27 Feb

Greta Calling. Warum es eine Philosophie der Klimakrise braucht.

von Fritz Reusswig (Potsdam)


Die Philosophie hat die Klimakrise noch nicht einmal interpretiert. Aber es kommt darauf an, die Philosophie zu ändern. Damit uns die Änderung der Verhältnisse nicht misslingt, die zur Klimakrise geführt haben. Denn ohne das auch philosophisch reflektierte Begreifen der Krise und ohne die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses der erforderlichen Lösungen wird Greta Thunberg vergeblich zur Panik aufgerufen haben.

Um die Behauptung, die Klimakrise bedürfe der philosophischen Reflexion zu begründen, muss deren Charakter kurz erläutert und dann auch dargetan werden, warum es mit den Klimawissenschaften allein nicht getan ist- so wichtig sie auch sind.

Meine erste These in diesem Zusammenhang lautet: Die Entdeckung des anthropogenen Klimawandels durch die Klima(folgen)forschung war nicht nur ein innerwissenschaftlicher Fortschritt, sondern hatte bereits erhebliche ökonomische, soziale und politische Implikationen. Denn indem gezeigt werden konnte, dass (1) die Verbrennung fossiler Energieträger über die Freisetzung von CO2 die Erdatmosphäre zusätzlich (über den natürlichen Treibhauseffekt hinaus) erwärmt, und dass (2) diese zusätzliche Erwärmung eine Fülle negativer, teilweise sogar katastrophischer Folgen haben würde, verwandelte die Forschung quasi über Nacht private Kapitalgüter (private goods) in öffentliche Probleme (public bads). Gestern noch waren Öl-, Gas- oder Kohlevorräte im Rahmen einer davon abhängigen Weltwirtschaft am Finanzmarkt beleihbare Kapitalstöcke, heute erweist es sich, dass es für Mensch und Natur ungleich besser wäre, wenn sie im Boden verblieben. Klimaforschung als Kapitalentwertung. Das ist sozusagen der polit-ökonomische Hintergrund der Entstehung des Klimaleugnertums, bisweilen auch euphemistisch „Klimaskeptizismus“ genannt.

Lange Jahre war das offen auftretende, also auch medial und politisch codierte Klimaleugnertum eine Prärogative des Klimadiskurses in den USA oder Australien. Mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus in Europa hat es aber auch in der alten Welt Fuß gefasst. Die AfD betrachtet den Klimawandel als natürlich, hält Klimapolitik daher für falsch, und verteidigt das fossil-atomare Energiesystem der Vergangenheit. Und sie verteidigt „unseren Lebensstil“, etwa indem sie sich vehement gegen die umweltpolitisch motivierte Kritik am Diesel oder am Fleischverzicht wendet. Die Klimaforschung wird als unsachlich, als fünfte Kolonne einer links-grünen Weltverschwörung diffamiert, Bewegungen wie Fridays for Future offen verspottet oder verunglimpft. Der Unternehmer und Meteorologe Jörg Kachelmann zum Beispiel, der von „Gretins“ spricht, wenn er F4F-Aktivist*innen meint (https://www.weltwoche.ch/ausgaben/2019-28/artikel/titel-die-weltwoche-ausgabe-28-2019.html).

Meine zweite These lautet daher: Wir sind Zeugen eines fragmentierten und stark polarisierten Klimadiskurses, den es in dieser Form vor noch ca. 2-5 Jahren nicht gegeben hat. Während neue Organisationen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion lautstark und wirksam die weltweite Klimakrise wieder auf die öffentliche und politische Agenda gesetzt haben, bestreiten (rechts-) populistische Akteure wie die deutsche AfD den anthropogenen Klimawandel und rufen zur aktiven Verteidigung des bestehenden Produktions- und Konsummodells auf. Beide „Parteien“ ringen um die Unterstützung der „schweigenden Mehrheit“, an deren Haltung sich letztlich entscheidet, ob die Klimakrise politisch bewältigt werden kann.

Meine dritte These lautet: K1 ≠ K2. Es ist sinnvoll und erforderlich, zwischen zwei Bedeutungen des alltagssprachlichen Verständnisses von „Klimawandel“ zu unterscheiden. Klimawandel im engeren Sinne (K1) umfasst den naturwissenschaftlich beschreibbaren Kern der physikalischen und chemischen Dynamik der Erdatmosphäre, einschließlich der Emission von Treibhausgasen sowie der Folgen von Klimaänderungen auf Natur und Gesellschaft. Aber viele Streitpunkte des gesellschaftlichen Klimadiskurses beziehen sich auf den Klimawandel im weiteren Sinne (K2), also auf die gesellschaftlichen, technisch vermittelten Ursachen und Gründen dafür, dass weltweit die Treibhausgasemissionen steigen, auf die kulturellen Rahmungen und Deutungen von K1, sowie auf die vielfältigen technischen, ökonomischen und sozialen Antworten auf den Klimawandel, also im Kern auf Klimaschutz- und Klimaanpassungspolitik.

Basierend auf dieser Unterscheidung lautet meine vierte These: Streitfragen zu K1 lassen sich weitgehend durch Rekurs auf den anerkannten Stand der Wissenschaft auflösen, Streitfragen zu K2 weitgehend nicht. Natürlich gibt es auch im Bereich von K1 jede Menge wissenschaftliche Unsicherheiten und einige offene Fragen – und hier können Philosoph*innen durchaus konstruktiv mitdiskutieren (vgl. Bradley et al. 2017). Aber sie werden aller Voraussicht nach im weiteren „normalwissenschaftlichen“ Forschungsprozess gelöst werden. Und die wichtigsten Kernaussagen, (es wird wärmer, der Mensch ist verantwortlich, es wird schlimme Folgen haben, wenn wir nichts tun), sind unabhängig von diesen Restfragen konsensuell beantwortet – mit viel höheren Sicherheiten und Wissenschaftskonsensen übrigens, als in vielen anderen Wissensgebieten, in denen Menschen (auch Klimaleugner) üblicherweise problemlos der „unsicheren“ Wissenschaft vertrauen (Krebsforschung z.B.).

Genau das aber ist mit Blick auf Fragen zu K2 nicht der Fall. Ein Paar willkürlich herausgegriffene Beispiele: Sollen wir in Zukunft auf batterieelektrische Fahrzeuge setzen, oder wird es eher doch der Wasserstoffantrieb werden müssen? Sollen wir die Bestandsgebäude radikal und schnell energetisch sanieren (so fordert es etwa F4F), oder sollen wir lieber die Wärmeversorgung „grüner“ machen, um die Mieter*innen nicht zu überfordern? Sollen wir eine CO2-Steuer einführen, oder ist es doch besser, ein effektives Emissionshandelssystem aufzubauen? Hier sind die Naturwissenschaften weitgehend am Ende ihrer Zuständigkeit, hier beginnt die Domäne der Sozialwissenschaften. Aber in den aus strukturellen Gründen komplexeren und multiparadigmatischen Sozialwissenschaften sind Konsense wie z.B. der zur Frage der Klimasensitivität äußerst selten und auch zukünftig kaum zu erwarten. Man frage zwei Ökonom*innen über die Frage CO2-Steuer versus Emissionshandel und man bekommt mindestens drei Antworten.

Ganz zu schweigen von den zugrundeliegenden moralischen und politischen Fragen. Die Naturwissenschaften können uns sagen, was 2 Grad mehr Erwärmung etwa mit den Korallenriffen macht, und die Sozialwissenschaften können dann ausrechnen, welche ökonomischen Schäden damit einhergehen. Aber wie bewerten wir die zusätzlichen Hitzetoten einer globalen Erwärmung? Und wie „schlimm“ bewerten wir hier die Gefahr eines Korallensterbens, wenn der Preis dafür, dieses zu verhindern, 2 € mehr Kaltmiete pro Quadratmeter ist oder ein Fahrverbot in den Innenstädten? Und wie wägen wir mögliche Zielkonflikte ab zwischen – um nur ein Beispiel zu nehmen – dem erforderlichen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und dem Schutz von Landschaft, Natur und Artenvielfalt?

Deshalb lautet meine fünfte These: Viele Argumente und Debatten, in denen klimaskeptische Positionen geäußert werden, beziehen sich gar nicht auf K1, sondern bringen Konflikte, Unsicherheiten und offene Fragen mit Blick auf K2 zum Ausdruck – ohne sie explizit zu benennen. Häufig ist der Klimaskeptizismus/-leugnertum nur das Deckbild ganz anderer Fragen und Probleme – die Leute verhandeln im Diskursraum von K1 Probleme und Kritik, die eigentlich in den Diskursraum von K2 gehören und dort meist auch ihren Ursprung haben. Es gibt zwei Hauptgründe für diese Diskursverschiebung – die den meisten Beteiligten oft selber gar nicht klar ist: (1) Die ganze Klimadebatte ist seit ihren Anfängen stark wissenschaftlich ge- und überprägt, (2) im „Spiel des Gebens und Nehmens von Gründen“ (Wilfried Sellars) ist die gesellschaftlich als neutral (weil interessenfrei) codierte Stellung der Wissenschaft ein starkes Argument für die Richtigkeit der eigenen Position – was immer sonst deren Interessenfundierung sein mag.

Wenn das so ist, dann sollten wir – so meine sechste These – nicht mehr länger versuchen, die in der Gesellschaft weit verbreiteten Fragen zur und Zweifel an der Energie- und Klimapolitik durch noch mehr „Faktenorientierung“ und die Verbesserung der scientific literacy der Bevölkerung in puncto K1 zu bekämpfen. Um auch hier nicht falsch verstanden zu werden: Natürlich brauchen wir Fakten dort, wo es angebracht ist, und natürlich ist es erstrebenswert, dass möglichst viele Menschen die Zusammenhänge von K1 verstehen. Insbesondere dort, wo klar interessengeleitete populistische Diskursstrategien die „schweigende Mehrheit“ durch „Fake News“ & Co. zu ihrer eigenen Position herüberziehen wollen (vgl. hierzu ein schöner Ansatz aus Finnland:, für den Klimabereich vorbildlich: www.klimafakten.de oder auch https://scilogs.spektrum.de/klimalounge). Aber wo es um Mietentwicklung, Fahrverbote, Fleischverzicht, Landschaftsbilder oder Stadtgestaltung geht hilft mehr Klimawissen einfach nichts.

Was aber hilft dann? Stichwortartig gesagt – und das wäre dann die siebte These: Offenlegen der Probleme und Fragen statt deckbildhafter Stellvertreterdebatten, Entwicklung einer demokratischen Streitkultur, stärkere Responsivität und Verantwortungsübernahme der politischen und ökonomischen Eliten, Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch partizipativere Formen der Entscheidungsfindung.

Wenn ich mit den bisher geäußerten sieben Thesen nicht falsch liege, dann folgt als achte These die Behauptung, dass die Klimadebatte dringend mehr philosophisches Engagement braucht. In seiner „Differenzschrift“ aus dem Jahr 1802 schreibt Hegel den tiefsinnigen Satz „Wenn die Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwunden ist, beginnt das Bedürfnis nach Philosophie“. In der Klimadebatte ist es jetzt soweit: der Geist der Vereinigung – wenn es ihn je gab – hat dem Geist der Entzweiung Platz gemacht. Daher ist es spätestens jetzt auch ein guter Zeitpunkt, sich philosophisch mit dem Klima – und uns als „Verursachern“, „Opfern“ und „Helfern“ – zu befassen. Sie wird in dieser Debatte dringend gebraucht, weil es sich keineswegs um irgendeine fachpolitische Diskussion handelt, sondern um eine selbstverschuldete Krise der gesellschaftlichen Naturverhältnisse auf globaler Skala – und mit der durchaus nicht ganz unrealistischen Perspektive einer Selbstauslöschung der Menschheit.

Dies anzuerkennen heißt, gedanklich ins Anthropozän einzutreten – in dasjenige Erdzeitalter also, in dem der Mensch nicht mehr länger einen nur räumlich und zeitlich begrenzten „Störfaktor“ einer im Kern unverwundbaren Natur darstellt (das sieht heute nur noch die AfD so), sondern ihn als global-ökologische Kraft anzuerkennen. Eine Kraft allerdings, die keinem klugen Plan folgt, sondern sich als Akkumulation ungeplanter Nebenfolgen planvollen Handelns darstellt. Im Anthropozän gerät der Mensch unter die globale Herrschaft der Nebenfolgen seiner Produktions- und Konsummuster und deren politischer Regulierung.

Der Begriff des Anthropozäns enthält deshalb eine deutlich kritische Note. Anders gewendet: Auf der Höhe eines wirklich „aufgeklärten“ Begriffs des Menschen wäre das Zeitalter der Menschheitsherrschaft (Anthropozän) erst dann angebrochen, wenn es der Menschheit gelungen sein wird, die Herrschaft der ungeplanten Nebenfolgen eines fossil dominierten Entwicklungspfads zu beenden, die Antriebskräfte des anthropogenen Klimawandels zu beseitigen und große Teile der Menschheit vom Bann desaströser Klimafolgen – also vom Bann einer über Naturkräfte „umgeleiteten“ Selbstzerstörung  – zu befreien. Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unverantwortlichkeit vollendet sich also erst dann, wenn die Ziele des Pariser Klimaabkommens erreicht sein werden. Bis dahin muss fraglich bleiben, ob es wirklichen Fortschritt gegeben hat. Neuere und schönere Handys können über das Ausbleiben dieses Fortschritts, an dem zuletzt auch das Überleben der Gattung hängt, nicht wirklich hinwegtrösten.


Fritz Reusswig arbeitet am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) mit den Schwerpunkten Klimadiskursanalyse und urbane Transformationen. Er studierte Soziologie und Philosophie an der J.W. Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Diplom 1984 mit einer Arbeit über Adornos Negative Dialektik, Promotion 1992 mit einer Arbeit über den Subjektbegriff in Hegels System, Habilitation 2008 an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über die ökologischen Folgen moderner Lebensstile.


Literaturhinweis

Richard Bradley, Roman Frigg, Katie Steele, Erica Thompson, und Charlotte Werndl (2017): Philosophie der Klimawaissenschaften. In: Lohse, Simon; Reydon, Thomas (Hrsg.): Grundriss Wissenschaftsphilosophie: Die Philosophie der Einzelwissenschaften. Hamburg, Meiner, S. 381-411.

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