Anthropozän.


[1] Bernd Klauer et al.: „Die Kunst langfristig zu denken“, Baden-Baden 2012.

[2] Sachverständigenrat für Umweltfragen: „Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa“, Berlin 2020.

[3] Die deutschen Getreideernten sind seit Jahren rückläufig. Die Höchsternte von 27.415.000 Tonnen Weizen wurde 2014 erzielt. 

[4] Hierzu Kyle Harper: „Fatum“, München 2020.

[5] Konrad Ott, Ralf Döring: „Theorie und Praxis starker Nachhaltigkeit“, Marburg 2011. Man sehe mir die Selbstverweise nach; jede Angabe enthält weitere Literaturverweise.

[6] Zur Umweltethik siehe Konrad Ott: „Umweltethik zur Einführung“, Hamburg 2010; Konrad Ott, Jan Dierks, Lieske Voget-Kleschin (Hg.): „Handbuch Umweltethik“, Stuttgart 2016.

[7] Hierzu Konrad Ott: „Zur Dimension des Naturschutzes in einer Theorie starker Nachhaltigkeit“, Marburg 2015). Die Aufsätze behandeln konzeptionelle Fragen des Naturschutzes sowie die Themen Biodiversität, Wildnis, Moorschutz, Renaturierung u.a.

[8] Hierzu Barbara Neumann, Konrad Ott, Richard Kensington: „Strong sustainability in coastal areas: a conceptual interpretation of SDG 14”, Sustain Sci 12: 1019-1035.

[9] Hierzu Christof Hardmeier, Konrad Ott: „Naturethik und biblische Schöpfungserzählung“, Stuttgart 2015.

[10] Hierzu Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch?“, München 2020.

[11] Der Einfachheit halber sind die folgenden Soll-Bestimmungen indikativisch formuliert.


Konrad Ott wirkte von 1997 bis 2012 als Professor für Umweltethik an der Universität Greifswald und ist seitdem als Professor für Philosophie und Ethik der Umwelt an der Universität Kiel tätig.

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