10 Dez

Subjektive Freiheit – Warum es in einer Diktatur keine Objektivität geben kann

Von Susanne Herrmann-Sinai (Oxford)


Zu Zeiten des ausgehenden real-existierenden Sozialismus in der DDR erzählte man sich folgenden Witz: „Erich Honecker hat in einer Rede gesagt: ‚Der Kapitalismus steht vor einem Abgrund.‘ Und er hat auch gesagt: ‚Der Sozialismus ist dem Kapitalismus stets einen Schritt voraus.‘“ – Der Charme mag vielleicht etwas angestaubt sein, dennoch eignet sich das Beispiel, um auf die Freiheit des Denkens auf unterschiedlichen Ebenen zu reflektieren. Und auch wenn G.W.F. Hegel selbst kein Zeitzeuge des historischen Kontexts gewesen war, kann seine Philosophie dabei helfen, diese Ebenen zu verstehen.

Was mit Sprache in einer Diktatur passieren kann, hat der Anthropologe und Linguist Alexei Yurchak anhand der späten Jahre des Sozialismus der Sowjetunion in seinem Buch Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation[1] untersucht. Öffentliche Sprache, die vor allem dazu diente, die Ideen sozialistischer Propaganda zu kommunizieren und im öffentlichen Bewusstsein zu manifestieren, sei demnach durch zwei Prozesse geprägt gewesen, die uns verstehen lassen, welche Rolle diese Sprache für Individuen und in ihrem Alltag spielte. Diese beiden Prozesse sind zum Ersten eine „performative Verschiebung“ (performative shift), zum anderen „Hypernormalisierung“ (hypernormalization).

Für das Verständnis der performativen Verschiebung bedient sich Yurchak der Sprechakttheorie J. L. Austins[2] laut der ein Sprechakt eine beschreibende und eine performative Funktion hat. Etwas vereinfacht, ist es laut Austin ebenso wichtig, dass und auf welche Weise etwas gesagt wird, wie das, was gesagt oder konstatiert wird.

In der Entwicklung der Propagandasprache der sowjetischen Diktatur sei es ab einem bestimmten Zeitpunkt zu einem Stillstand im Vokabular gekommen, in dem Ideologie diskutiert wurde. Worte und Phrasen wurden schlicht wiederholt, Sätze versteiften (frozen)[3] und wurden nur neu angeordnet, so dass nach und nach die beschreibende, feststellende Ebene des Sprechaktes zugunsten der performativen Dimension zurücktrat.[4] Es sei wichtiger gewesen, dass etwas gesprochen wurde und dass ein Akt vollzogen wurde – wie der Wahlzetteleinwurf bei einer verpflichtenden Wahl mit nur einem Kandidaten – und nicht, was damit gesagt, ausgedrückt oder veranlasst wurde. Dies ist mit performativer Verschiebung gemeint.

Indem Yurchak die performative Verschiebung als Kategorie zum Verständnis der späten Jahre des Sozialismus betont, argumentiert er gegen zwei gleichermaßen simplifizierende Stereotype. Das eine Klischee besteht darin, dass alle Bürger der Sowjetunion die öffentliche Propaganda eins zu eins glaubten und internalisierten, das andere, dass eigentlich alle Leute in Opposition zur offiziellen Linie standen. Propagandasprache unter dem Blickwinkel der performativen Verschiebung zu analysieren, gestattet es Yurchak, einen Freiheitsspielraum auszuloten, der selbst in sozialistischen Diktaturen vorhanden war. In der Wiederholung, der Wiederaufführung, dem ständigen Vollzug bedeutungslos gewordener Propagandaphrasen liegt, so Yurchak, eine subjektive Freiheit, die er „enabling function“[5] nennt und der sogar eine Kreativität innewohnen kann. Davon gibt der einleitende Witz ein Beispiel. Denn er akzeptiert die „gefrorenen Ausdrücke“ der sozialistischen Redenkultur, stellt sie aber in einen neuen Kontext, der eine andere als die ursprünglich intendierte Inferenz zulässt.

Der zweite Prozess, die Hypernormalisierung, tritt dann ein, wenn die beständige performative Reproduktion der Propagandasprache zum Selbstzweck wird. Damit ist gemeint, dass die Fähigkeit, diese Sprachphrasen angemessen zu wiederholen, jemanden als „normalen“ Bürger auszeichnete.[6] Auch davon gibt der Witz ein Beispiel. Wer auch immer ihn als erstes erzählte, hatte genau begriffen, wie politische Reden im Sozialismus funktionierten und inwiefern sie nur eine Reproduktion bekannter Phrasen in neuer Reihenfolge waren. Damit zeichnete sich der Erzähler ironischerweise als kompetenter Teilnehmer des sozialistischen Diskurses aus.

Dass in der performativen Verschiebung ein Element von (subjektiver) Freiheit liegt, würde Hegel nicht bestreiten. Und insofern gab es auch in sozialistischen Diktaturen Freiheit – die Freiheit sich einen Witz auszudenken. Jedoch hält die Philosophie Hegels noch einen anderen Freiheitsbegriff parat, den objektiver Freiheit, den er in einem seiner berühmtesten Werke der Grundlinien der Philosophie des Rechts erläutert. Der schließt die Freiheit ein, politische Witze ungestraft erzählen zu können.

Sehen wir uns das von Yurchak gezeichnete Bild genauer an, um danach mit Hegel zu verstehen, inwiefern der durch performative Reproduktion von Propagandasprache und -handlungen umrissene Freiheitsbegriff zwar wesentlich, dennoch aber nur rudimentär ist gegenüber der Freiheit, die es nur in einem Rechtsstaat geben kann.

Die Konsequenzen eines hypernormalisierten Umgangs mit politischer Sprache lassen sich aus dem Verlust des beschreibenden Elements verstehen. Verliert die öffentliche Sprache dieses Element, sind Worte kein Medium mehr, in dem Bedeutungen öffentlich artikuliert und ausgetauscht werden können. Hypernormalisierte Sprache reduziert Äußerungen im intersubjektiven Dialog auf ein subjektives Vehikel, das zwar für den Moment des Sprechens seinen Zweck erfüllt – dessen Bedeutung jedoch nicht in einem intersubjektiven Diskurs entwickelt wird und lebendig bleibt. Denn ein solcher Diskurs wurde ja gerade unterbunden. Bedeutungen werden so rein subjektiv, jede Wahrheit bleibt eine gefühlte Wahrheit – das, was der Sprecher mit dem performativen Akt zufällig verband. Was die Phrasen der Propagandasprache zu einem jeweiligen Zeitpunkt bedeuteten, war einer Willkür ausgesetzt, die auf unheimliche Weise selbst die totalitäre Hegemonie verkörperte.

Zugleich – oder gerade deswegen – wurde der Bedeutung des Gesagten grundsätzlich misstraut. Man entwickelte ein feines Sensorium für den Kontext der Sprachäußerung. In Bruchteilen von Sekunden suchte man oft nur durch einen Blick nach Anzeichen dafür, dass die Adressaten mit dem Gesagten dasselbe verstehen wie man selbst. Der Schauspieler Ronald Zehrfeld sagte über seine Arbeit an Christian Petzolds Film Barbara „(…) dass man sich in der DDR genauer angeguckt hat. Gerade dieses Misstrauen, das es gab, erzeugt auch eine besondere Wachheit für mein Gegenüber, weil man sich ganz anders in die Augen schaut.“[7]

In der Loslösung der Sprache von der Realität finden wir eine dritte Dimension der Witzekultur in der DDR. Sie war eine geistige Überlebensstrategie angesichts hohler Propagandaphrasen und gibt ein Beispiel von dieser Distanz und dem gleichzeitigen (temporären) Versuch einer Wiederaneignung der Sprache. Wenn sich Sprache schon von der Welt gelöst hat, dann kann der Erzähler des Witzes wenigstens für den Moment des Lachens und zusammen mit jemand (vermeintlich) Vertrautem Autonomie über sie zurückgewinnen und gleichzeitig anerkennen, das diese nicht andauern kann.

Hegel nennt die Freiheit, die in der Konformität mit geltenden Normen liegt, in seiner Psychologie[8]„subjektive Freiheit“. Ein Eingestimmtsein auf die geltenden Normen innerhalb einer Gemeinschaft ermöglicht mir die Realisierung konkreter Zwecke und Ziele. Wer einen willkürlichen Zweck verfolgt, wird sich zuerst genau ansehen, wie andere Leute in seiner Umgebung dieses Ziel erreichen. Auf der Suche nach Wohnraum werde ich je nach (geographischem, sozio-ökonomischem etc.) Kontexten eine Wohnung mieten oder einen Iglu bauen. Die Realisierung dieses Zwecks bleibt jedoch „subjektiv“, denn ob eine Wohnung oder Baumaterial bzw. andere Mittel für Obdach zur Verfügung stehen, ist selbst nicht Teil der Freiheit des Individuums. Die Welt, in der die Ziele realisiert werden, ist bereits gegeben.

Als kompetenter Teilnehmer an der gemeinschaftlichen Praxis kann ich mir den Kontext nicht aussuchen – die Objektivität ist bereits (voraus-)„gesetzt“[9]. Sie wird durch das Setzen meiner subjektiven Ziele nicht verändert. Subjektive Freiheit besteht also darin, dass ich überhaupt Ziele realisieren kann, dass ich überhaupt aktiv sein kann – performative (Sprech-)akte vollziehen kann. So wie sie auch in der sozialistischen Diktatur möglich gewesen sein mag.

Seinen eigentlichen Freiheitsbegriff reserviert Hegel jedoch für seine Rechtsphilosophie. Recht und Freiheit bedingen sich gegenseitig und sie konstituieren den „objektiven Geist“. Was macht den Geist objektiv?

Sprache ist Ausdruck, oder in Hegels Terminologie, eine „Entäußerung“[10] – ich entlasse meinen Gedanken in die Welt und verliere damit einen Teil meiner Macht über ihn. Sobald ich etwas gesagt habe, ist es Teil der Welt und kann nicht zurückgenommen werden. Nicht nur habe ich damit etwas Inneres, Subjektives ausgedrückt. Das, was ich gesagt habe, hat die Objektivität, die Tatsachen der Welt, verändert. Sprechen ist ein Handeln, auf das Andere reagieren. Sie können dem zustimmen, es zurückweisen, kritisieren, durch einen anderen Sprechakt aufheben. Aber es kann nicht ungeschehen gemacht werden. In diesem Sinne ist auch Schweigen und Nicht-Sagen ein Ausdruck.

Doch damit all diese gegenseitigen Reaktionen überhaupt Sinn machen, damit sich die Freiheit dieses gemeinschaftlichen Diskurses entfalten kann, braucht es zuallererst einen Sinn von Objektivität, der mehr ist als subjektive Zwecke. Fehlte dieser Sinn, wäre jeder Dialog nur ein konstatieren einer Vielheit subjektiver Anschauungen, ohne Konsequenzen. Sprache verstanden als performative Sprechakte im legalen Sinn (wie in einem Richterspruch), wäre gar nicht möglich. Mein Handeln und Sprechhandeln kann aber laut Hegel die Welt verändern, kann sich in Objektivität manifestieren. Und zwar so, dass diese Objektivität nicht einfach durch andere subjektive Zwecke nivelliert werden kann.

Das faktische Erzählen eines politischen Witzes in der DDR konnte tatsächlich die verkehrte Objektivität rechtlicher Willkür der Diktatur in Gestalt drohender Gefängnisstrafe provozieren. In dieser Hinsicht hat es objektive Freiheit des geltenden Rechts geradezu eingefordert, um den Preis allerdings, dass der bestrafte Erzähler seine (subjektive) Freiheit aufgeben musste.

Recht und objektive Freiheit sind für Hegel jedoch nicht absolut – auch wenn er oft so missverstanden wurde. Recht kann sich ändern – wie es seit Hegels Zeiten getan hat – und unser Blick auf die Welt auch. Aber damit wir diesen Wandel überhaupt konzeptualisieren können, brauchen wir allererst einen Begriff objektiver Freiheit. Wer geltendes Recht kritisiert, darf sich heute – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands – darüber freuen, dass er genau dies ausdrücken darf und er in keiner Diktatur mit hypernormalisierter Propagandasprache lebt.

Um Kritik auszudrücken, muss der Rechtsrahmen überhaupt anerkannt werden, in dem diese Freiheit möglich ist. Sich auf subjektive Freiheit zurückzuziehen, verkennt genau dies. Jemand, der auf Grund einer gefühlten Wahrheit aus Protest eine radikale Partei wählt, ohne eigentlich deren Programm zu unterschreiben, mag von seiner subjektiven Freiheit Gebrauch machen, dieser gefühlten Wahrheit zu folgen. Aber der so verstandene Protestwähler[11] blendet dabei aus, inwiefern dieser Akt die Realpolitik der nächsten Legislaturperiode mitbestimmt. Er macht aus einer demokratischen Institution, die dazu dient, objektive Freiheit zu gewähren, einen Witz.

Geltendes Recht auf der Basis subjektiver Zwecke zu kritisieren, kann somit genau das Gegenteil erreichen. Diese Art von Kritik wiederholt nur performativ subjektive Freiheit und weist nur aus, zu welcher normativen Gemeinschaft man sich zugehörig zählt. Sie verändert Objektivität nicht absichtlich, sondern nur willkürlich. Sie behandelt das existierende Recht so, als ob es nur eine hypernormalisierte Propagandasprache wäre. Damit aber beschneidet sich diese Art von subjektiver Kritik jeder Macht, auch tatsächlich etwas ändern zu können.

Freiheit des Denkens ist nicht nur die Freiheit eine andere Meinung zu haben, sondern nach Hegel vor allem die Erkenntnis, dass mein Denken Konsequenzen hat und Reaktionen provoziert, wenn es sich als sprachlicher oder handelnder Ausdruck in der Welt manifestiert. Eine Freiheit, die mit Verantwortung einhergeht.


Dr. Susanne Herrmann-Sinai ist Lektor in German an der Faculty of Medieval and Modern Languages, University of Oxford und Associate Faculty Member an der Faculty of Philosophy, University of Oxford, UK.


[1]              Princeton University Press 2005.

[2]              How to do things with words (Harvard University Press 1962) bei Yurchak ab S. 19. Austin differenziert diese binäre Unterscheidung später weiter.

[3]              „… it became less important to read ideological representations for “literal” (referential) meanings than to reproduce their precise structural forms.” (S. 14) “the form of the ideological representations became fixed and replicated – unchanged from one context to the next.” (S. 14) “This also made the constative dimension of discourse increasingly unanchored, indeterminate, and often irrelevant.” (S. 25) “The normalized and fixed structures of this discourse became increasingly frozen and were replicated from one context to the next practically intact.” (S. 26)

[4]              Yurchak, S. 22.

[5]              Yurchak, S. 27.

[6]              „Participating in these acts reproduced oneself as a ‘normal’ Soviet person.” (S. 25)

[7]              Broschüre zum Film Barbara (2012) www.hoehnepresse.de.

[8]              Enzyklopädie der Wissenschaften III, Der subjektive Geist, C.

[9]              Enzyklopädie der Wissenschaften III, § 441.

[10]            Hegel, Grundlinien, § 69.

[11]            Es gibt freilich andere Lesarten der Motivation von Protest- oder Nichtwählern.

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