23 Jan

Geld als kollektives kulturelles Symbolsystem bei Georg Simmel

von Annika Schlitte (Mainz)


„Geld regiert die Welt“ – es gibt wohl kaum einen Philosophen, der diesen scheinbaren Gemeinplatz jemals so ernst genommen hat wie Georg Simmel. Dass das Geld die Welt regiert, ist hier nicht (oder jedenfalls nicht nur) Ausdruck der seit der Antike bekannten Klage, dass Geld im praktischen Zusammenleben eine viel zu große und moralisch fragwürdige Rolle spielt, sondern besagt, dass die moderne Welt als Ganze sich nur vom Geld her angemessen verstehen lässt. Umgekehrt heißt das aber auch, dass man das Geld seinerseits nicht richtig erfasst, wenn man es ausschließlich aus einer ökonomischen Perspektive betrachtet und seine gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung vernachlässigt. So kommt es, dass Simmel im Jahr 1900 das Geld nicht nur zum Thema eines ganzen Buches, sondern gar zum Mittelpunkt seiner Philosophie macht – nämlich einer Philosophie des Geldes.[1] Die zentrale Frage, die er dabei stellt, ist die folgende: Was für eine Weltsicht ergibt sich, wenn man das Geld zum Prinzip erklärt – zu dem, was die Welt im Innersten zusammenhält? Simmels Text, um den es im Folgenden gehen soll, ist daher auch heute noch ein wichtiger Bezugspunkt für alle, die sich dem Rätsel Geld stellen. [2]

Schauen wir uns einmal an, wie das Geld zu dieser unerwarteten Ehre kommt, indem wir uns der Frage zuwenden, worin sein Wesen für Simmel eigentlich besteht. Zunächst einmal stellt er klar, dass Geld nicht in erster Linie etwas Materielles ist, wie man erwarten könnte, wenn man an die blanke Münze im Portemonnaie denkt, sondern etwas Geistiges, das sich an ein sinnlich wahrnehmbares Symbol bindet. Was den Wert des Geldes ausmacht, ist nach Simmel gerade nicht seine Substanz (ein wertvolles Edelmetall wie Gold oder Silber), sondern seine Funktion. Zwar sei es historisch so gewesen, dass sich bestimmte besonders begehrte Substanzen besonders anboten, in die Geldrolle zu schlüpfen, doch sobald sie diese Rolle einmal eingenommen hatten, richtete sich das Begehren gerade nicht mehr auf ihre Substanz: Die Münze, die man sich als Schmuckstück um den Hals hängt, ist eben kein Geld mehr. Während man in früheren Zeiten noch den Wert des Edelmetalls für entscheidend hielt, damit das Geld als Tauschmittel funktioniert, habe die historische Entwicklung gezeigt, dass es gar nicht um diesen Substanzwert geht. Denn das Geld strebe auf seinem Weg vom Münz- zum Papiergeld und darüber hinaus immer mehr dem Status einer reinen Funktion zu, die in Zukunft vielleicht gar nicht mehr an einen materiellen Träger gebunden sein muss. In Anbetracht von Buchgeld und Bitcoins lässt sich dieser Gedanke, den Simmel noch sehr vorsichtig formuliert, heute leicht nachvollziehen. Was aber ist die Funktion, auf die das Geld in Simmels Erzählung hier so zielstrebig zuläuft?

Geld ist – so könnte man Simmels Sicht formulieren – ein Symbolsystem, mit dessen Hilfe eine Gesellschaft ihre ökonomischen Bewertungen organisiert. Zu der Zeit, als er an der Philosophie des Geldes arbeitet, interessiert sich Simmel für soziale Prozesse, bei denen aus dem Zusammenwirken subjektiver Elemente etwas Objektives entsteht; etwa das System der Sprache, das sich aus subjektiven Äußerungen zusammensetzt oder Sitten und Gebräuche, welche auf individuelle Handlungen zurückgehen, die in ihnen eine objektive Gestalt annehmen. Dieser Übergang von subjektiven Akten zu objektiven Gebilden bildet das Problem des „Überindividuellen“, das Simmel aus der Völkerpsychologie übernimmt, oder des „objektiven Geistes“, wie sich dieser Zusammenhang später in kulturphilosophischer Terminologie ausdrücken lässt.

Für Simmel funktioniert auch der Bereich der Werte auf diese Weise: Wenn wir etwas einen „Wert“ nennen, handelt es sich dabei um das Ergebnis subjektiver Wertungen, das einen selbständigen Gehalt gewonnen hat und so dem Einzelnen als etwas Objektives gegenübertritt. Für diesen Vorgang ist nun der ökonomische Tausch sein Paradebeispiel, denn nach seiner Auffassung entsteht der ökonomische Wert einer Ware erst in dem Moment, in dem sie zu einer anderen Ware in ein Verhältnis gesetzt wird. Das Geld, das die qualitativen Unterschiede zwischen auszutauschenden Gegenständen in quantitative Unterschiede übersetzt, verleiht den vielfältigen Beziehungen zwischen Sachen eine objektive Gestalt, die Vergleichbarkeit ermöglicht. Auf diese Weise ist Wert für Simmel ein durch und durch relatives Phänomen, er besteht in einem Verhältnis, in einer Beziehung. Für dieses Verhältnis ist das Geld nun der reinste Ausdruck, es ist gewissermaßen Relativität pur. Damit gehört es einerseits zu den „substanzgewordenen Sozialfunktionen“[3], aber es steht auch für eine von Simmel als „relativistisch“ bezeichnete Weltsicht, die alles in Beziehungen auflöst und auf Beziehungen zurückführt. Indem er Geld nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern auch als soziales und kulturelles Phänomen bestimmt, das mit einer bestimmten Sicht auf die Welt verknüpft ist, nimmt Simmel hier also eine originelle Perspektive auf seinen Gegenstand ein.

Dabei hat er sich aber nicht nur das Ziel gesetzt herauszuarbeiten, welche Bedingungen und Voraussetzungen das Geld ermöglichen, sondern auch die Auswirkungen des Geldes auf die Weltsicht und das Zusammenleben in der Moderne zu beschreiben. Dabei ist es ganz entscheidend, dass er dem Geld eine Eigendynamik zuschreibt, die auch anderen Kulturphänomenen zukommt. Haben sich einmal bestimmte objektive Gehalte aus dem Zusammenwirken vieler Individuen herauskristallisiert, folgen diese einer eigenen Sachlogik, die dann ihrerseits auf die Individuen zurückwirkt. So auch beim Geld: Dieses drückt dann nicht nur Wertbeziehungen aus, die völlig unabhängig von ihm bestehen, sondern es wirkt selbst auf die Wertbildung ein. Das Geld verkörpert Werte, die in einer Beziehung zwischen Subjekten und begehrten Objekten gründen, aber indem es als Ausdruck dieser Beziehung zwischen Subjekt und Objekt tritt, verändert es gleichzeitig auch unser Verhältnis zu den Dingen – und zu anderen Menschen, insofern wir mit ihnen in geldvermittelten Beziehungen stehen. Typisch für Simmel ist es nun, dass das Geld bei ihm als ein durch und durch ambivalentes Phänomen erscheint und er diese Veränderungen nicht ausschließlich negativ bewertet.

Die Geldwirtschaft als solche bedeutet für Simmel nämlich zunächst einen großen Rationalisierungsschub. Geld selbst steht, indem es subjektive Wertungen verobjektiviert, in engem Zusammenhang mit dem Intellekt. Erst das Denken unter den Bedingungen der Geldwirtschaft habe zu einem bestimmten theoretischen Ideal der Objektivität und Berechenbarkeit geführt.[4] Zudem teilen Intellektualität und Geldwirtschaft die unbedingte Sachlichkeit und  die Neutralität gegenüber den Besonderheiten des Individuums, die auch dem Prinzip der Gleichheit vor dem Recht zugrunde liegt. So fügt sich das Geld in eine Entwicklung ein, die Max Weber wenig später als Rationalisierung und Entzauberung beschrieben hat.

Auf unser Denken, aber auch auf unser praktisches Handeln hat Geld demnach großen Einfluss. Geld ist, wie Simmel sehr schön sagt, selbst „charakterlos“. Es macht qualitativ vollkommen verschiedene Gegenstände miteinander vergleichbar, indem es sie in quantitative Verhältnisse übersetzt und bleibt dabei abstrakt und gestaltlos. Mit der Quantifizierung, die für den ökonomischen Tausch notwendig ist, geht eine Nivellierung qualitativer Unterschiede einher, die sich auf andere Zusammenhänge ausdehnt. Schließlich gewöhnen wir uns mit dem Geld eine quantitative Sicht auf die Dinge an, die nur noch: Was kostet das? fragt, im Sinne von: Was nichts kostet, ist nichts wert. Simmel spricht hier von einem „Zynismus“, der mit der Geldwirtschaft verbunden sei. Schließlich kann es auch dazu kommen, dass wir eine bestimmte Ware plötzlich deshalb kaufen, weil sie teuer ist und wir uns etwa ein bestimmtes Prestige von ihr versprechen – so wird in 1-€-Shops, die Simmel als „99-Pfennig-Bazare“ übrigens schon um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert kennt, der Preis zum am stärksten herausstechenden Merkmal der angebotenen Waren.

Mit Geld sind die individuellen Unterschiede zwischen Gegenständen, aber auch zwischen Personen grundsätzlich nicht zu erfassen. Wo die Beziehungen zwischen Menschen immer stärker über Geld vermittelt sind, verändern sich daher auch diese Beziehungen. Während der Mensch in einem vormodernen, weniger vom Geld bestimmten Kontext, in persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen zu wenigen, ihm persönlich bekannten Personen stand, ist der moderne Mensch von sehr viel mehr anderen Personen abhängig (weil er seine Lebensmittel nicht mehr selbst herstellt, seine Socken nicht mehr selbst flickt, seine Wohnung ihm nicht selbst gehört etc.), zu diesen Personen selbst steht er aber in einem viel loseren und anonymeren Verhältnis. Der Dienstleister, der mit Geld bezahlt wird, kann bei Unzufriedenheit leicht gegen einen anderen Anbieter ausgetauscht werden, was bei persönlichen Beziehungen früher nicht möglich gewesen wäre – mit dem einzigen Müller im Dorf sollte es sich der Bauer möglichst nicht verscherzen. Der moderne Mensch ist also in einem abstrakten Sinne viel stärker auf seine Mitmenschen angewiesen, aber doch von jedem konkreten Einzelnen weniger abhängig. So kommt es in der Moderne zwar einerseits zu einem Zuwachs an individueller Freiheit, weil ein objektiviertes, über Geld vermitteltes Arbeitsverhältnis den Einzelnen weniger vereinnahmt als eine persönliche Bindung z.B. des Bauern an einen Grundherren, andererseits werden die individuellen Eigenheiten der Personen in diesem Kontext aber auch tendenziell unwichtiger und treten in den Hintergrund. Die Wirkung des Geldes dabei ist insgesamt ambivalent – es befreit und schafft neue Bindungen, es ist eine Instanz, „die nur verbindet, indem sie zugleich trennt“[5].

Simmel ist also zwar durchaus sensibel für die Pathologien, die sich im Umgang mit dem Geld zeigen, aber er hat eben auch die positiven Seiten des Geldes im Blick, die zu seinem Siegeszug in der Moderne überhaupt erst geführt haben. Er wird auf solche Alltagsphänomene aufmerksam, da er Geld nicht als ökonomischen Gegenstand betrachtet, sondern als ein kollektives kulturelles Symbolsystem, das auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit zurückwirkt. Diese Eigendynamik, die dem Geld innewohnt, ist aber für Kulturphänomene insgesamt kennzeichnend: Auch die Sprache kann man nicht als ein neutrales Medium verstehen, etwa im Sinne eines Geschenkpapiers, in das wir unsere Gedanken „einwickeln“, damit unser Gesprächspartner sie wieder auspackt. Wenn wir tagtäglich mit Geld umgehen, hat das Auswirkungen auf unser Denken und Handeln, und eben auch auf unsere Weltsicht im Ganzen. Die Welt, die uns das Geld sehen lässt, ist nach Simmel eine Welt der Beziehungen, der Bewegung und der Veränderung. So führt ihn die Philosophie des Geldes gar zu einer „relativistischen Metaphysik“, wie er sie nennt, die eine ganze Weltsicht auf dem Gedanken der Wechselwirkung und der Relativität aufbaut.

Wie überzeugend Simmel diese Weltsicht ausarbeitet, kann hier nicht beantwortet werden, aber es bleibt bemerkenswert, welche philosophischen Konsequenzen sich aus einer Betrachtung des Geldes ziehen lassen, wenn man den Blick über den Bereich der Ökonomie und Ethik hinaus ausweitet. Dann ist das Geld eben nicht mehr nur ein ökonomisches Hilfsmittel, sondern ein ganz wesentlicher Bestandteil unserer Kultur, der auch auf unser Denken und Handeln einwirkt: Geld regiert – nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die soziale und kulturelle Welt.


Annika Schlitte ist Juniorprofessorin für Sozial- und Kulturphilosophie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.


[1] Vgl. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, in: Ders.: Gesamtausgabe Bd. 6, hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989.

[2] Für eine Position, die Geld explizit als Denkfom versteht, s. Brodbeck, Karl-Heinz: Die Herrschaft des Geldes. Geschichte und Systematik, 2. Aufl. Darmstadt 2012.

[3] Vgl. Simmel, Philosophie des Geldes, S. 209.

[4] Noch weiter als Simmel geht später Alfred Sohn-Rethel, der das philosophisch-abstrakte Denken als solches aus dem Geldverkehr abzuleiten versucht, vgl. Sohn-Rethel, Alfred:Warenform und Denkform. Aufsätze, Frankfurt am Main 1971.

[5] Simmel, Philosophie des Geldes,S. 667.

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