25 Jun

Welche Form elterlicher Fürsorge ist angesichts der Autonomierechte von Kindern moralisch legitim?

von Léonie Droste (Zürich)


Eltern, die ihr Kind ohne dessen normativ relevante Zustimmung taufen lassen, handeln moralisch falsch. Das Recht der Eltern, über die Lebensgestaltung ihres Kindes zu bestimmen, muss, um moralisch gerechtfertigt zu sein, nicht nur die Fürsorge-, sondern auch die Autonomieinteressen des Kindes berücksichtigen. Letztere bestehen nicht allein aus dem Interesse an einem zukünftigen autonomen Zustand, sie schließen auch das aus liberaler Sicht fundamentale Interesse ein, im Hinblick auf das eigene Leben nicht zum Objekt fremder Wertvorstellungen gemacht zu werden.

Dieses Interesse wird vom Recht auf Achtung der Autonomie, bei der es sich um einen moralischen Status handelt, geschützt. Den Konflikt zwischen Autonomie und Fürsorge, der sich im Hinblick auf Kinder ergibt, versucht Matthew Clayton mithilfe einer Analogie zwischen Eltern-Kind- und Staat-Bürger*innen-Verhältnis, und der Option ‚retrospektiver Zustimmung’, zu lösen. Sein Ansatz mündet in der Forderung ‚parentaler Neutralität’. Dafür wurde er vielfach kritisiert.[1]

Im Rahmen einer liberalen Gesellschaft stellt sich jedoch in der Tat die Frage, ob die strittigen Wertvorstellungen bestimmter Personen – in dem Fall: der Eltern – zur Grundlage der Lebensgestaltung anderer Menschen – der Kinder – werden dürfen, insofern hier ein asymmetrisches und nur einseitig freiwilliges Abhängigkeitsverhältnis besteht. Wenn wir uns der Achtung von Autonomie moralisch verpflichtet fühlen, können wir die Autonomierechte von Kindern nicht ignorieren.

Kinder haben Autonomierechte

Autonomie als moralischer Status kann verstanden werden als die Garantie des moralischen Rechts, (1) für sich selbst entscheiden zu können, was ein wertvolles Leben oder eine wertvolle Handlung ausmacht, und (2) gemäß der – eigenen und unabhängigen[2] – Werturteile zu leben bzw. zu handeln.

Vom Gedanken moralischer Egalität ausgehend, kann die Zuschreibung einer solchen Autonomie nicht auf Grundlage einer bei unterschiedlichen Menschen unterschiedlich ausgeprägten Kompetenz erfolgen. Wäre dies der Fall, dann müssten wir allen werturteilsinkompetenten Menschen – unabhängig von ihren weiteren Eigenschaften, etwa dem Alter – den besagten Status und dementsprechend das mit Autonomie assoziierte Recht versagen. Wir nehmen aber an, dass dieses Recht etwas schützt, das von fundamentalem Wert für ein gelingendes menschliches Leben – und somit für alle Menschen wertvoll – ist.

Für die als Status verstandene Autonomie ist irrelevant, ob ein Mensch von seinem moralischen Recht Gebrauch macht oder machen kann. Entscheidend ist, dass er mit dem Status, ein autonomes Wesen zu sein, ein Schutzrecht genießt: Andere dürfen ihre Werturteile nicht zur Grundlage seines Lebens bzw. seiner Handlungsspielräume machen. [3]

Neben dem Recht auf Achtung der Autonomie als moralischem Status sollten zwei weitere Autonomierechte angenommen werden. Diese beziehen sich auf Autonomie als potentiellem Zustand: Erstens ein Recht auf Lebensbedingungen, welche die für einen autonomen Zustand notwendige Fähigkeit – Werturteilskompetenz – nicht unterminieren bzw. die Ausbildung derselben nicht verhindern, und zweitens ein Recht auf jene Handlungsfreiheit, die notwendig ist, um die eigenen, unabhängigen Werturteile in autonome Handlungen überführen zu können.

Kinder haben ein Recht auf Fürsorge

Dass Kinder einen grundsätzlichen Anspruch auf Handlungsfreiheit haben, mag aus dreierlei Gründen erstaunlich anmuten. Erstens verfügen (insbesondere kleine) Kinder noch nicht über zuverlässige moralische Kompetenzen. Sie müssen erst lernen, dass auch andere Menschen moralische Ansprüche haben und dass ihre Handlungsfreiheit dementsprechende Grenzen hat.

Zweitens ermangeln Kinder jener Erfahrungswerte, die notwendig sind, um sich in einer von Erwachsenen errichteten und strukturierten Welt zurechtzufinden. Kinder haben sich über vieles noch kein Urteil gebildet bzw. bilden können. Auch die Fähigkeit, eigene Schädigung vorauszusehen und diese gegenüber anderen Zielen und Gütern zu gewichten, wird erst nach und nach ausgebildet.

Drittens sind Kinder in vielerlei Hinsicht hilfsbedürftig. Viele Handlungs- und Lebensgestaltungsoptionen liegen außerhalb ihrer Reichweite. Das betrifft die Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Kleidung, den Zugang zu Orten und Räumen, den Zugriff auf Gegenstände und die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Bei all diesen Dingen sind Kinder auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen.

Moralische Inkompetenz, Vulnerabilität und Hilfsbedürftigkeit sollten nicht dazu führen, dass Kindern der moralische Anspruch auf Urteils- und Handlungsfreiheit verwehrt wird. Allerdings begründen diese Eigenschaften ein weiteres, überwiegend Kindern zugesprochenes Recht: Das Recht auf Fürsorge.  Dieses begründet die Fürsorgepflicht der Eltern, die, um ihrer Pflicht nachkommen zu können, ihrerseits mit einem Recht ausgestattet sind: Dem Recht, das Leben ihres Kindes maßgeblich zu gestalten.[4]

Fürsorge bedeutet nicht, grundsätzlich und in jedem Fall für bzw. an Stelle des Kindes zu entscheiden. So können Fürsorge und Autonomie-Achtung zusammenfallen: Einerseits ist es ein Autonomierecht der Kinder, Lebensbedingungen vorzufinden, die zur Werturteilskompetenz-Entwicklung beitragen und ihre möglicherweise bereits vorhandene Werturteilskompetenz nicht unterminieren, andererseits ist es Ausdruck der Fürsorge, Kinder, soweit sie dazu fähig sind, eigene, unabhängige und potentiell handlungswirksame Werturteile fällen zu lassen, damit diese die geforderte ausbauen und festigen können.

Der eigentliche Konflikt zwischen Fürsorge und Autonomie zeigt sich an anderer Stelle. Denn problematischer als das Einräumen gradueller, am Entwicklungsstand bemessener Urteils- und Handlungsfreiheit, ist die Abwägung zwischen Fürsorge und Autonomie als moralischem Status, also die Tatsache, dass Eltern einerseits fürsorgepflichtig sind, ihre Kinder aber andererseits das Recht haben, nicht zum Gegenstand elterlicher Wertvorstellungen zu werden, was bedeutet, dass die parentalen Werturteile nicht zur Grundlage des Lebens und der Handlungsspielräume der Kinder werden dürfen.

Claytons Argument für parentale Neutralität

Fremde Wertvorstellungen können mittels Zustimmung zu eigenen Wertvorstellungen werden. Dazu muss die Zustimmung bestimmte Kriterien erfüllen. Nun ist es aber gerade die normativ aufgeladene Form der Zustimmung, zu der (wenigstens kleine) Kinder noch nicht in der Lage sind. Clayton begegnet diesem Problem mit dem Vorschlag einer ‚retrospektiven Zustimmung’: Kinder können die Wertvorstellungen ihrer Eltern, bzw. die auf diesen basierenden Erziehungsprinzipien, bejahen, wenn sie erwachsen sind und auf ihre Kindheit zurückblicken. Erfolgt eine solche Zustimmung, dann ist die Autonomie der Kinder, rückblickend betrachtet, nicht verletzt worden.

Nicht-Verletzung kindlicher Autonomie ist mit Clayton Voraussetzung dafür, dass die Gestaltungshoheit von Eltern über das Leben ihres Kindes legitimiert werden kann. Die offenkundige Schwierigkeit von Claytons Vorschlag besteht in der Notwendigkeit einer Voraussage, welchen Wertvorstellungen retrospektiv zugestimmt werden wird. Im Rahmen einer liberalen Gesellschaft, in der es einen irreduziblen Wertepluralismus gibt, ist ein Konsens bzgl. der richtigen Wertvorstellungen ebenso unmöglich wie eine Vorhersage darüber, welche Wertüberzeugungen ein Kind im Erwachsenenalter retrospektiv bejahen wird.

Insofern bereits die mit einer bestimmten Handlung einhergehende Wahrscheinlichkeit, Autonomie zu verletzen, diese Handlung moralisch falsch macht, muss parentale Fürsorge unausweichlich in falschen Handlungen und Entscheidungen münden. Doch Clayton zeigt einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Fürsorgepflicht der Eltern einerseits und dem Autonomiestatusrecht der Kinder andererseits. Dafür stützt er sich auf eine Analogie zwischen Eltern-Kind- und Staat-Bürger*innen-Verhältnis. Beide Verhältnisse sind seiner Beschreibung nach: unfreiwillig, von Zwang bestimmt, in entscheidender Weise prägend für die Lebensgestaltung, und maßgeblich für die zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen.

John Rawls hatte in Political Liberalism (1993) gezeigt, dass die Autonomie der Bürger*innen eines liberales Staates solchen Umständen zum Trotz geachtet und die Staatsmacht daher gerechtfertigt werden kann. Von diesem Gedanken ausgehend, argumentiert nun Clayton: Insofern es dem Staat möglich ist, die Autonomie seiner Bürger*innen zu achten, indem sich politische Maßnahmen auf das beschränken, was wertneutral gerechtfertigt – und deshalb von allen Bürger*innen befürwortet werden kann –, ist es Eltern möglich, die Autonomie ihrer Kinder zu achten, indem sich ihre Fürsorge auf das beschränkt, was wertneutral gerechtfertigt werden kann.

Clayton nimmt mit Rawls an, dass es in einer liberalen Gesellschaft neben den aus einem irreduziblen Wertepluralismus resultierenden strittigen Werturteilen auch unstrittige geben muss. Das sind Urteile, die, in Rawls’ Terminologie, aus dem ‚öffentlichen Vernunftgebrauch’ hervorgehen und zu denen ein ‚übergreifender’ oder ‚überlappender’ Konsens möglich ist. Gemeint sind jene moralischen Grundsätze, auf denen die liberale Gesellschaft beruht: Das Bekenntnis zur moralischen Gleichwertigkeit aller Menschen, die wechselseitige Achtung von Autonomie, und die Anerkennung von Gerechtigkeit als leitendem Wert.

Unstrittig sind diese Grundsätze, insofern es im Interesse der Menschen ist, in einer liberalen Gesellschaft zu leben, die ihnen Autonomie zugesteht; denn dann ist es konsequenterweise auch im Interesse dieser Menschen, die moralischen Grundsätze anzuerkennen, die einer solchen Gesellschaft zugrundliegen. Strittig sind hingegen jene Wertvorstellungen, die auf weiteren ethischen, religiösen bzw. atheistischen oder weltanschaulichen Überzeugungen, und entsprechenden Konzeptionen des Guten, beruhen.

Mir scheint die Vergleichbarkeit von elterlicher Fürsorge und staatlicher Versorgung fragwürdig zu sein. Nichtsdestoweniger können Claytons Überlegungen zur Legitimität parentaler Macht dabei helfen, zu verstehen, dass manche Praktiken elterlicher Fürsorge, obgleich sie im Interesse des Kindes stattfinden, moralisch problematisch sind – so etwa die Taufe von Säuglingen und Kleinkindern.

Legitime Fürsorge hat Grenzen

Nicht alle Wertvorstellungen, die Kindern vorgegeben werden, sind gleichermaßen moralisch problematisch. Insofern wir die Zustimmung zu den moralischen Grundsätzen, auf denen das liberale Miteinander beruht, unseren erwachsenen Mitbürger*innen unterstellen bzw. die Akzeptanz dieser Grundsätze von ihnen erwarten – unabhängig davon, ob sich unsere Mitbürger*innen diese Wertvorstellungen tatsächlich zu eigen machen –, erscheint es legitim, bei Kindern ebenso zu verfahren. (Mit Rawls ist es die Zustimmung vernünftiger Bürger*innen, die entscheidend ist, um staatliche Maßnahmen als moralisch legitim auszuweisen.)

Das Bekenntnis zur Gleichwertigkeit aller Menschen, die wechselseitige Achtung von Autonomie, und die Anerkennung von Gerechtigkeit als leitendem Wert – diese moralischen Grundsätze können im Hinblick auf ein liberal verfasstes Miteinander als verbindliche Vorgaben gerechtfertigt werden, weil sie mit der Autonomie (vernünftiger) liberaler Bürger*innen im Einklang stehen. Als Richtschnur elterlicher Fürsorge sind die genannten Grundsätze allerdings dürftig. So ist das Recht auf Fürsorge, das Kinder haben, mehr als ein Recht auf moralische Erziehung; es ist überdies ein Recht auf Hilfe und ein Recht auf Schutz – vor Anderen und vor sich selbst.

Elterliche Fürsorge, die unter liberalen Gesichtspunkten gerechtfertigt werden kann, ist an der empirischen Forschung zum Kindeswohl orientiert. Auch bei einer solchen Fürsorge kommt man nicht umhin, bis zu einem gewissen Grad Werturteile einzubeziehen. So muss z.B. die Ausbildung künftig notwendiger Kompetenzen gegenüber den Gütern der Kindheit abgewogen werden. Das Ausmaß legitimer Werturteile ist dabei allerdings auf das beschränkt, was das Wohlergehen von Kindern nachweislich fördert. Aus der Anerkennung einer solchen Fürsorge als moralisch legitim folgt, dass Kinder paternalisiert werden dürfen. Dies aber nur insoweit als dies den empirisch prüfbaren Annahmen zum Kindeswohl entspricht.

Clayton geht davon aus, dass eine wissenschaftlich fundierte Fürsorge die Autonomierechte von Kindern achtet. Dazu muss er jedoch annehmen, dass Kinder dieser Fürsorge im Erwachsenenalter retrospektiv zustimmen werden. Aufgrund des hypothetischen Charakters retrospektiver Zustimmung, und dem Problem der (klein-)kindlichen Unfähigkeit zu einer normativ gehaltvollen Form der Zustimmung, schlage ich eine alternative Rechtfertigungsstrategie vor: Die Autonomie von Kindern darf graduell verletzt werden, wenn und nur wenn dies dem empirisch überprüfbaren Kindeswohl entspricht. Das mit einer Autonomieverletzung eingehende moralische Unrecht wird somit zum Gegenstand der Abwägung.

Vor dem Hintergrund, dass jede Form parentaler Fürsorge aufgrund ihrer Autonomie-unterminierenden Eigenschaft prima facie moralisch problematisch ist (wenn man die Option retrospektiver Zustimmung ablehnt), kann m.E. nur eine graduelle Lesart von Autonomieverletzung Abhilfe schaffen. Die Autonomieverletzung, die auf eine am wissenschaftlichen Kindeswohl-Begriff orientierte Fürsorge zurückzugeht, kann dadurch gerechtfertigt werden, dass sie von strittigen Wertvorstellungen weitgehend unabhängig ist. So wird sie den Ansprüchen einer liberalen Gesellschaft gerecht, in der es zwar einen irreduziblen Wertepluralismus gibt, in der aber nichtsdestoweniger wissenschaftliche Tatsachen Gültigkeit beanspruchen dürfen. (Damit ist nicht gesagt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse unumstößliche Wahrheiten darstellen, immerhin unterliegt auch die empirische Forschung gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Entsprechend müssen Theorien zum Kindeswohl immer wieder kritisch geprüft und ggf. revidiert werden.)

Wenn nun die als legitim ausgewiesene Fürsorge die Autonomie der Kinder ohnehin verletzt, warum dürfen Eltern ihre Handlungen und Entscheidungen in Bezug auf die Lebensgestaltung ihres Kindes dann nicht darüber hinaus mit strittigen Wertüberzeugungen begründen, schließlich kann das Autonomie-Achtungsgebot gemäß der vorgeschlagenen Lesart nur eine prima-facie–Gültigkeit beanspruchen? Und muss die Fürsorgepflicht der Eltern nicht auch der Tatsache gerecht werden, dass Kinder – wie Erwachsene – Bedürfnisse haben, die durch ethische, religiöse/atheistische oder weltanschauliche Wertvorstellungen befriedigt werden?

Legitime Fürsorge darf Werturteile nicht ausklammern

Elterliche Fürsorge sollte allen grundlegenden Interessen und Bedürfnissen von Kindern gerecht werden, insofern dies zu einem gelingenden Leben der Kinder als Kinder und als zukünftige Erwachsene beiträgt. Das fordert der Hilfs-Aspekt der Fürsorge, auf die Kinder ein Recht haben und die das Eltern-Kind-Verhältnis vom Staat-Bürger*innen-Verhältnis maßgeblich unterscheidet. Allerdings bedeutet die Forderung, Eltern müssten ihren Kindern ein auch in ethischer, religiöser/atheistischer oder weltanschaulicher Hinsicht gelingendes Leben ermöglichen, nicht, dass die Autonomie der Kinder zugunsten dieser weitreichenderen Interessen und Bedürfnisse zusätzlich unterminiert werden darf.

Eltern müssen Optionen aufzeigen und Angebote machen. Kinder brauchen Zugang zu Dingen, über die sie sich selbst ein Urteil bilden können – nicht zuletzt zugunsten der Teilhabe an einer Welt, die in vielerlei Hinsicht auf Wertüberzeugungen basiert. Zu diesem Zweck dürfen und sollten Eltern ihren Kindern die eigenen strittigen Wertvorstellungen vorleben. Aber: Sie dürfen diese Vorstellungen nicht in Bezug auf die Lebensgestaltung ihrer Kinder vorgeben. Der Unterschied zwischen beidem mag in der Theorie klarer hervortreten als in der Praxis (nicht zuletzt deshalb, weil Kinder von ihren Eltern emotional abhängig sind) – nichtsdestoweniger besteht er.

Konkret heißt das: Christlich überzeugte Eltern dürfen Weihnachten feiern und ihr Kind daran teilhaben lassen; sie dürfen ihr Kind auch mit in den Gottesdienst nehmen. Was sie nicht dürfen, das ist: Für das Kind entscheiden, dass das Bekenntnis zum Christentum die richtige Haltung ist oder dem Kind den Zugang zu anderen Religionen erschweren oder gar verwehren. Entsprechend dürfen Eltern ihr Kind nicht bei einer religiösen Glaubensgemeinschaft – in dem Fall: dem Christentum – einschreiben (aber auch nicht zum Atheismus verpflichten). Sie handeln moralisch falsch, wenn sie ihr Kind (ohne dessen normativ gültige Zustimmung) taufen (lassen).

Neben der parentalen Pflicht, den eigenen Kindern Zugang zu konkurrierenden Wertvorstellungen zu ermöglichen – und diese nicht ausschließlich an z.B. christlichen Praktiken teilhaben zu lassen – stehen Eltern in der Pflicht, die eigenen Wertüberzeugungen transparent zu machen. Kinder haben ein grundlegendes Interesse daran, ihre Eltern als Personen zu erleben, d.h. als Menschen, die bestimmte Wertvorstellungen, Überzeugungen und Handlungsmotive haben. Dieses Interesse der Kinder gründet in dem Bestreben, eine eigene Identität auszubilden. Dafür benötigen sie einen geschützten Raum, den die Eltern-Kind-Beziehung idealerweise darstellt, und Bezugspersonen, die sich im Hinblick auf das offenbaren, was sie zu spezifischen Personen macht. Zu solchen können sich Kinder im Zuge ihrer eigenen Identitätsausbildung in Beziehung setzen – durch Vergleich, Identifikation oder Abgrenzung. (Die Forderung der Transparenz elterlicher Wertvorstellungen steht dem von Clayton angeregten Gebot ‚parentaler Neutralität’ entgegen.)

Zusammenfassend ergibt sich folgende Antwort auf die Frage, welche Form parentaler Fürsorge angesichts der Autonomierechte von Kindern legitim ist: Das Recht der Kinder auf Fürsorge berechtigt Eltern dazu, die Lebensgestaltung ihres Kindes an einem empirisch fundierten Kindeswohl-Begriff auszurichten – wobei die damit einhergehende Autonomieverletzung rechtfertigungsbedürftig und prima facie moralisch falsch ist –, nicht aber zu einer Fürsorge, die durch strittige Werturteile gerechtfertigt wird oder die Wertvorstellungen in einer Weise vorgibt, die über ein von den Kindern jederzeit zurück zu weisendes Angebot hinausgeht, sofern es sich bei diesen Wertvorstellungen nicht um die moralischen Grundsätze einer liberalen Gesellschaft handelt (also um das Bekenntnis zur moralischen Egalität, der wechselseitigen Achtung von Autonomie und der Anerkennung von Gerechtigkeit als leitendem Wert).  Darüber hinaus sind Eltern moralisch verpflichtet, ihrem Kind Zugang zu konkurrierenden Wertvorstellungen zu verschaffen, ohne zugleich die eigenen ethischen, religiösen/atheistischen oder weltanschaulichen Positionen zu verleugnen. Insofern Eltern den Zugang zu konkurrierenden Wertüberzeugungen nicht (alleine) leisten können, steht die moralische Gemeinschaft als Ganze in der Pflicht – darauf haben Kinder einen Anspruch.


Léonie Droste ist Doktorandin an der Universität Zürich (Zweitbetreuung an der LMU München). Mit ihrer Promotion über ‚Wert und Normativität von Geschwisterbeziehungen’ ist sie Teil des vom SNF geförderten Projekts ‚Value-based Non-Consequentialism’ unter Leistung von Prof. Dr. Jörg Löschke (UZH). Ko-Betreuende ihrer Promotion sind Prof. Dr. Monika Betzler (LMU) und Prof. Dr. Peter Schaber (UZH).


[1] Kritik an Claytons Forderung nach parentaler Neutralität formulieren u.a. Harry Brighouse und Adam Swift (2014), Norman Richards (2016) oder auch Johannes Giesinger (2015).

[2] Dass es sich um eigene Werturteile handelt, meint, dass man diesen Urteilen explizit oder implizit zustimmt. Dass es sich um unabhängige Werturteile handelt, bedeutet, dass sie vom Einfluss anderer Personen unabhängig sind. Die hier vorgeschlagene Beschreibung von Autonomie orientiert sich an dem Konzept einer ‚individuellen personalen Autonomie’, wie sie Ben Colburn in Autonomy and Liberalism (2010) vorschlägt.

[3] Clayton zufolge ist es das ‚Ideal der Unabhängigkeit’, das in Autonomie als Status enthalten ist, das Menschen verbietet, die Ziele eines anderen Menschen zu bestimmen – auch dann, wenn dieser Mensch nicht dazu in der Lage ist, eigene Ziele anzuvisieren und diese zu verfolgen, etwa, weil dieser Mensch ein (kleines) Kind ist.Vgl. Matthew Clayton, The Case against the Comprehensive Enrolment of Children, in: Journal of Political Philosophy 20 | 3, 2011/2012, S.359 f.

[4] Die parentalen Rechte kommen den Eltern in dem Maße zu, in dem diese für die Erfüllung der Fürsorgepflicht notwendig sind. Es handelt sich hier um einen kind-zentrierten Begründungsansatz elterlicher Rechte. Einen solchen verteidigt z.B. David Archard in: The Family – A Liberal Defence (2010). Zu unterscheiden sind die Rechte, die Eltern in Bezug auf die Erziehung ihres Kindes haben, vom Recht auf Übernahme der Elternrolle. Dazu siehe: Johannes Giesinger, Elterliche Rechte und Pflichten, in: Familiäre Pflichten (2015), hrsg. von Monika Betzler und Barbara Bleisch.

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