03 Jan

Welt und Welterklärung

Fragezeichen an Bäumen

Uwe Meixner (Universität Augsburg)


Die Welt ist in ganz bestimmter Weise; sie war es und wird es sein. In unendlich vielen anderen Weisen, in denen die Welt offenbar auch sein könnte, ist sie nicht. Warum also ist die Welt in dieser ganz bestimmten Weise und nicht in einer anderen? Diese Frage ist, wenn man sie ultimativ auffasst, also auf die Welt in ihrer zeitlichen Ganzheit – in der Gesamtheit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – schaut und nach „letzten“ (oder „ersten“) Gründen für „all dies“ fragt, eine der zentralen Fragen der Philosophie.

Andere Disziplinen sind mit Einzelereignissen und -vorkommnissen befasst und geben so gut, wie sie es können, lokale, relative Erklärungen für diese Einzelheiten an – Erklärungen, die an diesem oder jenem Punkt schlicht abbrechen. Naturwissenschaft kann das Erklärungsbedürfnis des Menschen nicht befriedigen, da sie nicht auf das Ganze sieht, oder aber, wenn sie es doch tut (wie die physikalische Kosmologie), ihre Erklärungsgründe stets in der Welt selbst sucht. Die Letzterklärung der Welt als Ganzes sucht hingegen die Philosophie – leider, wie wir wissen, ohne definitives Ergebnis. Definitiv umreißbar sind aber die philosophischen Optionen, die hinsichtlich der Welterklärung offenstehen.

Drei Faktoren bestimmen die Welt, sei es allein, sei es in Kombination: Notwendigkeit, Zufall und Handeln. Daraus ergeben sich die sieben Optionen der Welterklärung: (1) Notwendigkeit allein bestimmt die Welt; (2) Zufall allein bestimmt die Welt; (3) Handeln allein bestimmt die Welt; (4) Notwendigkeit und Zufall und nichts sonst bestimmen die Welt gemeinsam (d. h.: sodass keiner der Faktoren überflüssig ist); (5) Notwendigkeit und Handeln und nichts sonst bestimmen die Welt gemeinsam; (6) Zufall und Handeln und nichts sonst bestimmen die Welt gemeinsam; (7) Notwendigkeit, Zufall und Handeln und nichts sonst bestimmen die Welt gemeinsam.

Die uns Menschen – ausgehend von unserem Erleben – natürliche Option der Welterklärung ist ohne Zweifel (7); denn prima facie scheinen drei Faktoren gemeinschaftlich unser Leben zu bestimmen und nichts sonst: Notwendigkeit, Zufall und Handeln (unser eigenes Handeln und das der menschlichen und tierlichen Anderen, eventuell auch das Handeln übernatürlicher Anderer, insbesondere das Handeln des „ganz Anderen“). Aber unser Erleben ist noch nicht die Welt, und Anschein ist noch nicht die Wahrheit. Daher hat das philosophische Denken (oft im religiösen oder theologischen Gewand) im Laufe der Geistesgeschichte jede der sieben Optionen der Welterklärung ins Auge gefasst, und jede der sieben wiederum in verschiedenen besonderen Ausprägungen.

Die Natur der drei Faktoren der Welterklärung lässt sich am besten vor Augen führen, wenn man sie zunächst in Reinkultur betrachtet, also Option (1) bzw. (2) bzw. (3) hypothetisch als die wahre Welterklärung ansetzt.

Angenommen also zuerst, dass die Notwendigkeit allein die Welt bestimmt – Option (1). Welchen Satz auch immer man dann über die Welt behauptet, wenn er wahr ist, so ist er notwendigerweise wahr, mit anderen Worten: er hätte nicht falsch sein können. Die Letzterklärung der Welt ist bei Option (1) sehr einfach: Die Welt muss so sein, wie sie ist; es kann gar nicht sein, dass sie anders ist. Aber gegen Option (1) spricht, dass es so scheint, und zwar überwältigend so scheint, als ob die Welt anders sein könnte, als sie ist – nicht in allen Punkten, aber doch in sehr vielen. Man spricht von der Intuition der Kontingenz der Welt, und zwar auch bzgl. der in der Welt geltenden Naturgesetze; auch sie scheinen kontingent – nicht notwendig – zu sein. Zweifellos liegt mit der Intuition von der Kontingenz der Welt eine Fundamentalintuition vor, angesichts deren man nicht einfach behaupten kann, sie sei eine Illusion. Option (1) hat es daher sehr schwer, glaubwürdig zu sein.

Angenommen nun, dass der Zufall allein die Welt bestimmt – Option (2). Doch Option (2) ist von vornherein unhaltbar, weil ja manches an der Welt durchaus notwendig ist (etwa, dass jeder Vorgang von 3 Minuten Länge länger ist als jeder Vorgang von 2 Minuten Länge). Auch wenn Option (2) nicht richtig sein kann, so könnte es immerhin sein, dass das, was an der Welt ist, aber nicht notwendig an ihr ist, ausnahmslos an ihr rein zufällig ist, m. a. W.: an der Welt ist, ohne dass dieses Sein einen zureichenden Seinsgrund hat, der macht, dass es an der Welt ist. Wäre dem so, dann wäre die Welt in dem, was an ihr nicht notwendig ist, von einer absoluten Unerklärbarkeit gezeichnet, von explanatorischer Irrationalität durchherrscht. Doch scheint die Welt durchaus nicht so zu sein. Denn: Wissen wir nicht, dass z. B. der Tod Cäsars weder notwendig noch zufällig war? Also: Auch die auf das Kontingente an der Welt beschränkte Option (2) hat es schwer, glaubwürdig zu sein.

Angenommen schließlich, dass das Handeln allein die Welt bestimmt – Option (3). Insbesondere in derjenigen Version, bei der das Handeln eines einzigen Akteurs – nämlich das Handeln Gottes – schon für sich genommen die Welt bestimmt, wird Option (3) millionenfach von Anhängern monotheistischer Religionen geglaubt (wenn auch durchaus nicht von allen Anhängern solcher Religionen). Bemerkenswerterweise sind sich die Anhänger der absoluten und allumfassenden Herrschaft Gottes (bzw. der Herrschaft „Seines Willens“) und gewisse Vertreter der aufgeklärten Wissenschaft, insbesondere viele Hirnforscher, darin einig, dass es kein weltmitbestimmendes Handeln von Menschen und Tieren gibt. Ja, gemäß diesen Wissenschaftlern gibt es sogar überhaupt kein weltmitbestimmendes Handeln, sondern alles an der Welt ist – letztlich – bis ins kleinste Detail eine bloße Sache von Notwendigkeit und Zufall. Gemäß jenen Gläubigen hingegen ist alles an der Welt der Effekt von Gottes Wille und Tat – auch das (wie man meint) Notwendige an ihr. Demnach ist für jene Gläubigen alles an der Welt kontingent; es ist, wie sie glauben, alles an der Welt von Gott entschieden worden, auch dass 2+2 4 ist; hätte Gott anders entschieden (was Er hätte können), so wäre 2+2 nicht 4.

Dass alles an der Welt kontingent ist, ist nun eine logische Folge nicht nur der eben betrachteten extremen Version von Option (3), sondern schon eine logische Folge von Option (3) überhaupt. Und das macht Option (3) nicht eben glaubwürdig für rationale Gemüter, sondern mindestens genauso unglaubwürdig wie die These, dass alles an der Welt notwendig ist (welches Letztere eine Konsequenz von Option (1) ist).

Steht eine der vier gemischtfaktorigen Optionen – (4), (5), (6) und (7) – rational besser da als die schon betrachteten drei reinfaktorigen Optionen (1), (2) und (3)? Macht man sich den Satz vom zureichenden Grund zu eigen – „Alles an der Welt, was nicht notwendig ist, hat einen zureichenden Seinsgrund“ –, so entfallen alle Optionen, bei denen der Zufall eine Rolle spielt; es bleiben einem als alternative Möglichkeiten der Welterklärung allein übrig: (1) oder (3) oder (5). Akzeptiert man dann die Kontingenz der Welt (was höchst vernünftig erscheint), aber zudem auch, dass immerhin manches an der Welt notwendig ist (was ebenfalls höchst vernünftig erscheint), so bleibt einem als rational akzeptabel allein die Option (5).

Jedoch: Viele Zeitgenossen – insbesondere nicht wenige derjenigen, die sich für wissenschaftlich gebildet erachten – haben sich vom Satz vom zureichenden Grund verabschiedet (ist er nicht durch die Quantenphysik widerlegt?). Andererseits halten sie gerne an der Kontingenz der Welt fest, aber auch daran, dass manches an der Welt notwendig ist. Ganz überflüssig wiederum erscheint es ihnen, zur Welterklärung neben Notwendigkeit und Zufall einen dritten ultimativen Faktor – Handeln – anzunehmen. (Dass das Handeln eine Rolle beispielsweise beim Tode Cäsars gespielt haben muss – oder beim Überfall auf die Sowjetunion, oder beim Atombombenabwurf auf Hiroshima –, müssen sie demnach bestreiten.) Diesen Zeitgenossen bleibt als rational akzeptabel allein Option (4).

Verzichtet man in der Welterklärung auf übernatürliches Handeln, so liegt ein Naturalismus vor; verzichtet man auf das Handeln überhaupt, wie bei (4), so ist es ein verschärfter Naturalismus. Naturwissenschaftlich durchdrungene Menschen optieren heutzutage mehrheitlich in der Welterklärung für (4), somit für einen verschärften Naturalismus, obwohl weder ein verschärfter Naturalismus noch ein einfacher als logische Folge naturwissenschaftlicher Theorien angesehen werden können. Option (5) dagegen schließt einen verschärften Naturalismus aus, wenn auch keineswegs einen einfachen.

Kein Anhänger der Option (5) ist also ein verschärfter Naturalist. Doch die meisten Anhänger von (5) sind sogar überhaupt keine Naturalisten. Für sie haben die traditionellen Lehren der Religionen einen metaphysischen Wahrheitsgehalt, insbesondere diesen: Gott handelt in der Bestimmung der Weise der Welt (wenn auch nicht unbedingt Er allein). Ein Akzeptieren naturwissenschaftlicher Theorien ist durch eine solche Haltung keineswegs ausgeschlossen; nur der metaphysische Blick auf jene Theorien ist ein anderer als bei Naturalisten.

Ursprünglich war uns Menschen die Welt hinsichtlich dessen, was die Weise bestimmt, in der sie ist, völlig uneinsehbar. Auch da freilich nahm man sehr wohl einen bestimmenden Faktor an: das allumfassende Schicksal – zwingend wie die Notwendigkeit, grundlos wie der Zufall, willkürlich wie (mindestens manchmal) das Handeln. Die Ausdifferenzierung dieses einen Faktors in drei verschiedene – Notwendigkeit, Zufall, Handeln – ist eine große Leistung des philosophischen (näherhin: metaphysischen) Denkens, nicht etwa der Naturwissenschaften. Aber sind wir denn beim Einsehen dessen, was die Weise der Welt bestimmt, vorangekommen? Ist uns die Welt hinsichtlich der Bestimmung der Weise ihres Seins einsehbar geworden?

Kaum. Wir wissen heute sehr viel mehr als jemals zuvor über die Struktur der Welt, ihre inneren Mechanismen, über die sie durchherrschenden Gesetze, die die zeitliche Weitergabe des Wirklichseins in ihr regulieren. Aber all das gehört zum Wie der Welt: zu der Weise, wie sie ist. Es sagt uns nicht, warum die Welt so ist. Es gehört zu dem, was erklärt werden muss; es ist nicht die Erklärung.

Sowohl der Zufall als auch das Handeln tragen in sich Elemente der Uneinsehbarkeit und Irrationalität – der Zufall tut dies schlechterdings (da er die Grundlosigkeit selbst ist), das Handeln bedingtermaßen, nämlich dann, wenn es willkürlich ist. Wobei nun doch eine gewisse Willkürlichkeit beim Handeln immer im Spiel ist; denn die Handelnden hätten sich ja, qua Handelnde, auch anders entscheiden können, selbst nach erfolgter, eindeutig in eine Richtung ausfallender rationaler Erwägung; es ist ihre Willkür (ihre „Willenswahl“), dass sie sich nicht anders entschieden haben.

Das rationale Ideal wäre zweifellos, dass die Weise, in der die Welt ist, sich bis ins letzte Detail als die Folge einer von uns Menschen völlig durchschaubaren, uns völlig einsichtigen Notwendigkeit verstehen ließe. Aber es ist nicht gesagt, dass die Notwendigkeit für uns völlig einsichtig sein könnte, wenn sie denn alles an der Welt bestimmte – was sie doch allem Anschein nach gar nicht tut.

Wir sind im Grunde in der Letzterklärung der Welt nicht viel weiter als unsere schicksalsgläubigen Vorfahren.


Uwe Meixner war bis vor kurzem Professor für Philosophie an der Universität Augsburg. Seine Hauptarbeitsgebiete sind Ontologie und Metaphysik (in ihrer ganzen Breite), Logik, Phänomenologie sowie die rationale Rekonstruktion von Argumenten aus der Philosophiegeschichte. Auf dieser Webseite sind fast alle seiner Publikationen gelistet und sehr vielen von ihnen frei zugänglich.

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