17 Jun

Der Trolley-Führerschein. Eine pragmatische Bedienungsanleitung zu Gedankenexperimenten im Seminaralltag

Von Fredrik Brüggen, Johannes Löhr und Nils Wendler (Kiel)


Ob als nützliche Illustration moralphilosophischer Überlegungen geschätzt oder als weltfremde Spielereien abgetan – die philosophische Diskussion um Gedankenexperimente ist mindestens so lang wie der berühmte Trolley, der droht, auf fünf Gleisarbeiter*innen zuzufahren. Ähnlich vernichtend wie dieser Trolley für die fünf hilflosen Personen wäre, fallen auch einige Reflexionen über den Nutzen von Gedankenexperimenten in der Philosophie aus. Trotz der Fülle an Literatur hätten wir uns manchmal vor allem eines gewünscht: eine Bedienungsanleitung inklusive (kleingedruckter) AGB für den Umgang mit Gedankenexperimenten.

Wir, das sind drei (ehemalige) Studenten eines Masterstudiengangs der Praktischen Philosophie, möchten Gedankenexperimente (im Folgenden: GEX, wie wir sie seit einiger Zeit liebevoll abkürzen) weder verteidigen noch attackieren, sondern teilen, wie wir gelernt haben, mit ihnen zu leben. Dabei geht es uns auf Grund unserer Erfahrung vornehmlich um solche aus der Praktischen Philosophie, denn im Studium ist diesen nicht zu entkommen. Sowohl in ethischen Grundsatzdiskussionen als auch in ‚konkreten, praxisnahen‘ Fragen werden GEX gern bemüht – manchmal initiiert und geplant von den Lehrenden, manchmal spontan eingeworfen von Studierenden. Die Zwecke, die GEX dabei erfüllen sollen, sind so vielfältig wie die imaginierten Szenarien.

Im Rahmen eines Projektseminars an der Universität Kiel, in dem es darum ging, für den Studiengang relevante Inhalte und Methoden für zukünftige Studierende audiovisuell aufzubereiten (http://www.einfachgutelehre.uni-kiel.de/allgemein/student_innen-erstellen-video-tutorials/), kamen wir zu der Ansicht, dass Menschen, die möglicherweise in der Zukunft auf unseren Seminarstühlen sitzen, mit GEX umgehen können sollten. Aus dieser Reflexion möchten wir an dieser Stelle einige einfache Regeln zum Umgang mit GEX (im Studium; d.h. vornehmlich etwa in Seminaren) teilen, die hoffentlich nützlich, zumindest aber nicht schädlich sein können. Die Regeln motivieren sich aus einer pragmatischen Einstellung GEX gegenüber und der viel zu häufig gemachten Erfahrung, dass Diskussionen, in denen Sachverhalte auf Basis eines GEX erörtert wurden, durch Hinweise wie „Aber kann ich nicht einfach die Gleisarbeiter*innen losbinden und alle retten?“ nicht gerade bereichert werden.

Unserer Erfahrung nach erleichtern fünf einfache Regeln den Umgang mit GEX; zwei auf Empfänger*innen- und drei auf Sender*innenseite. Unter der Senderin eines GEX verstehen wir dabei die Person, die ein Szenario in einer Diskussion vorstellt, um damit etwa anderen Gesprächsteilnehmenden ihre moralischen Intuitionen zu diesem spezifischen Fall zu entlocken (was dann häufig zum Anlass einer Grundsatzdiskussion wird). Der Empfänger ist entsprechend derjenige, der mit dem GEX konfrontiert und von dem unter anderem die Angabe einer hypothetischen Entscheidung verlangt wird.

Ob Dozent*in oder Studierende*r, wer als Sender*in im Seminar ein GEX einbringen möchte, sollte sich vorher mindestens drei Dinge fragen: 

1. Worauf bin ich in der Diskussion aus und ist das GEX überhaupt dazu in der Lage, mein Argument zu bestärken?

Hier geht es erst einmal grundlegend darum, ob ich die Funktion des GEX verstehe, d.h. ob ich mich in der Lage sehe, den Punkt, den ich in einer Diskussion machen möchte, mithilfe dieses GEX zu untermauern. Häufig werden GEX beispielsweise verwendet, um mittels verschiedener Variationen eines Szenarios das hypothetische Entscheidungsverhalten vom Gegenüber zu betrachten. Die Motivation dahinter könnte etwa sein, implizite normative Leitlinien dieser Entscheidung und mögliche Gründe für die geäußerte Intuition im Laufe der Diskussion zu explizieren und so verschiedene Prinzipien, die häufig mit Ethiktheorien assoziiert werden, zu illustrieren und zu bewerten.       
Wenn das Gegenüber etwa im klassischen Trolley-Problem die Weiche umstellen, nicht aber den ebenfalls berühmt gewordenen ‚dicken Mann‘ von der Brücke schubsen würde, um die Gleisarbeiter*innen zu retten, so ist zu beachten, was sich aus diesem ‘Resultat’ des GEX überhaupt ableiten lässt – und was nicht. Als illustratives Mittel, um potentielle Ursachen für bestimmte moralische Intuitionen aufzuzeigen – beispielsweise die Rolle des Grades von Aktivität/Passivität im Falle der Weichenumstellung einerseits und des Schubsens andererseits – eignen sich GEX möglicherweise. Als alleinstehende Argumente, um Ethiktheorien zu bestätigen oder zu widerlegen (was so oder so schwierig sein dürfte), tun sie das eher nicht.

2. Glaube ich, dass das GEX nachvollziehbar ist und alle Gesprächsteilnehmenden über ausreichend Hintergrundwissen verfügen, um es zu verstehen?

Ist der erste Punkt geklärt, sollte man sich vergewissern, ob nur ich das GEX gut nachvollziehen kann und ob es als unmittelbar verständlich einzustufen ist. Schließlich sind manche GEX, insbesondere spontan selbst erdachte, ziemlich komplex, zeitweise sogar verwirrend und erfordern nicht unerheblichen Erklärungsaufwand. An dieser Stelle ist abzuwägen, ob der vermutete Erkenntnisgewinn durch das GEX den Erklärungsaufwand rechtfertigen kann oder ob nicht eine andere Möglichkeit der Veranschaulichung sinnvoller wäre. Eigentlich sollte es nicht erwähnt werden müssen, aber gerade bei umfangreich ausgebauten GEX ist eine solide Kenntnis des GEX sowie die Fähigkeit zur verständlichen Wiedergabe des Szenarios absolut unabdingbar.

3. Ist ein GEX in einer konkreten Diskussionssituation sinnvoll und angebracht?

Die Einhaltung dieser Regel soll insbesondere der Situation vorbeugen, in der ein GEX zu sehr in den Vordergrund rückt und die Diskussion sprengt. Vor dem Hintergrund, dass die  standardmäßigen 90 Minuten eines philosophischen Seminars ohnehin schon häufig zu kurz sind, um das vorgesehene Programm zu absolvieren, haben GEX das Potential – was wohl an den teilweise durchaus abstrusen und konstruierten Szenarien liegt – sehr viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während gerade dies auch eine gute Eigenschaft sein kann, um Menschen in den Bann philosophischer Fragestellungen zu ziehen, bergen GEX damit erfahrungsgemäß ebenso die Gefahr, Ausgangspunkt für häufig sinnlose Diskussionen über abstrakte Rahmenbedingungen und ihre Modifizierbarkeit darzustellen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Auch hier bestätigen Ausnahmen die Regeln. Trotz unseres Wunsches nach einem durchdachten Einsatz von GEX wollen wir natürlich nicht leugnen, dass ein spontaner Einwurf auch ohne tiefergehende vorangegangene Reflexion gerade auf Grund der Anziehungskraft eine Diskussion spontan neu beleben und in interessante Richtungen lenken kann.

Sind alle Bedingungen erfüllt, ist es recht wahrscheinlich, dass ein GEX von dem/der Sender*in sinnvoll eingesetzt werden kann. Doch ob ein GEX eine Diskussion bereichert, hängt gleichermaßen von den Empfänger*innen ab. Auch der beste Gedanke scheitert bekanntlich an einem missgünstigen Publikum.

Die Einhaltung folgender Regeln erachten wir als sinnvoll, wenn man mit einem Gedankenexperiment konfrontiert wird, sich also in der Empfänger*innenrolle wiederfindet.

1. Wohlwollendes Einlassen!

Wird man mit einem GEX konfrontiert, gilt das Gleiche wie sonst auch in einer Diskussion: Zunächst sollte man sich wohlwollend auf den Punkt des Gegenübers einlassen. Bei GEX ist das insofern noch relevanter als sonst, da sie nicht nur aufmerksames Zuhören, sondern häufig auch ein aktives Mitmachen erfordern. Diskussionen über Sinnhaftigkeit oder Realitätsnähe eines vorgestellten GEX erachten wir nicht als prinzipiell sinnlos, sollten aber vielleicht nicht die erste Reaktion sein.

2. Akzeptieren der Handlungsbedingungen und Konsequenzen!

Zweitens sollten die Empfänger*innen akzeptieren, dass es nur die im jeweiligen GEX vorgestellten Handlungsoptionen gibt. Im Einzelfall mag davon abgewichen werden können, in den allermeisten Fällen torpedieren vermeintlich kluge Alternativszenarien jedoch die gerade erst begonnene Diskussion und zerstören jede Möglichkeit von GEX als (didaktische) Methode, irgendeinen Nutzen zu entfalten. Für einen produktiven Umgang mit dem Trolley-Experiment beispielsweise sind also sowohl Vorschläge wie „Ich beeile mich einfach und rette alle!“ als auch Einwände wie „Das ist doch nicht realistisch und würde niemals so passieren!“ kontraproduktiv, weil sie den zunächst festgezurrten Rahmen des Gedankenexperiments sprengen und am eigentlichen Punkt, in diesem Fall der Illustration eines ethischen Dilemmas, vorbeigehen. Uns jedenfalls ist es noch nicht passiert, dass solche Beiträge mit der Intention derjenigen Person, die das GEX eingeführt hat, vereinbar gewesen wären.     

Ebenso sicher, wie wir uns sind, dass diese Regeln nicht perfekt oder vollständig sind und zuweilen unterschiedliche Interpretationen zulassen, sind wir auch von der Richtigkeit folgender These überzeugt: GEX werden nicht allzu schnell aus philosophischen Seminarräumen (heute: Zoom-Konferenzen) verschwinden. So wichtig die Fragen sein mögen, die in vielen akademischen Beiträgen zu GEX geäußert und beantwortet werden, kann es definitiv nicht schaden, auch aus pragmatischer Perspektive darüber nachzudenken, wie mit ihnen umgegangen werden sollte, damit sie einen Nutzen haben können.   
Gerade, weil die so fantasievollen, teils verwirrenden und kontrovers diskutieren Szenarien, in denen es um Leben und Tod geht, eine so lange Tradition haben und auch weiterhin als hypothetischer Ausgangspunkt vieler lebhafter Diskussionen dienen werden, scheint beides für Studierende wichtig zu sein: eine kritische Reflexion über die Methode der GEX und ihre Chancen und Grenzen sowie ein darauf aufbauendes Verständnis davon, welche Regeln im Umgang mit ihnen beachtet werden müssen. Beides schließt sich natürlich nicht aus: Ein grundlegendes Verständnis, was GEX leisten können und was nicht, kann sicherlich als notwendig angesehen werden, um sie sinnvoll einzusetzen (siehe etwa Regel 1 für Sender*in).

Im besten Fall geht es nach 70 Minuten Seminar nicht noch immer darum, durchaus sehr fantasievolle Einfälle zu diskutieren, wie man der dilemmatischen Situation entgeht und doch alle sich in Gefahr befindlichen Menschen retten könnte – etwas, was in der Praxis immer wünschenswert sein mag, nicht aber in philosophischen Diskussionen.


Das aus dem erwähnten Projektseminar entstandene Video ist unter folgendem Link zu finden: https://vimeo.com/432120156.


Fredrik Brüggen, Johannes Löhr und Nils Wendler haben den Master ‚Praktische Philosophie der Wirtschaft und Umwelt‘ an der Universität Kiel studiert und dieses Jahr abgeschlossen.
Fredrik Brüggen arbeitet derzeit an einer Gemeinschaftsschule und entwickelt ein Promotionskonzept zum Themenkomplex ‚Ästhetik, Stadt und Relationaler Egalitarismus‘. Johannes Löhr macht ein Praktikum in einer Unternehmensberatung für Nachhaltigkeit. Nils Wendler promoviert im Rahmen eines Forschungsprojekts, das sich mit der Verteilung von Finanzen für Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel beschäftigt, an der Universität Kiel.

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