15 Dez

Boris liest etwas, das nicht aufgeht, und schaut „House of Cards“

Erzählung als Gedankenexperiment

Von Veronika Reichl (Berlin)


Dies ist eine Erzählung über das Lesen von Hegel und darüber, wie man mit seinen Aufhebungen umgehen könnte. Sie ist auf der Basis von Interviews mit Hegelleser*innen entstanden, doch ich ordne Motive und Beobachtungen, Thesen und Erfahrungen aus verschiedenen Interviews neu an. Ich kürze, was die Erzählung sprengt. Ich spekuliere und entwerfe Zusammenhänge, während ich eine Fiktion formuliere, als wäre sie geschehen. Und so fange ich an:

Den ganzen Tag hatte Boris Anrufe erledigt, E-Mails geschrieben und Papiere aufgeräumt. Nun setzt er sich an seinen Schreibtisch, um das zehnseitige Herr-und-Knecht-Kapitel für das Hegelseminar am nächsten Tag zu lesen. Er kommt schnell in den Text. Es geht um Selbstbewusstsein und Anerkennung. Ein Kampf um Leben und Tod ist nötig, um ein volles Selbstbewusstsein auszubilden. Die Aggressivität dieser Idee überrascht Boris. Alle paar Absätze schaut er zu den Spatzen, die vor dem Fenster lärmen. Sie fliegen hin und her und schimpfen im Magnolienbaum. Hunderte kleiner, weißer Wolken ziehen hurtig über sie hinweg. Boris guckt wieder ins Buch. Schließlich kommt Hegel direkt auf Herr und Knecht zu sprechen. Hegel schreibt:

Die Wahrheit des selbstständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein. Dieses erscheint zwar zunächst außer sich und nicht als die Wahrheit des Selbstbewußtseins. Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren.

Hegels Denken ist überall ein Denken in Aufhebungen. In diesem Fall ist es wohl eine Doppelaufhebung, durch die der Knecht ein Herrnselbstbewusstsein erreicht, während der Herr als unselbstständiges Knechtbewusstein sichtbar wird. Wie bei fast allen von Hegels Aufhebungen hat Boris ein ungefähres Gefühl für die Bedeutung, aber er kann sie irgendwie nicht bis zu ihrem zu Ende denken. Die Stoßrichtung ist klar, aber was genau das Ergebnis sein wird, kann Boris nicht ausmachen. Er kann es weder konstruieren noch intuitiv wahrnehmen. Zum Beispiel der Knecht: Durch die Arbeit am Ding kehrt sich sein unselbstständiges Bewusstsein in ein selbstständiges Bewusstsein um. Das leuchtet Boris ein. Doch es scheint ihm, als komme diese Bewegung bei Hegel nie an ihr Ende. Der Knecht bewegt sich auf das selbstständige Selbstbewusstsein zu, doch er erreicht es nie ganz. Daher sind im Knecht unselbstständiges und selbstständiges Bewusstsein zugleich vorhanden. Es ist nicht klar, wie ihre Mischung aussieht oder welche Folgen das hat, doch es ist wichtig. Es führt unter anderem dazu, dass Boris nichts anderes über den Knecht denken kann, solange dieser in seinem Zwischenzustand gefangen ist. Das ist irgendwie interessant, aber es frustriert Boris auch.

Boris holt sich ein Wasser. Als er zurück am Schreibtisch ist, setzt er sich nicht wieder hin, sondern läuft im Zimmer auf und ab. Vielleicht – und das ist ein ganz neuer Gedanke – gehen Hegels Aufhebungen nie ganz auf! Boris ist sich mit einem Mal gewiss: Die Aufhebungen sind Bewegungen, die niemals enden und doch oder gerade deshalb nicht alles erfassen. Von jeder Aufhebung bleiben unruhige Reste übrig. Boris weiß nicht, was dort geschieht, aber egal ist es nicht. Denn dieses Restzeug verhindert, dass sich Hegels Thesen in Boris’ Kopf ganz in Wohlgefallen auflösen und Boris aus einer klaren Ausgangssituation heraus den nächsten Abschnitt lesen kann. Dass Boris das bis jetzt nicht durchschaut hat, liegt wahrscheinlich auch an seinem Dozenten. Der liest Hegel, als ob alles ohne Rest aufginge.

Hegel selbst behauptet ja, dass mit ihm eine riesige Bewegung ende. Etwas vollende sich und bilde nun eine gewaltige, fertige Ordnung. Der Staat Preußen und so weiter. Dann stehe alles still. Das kann Boris nicht ernst nehmen. Doch obwohl er nicht an die fertige Ordnung glaubt, ist er der Interpretation des Dozenten doch in den meisten anderen Punkten gefolgt. Er hat seinen eigenen Wahrnehmungen von Hegels Texten nicht getraut, genau weil immer etwas unverständlich und unruhig blieb und er dachte, der Dozent verstehe das eben doch besser als er. Immer noch lärmen die Spatzen, immer noch eilen zerzauste Wölkchen über den Himmel. Boris liest weiter und spürt die Reste der Aufhebungen nun überall im Text. Sie sind merkwürdig lebendig: Sie bewegen sich, sie driften immer weiter. Auch wenn sie zu Sätzen gehören, die Boris bereits hinter sich gelassen hat, machen sie ihn unruhig. Boris verliert sie nur deshalb aus den Augen, weil auch die folgenden Absätze neue, driftende Reste produzieren. Es kommt ihm so vor, als ginge in Hegels Aufhebungen nicht nur etwas nicht zu Ende, sondern als begänne auch dauernd etwas in den Resten, ohne dass Boris sagen könnte, was eigentlich. Als setze Hegels Text ständig etwas Neues in Gang, das – falls Hegel es genauer überdächte – wieder etwas bislang selbst von Hegel noch nicht Gedachtes, Neues in Gang setzen würde. Das wird nie enden, egal was Hegel (und der Dozent) sich wünschen.

Boris klappt das Buch zu und geht in die Küche. Er macht sich Chickenwings mit Reis und Salbei und schaut House of Cards. Während er überrascht zusieht, wie Claire und Frank Underwood Edward Meechum verführen – oder umgekehrt? –, wird Boris klar, dass die Handlungsbögen in House of Cards wie Hegelsche Aufhebungen funktionieren. Jedenfalls in den Folgen, die richtig gut gemacht sind: Es gibt eine Ausgangslage mit unterschiedlichen Kräften. Diese Lage schlägt in einer plötzlichen Wendung in eine neue Konstellation um. Es ist das Ergebnis einer schon lange wirkenden Kraft und doch geschieht es mit einer überraschenden Plötzlichkeit. Wenn die Folge richtig gut ist, hat Boris zum Beispiel erwartet, dass das Gewicht sich ballen und schließlich eine Wippe zum kippen bringen werde, aber stattdessen fühlt es sich an, als stülpe sich etwas von Innen nach Außen oder als werde etwas Grünes rot. Vieles bleibt erhalten und doch hat sich etwas Entscheidendes verändert: Die Konstellationen und Figuren wurden auf eine neue Ebene gehoben. Und dabei entstehen unruhige Reste. Insbesondere bei den Nebenfiguren zeigt die Serie ihm diese Reste oft nicht: Im Off driften die Figuren in eine neue Richtung. Boris weiß nicht, wie sich das Alte und das Neue für sie und in ihnen mischen. Später tauchen manche von ihnen wieder auf: Sie sind weiter getrieben und agieren nun von einer anderen Stelle als jener, an der die Serie sie verlassen hatte. Es dauert immer einen Moment bis Boris sich in ihre neue Lebenssituation eingefunden hat. Wenn es gut gemacht ist, ist die Entwicklung überraschend und nachvollziehbar zugleich.

Dass die besten Handlungsverläufe wie Aufhebungen funktionieren, die in Kippmomenten ihren Höhepunkt finden, gilt ebenso für die großen Intrigen wie für kleine Handlungsschlenker: Zoe Barnes Ermordung verschiebt die Dynamik der gesamten Serie. Es ist eine Aufhebung mit virulenten Resten. Die Reste dieses Kippmoments – etwa die Auswirkung ihres Todes auf ihren Freund Lucas – werden zwar rasch sichtbar, haben aber auch überraschende Spätfolgen – unter anderem ein Attentat, das sich ereignet, als Boris schon gar nicht mehr an Lucas denkt. Aber auch der Dreier von Claire, Frank und Meechum kann als ein solches (wenn auch unwichtigeres) Kippmoment einer Aufhebung betrachtet werden. Diesen Dreier findet Boris sehr elegant: Nicht nur, wie sich die Situation unerwartet und doch überzeugend dreht, sondern auch, dass es zwei Männer und eine Frau sind und die Homosexualität der beiden Männer auf eine sehr selbstverständliche Weise gezeigt wird. Es ist ein Kippmoment, weil sich auch hier Kräfte entladen und Boris die Underwoods nun anders sieht: sie erscheinen ihm auf eine neue Weise souverän. Auch dieses Kippmoment verursacht produktive Unklarheiten. Solche Kippmomente und ihre überraschenden Reste machen Boris kurz glücklich.

Doch etwas ist an der Serie anders als bei Hegel. Die Reste, die House of Cards erzeugt, machen Boris nicht unruhig. Sie verhindern nicht, dass sich sein Denken in der Handlung entspannen kann. Der Unterschied ist wohl: Hegel gibt Boris eine Anleitung für die Aufhebung, doch Boris muss sie selbst ausführen und die Konsequenzen in vielen Bereichen selbst abschätzen, obwohl er das höchstens teilweise kann. Bei House of Cards dagegen bekommt Boris alles gezeigt. Er denkt nur über das nach, was zu sehen ist. Die Reste sind interessante Möglichkeiten für die nächsten Folgen und Staffeln, sie belasten ihn nicht.

Boris macht den Abwasch und versucht, Hegels Ideen zu Herr und Knecht auf House of Cards anzuwenden. In House of Cards arbeiten die Herrschenden ständig an anderen Menschen und Dingen (einem Gesetzentwurf etc.). Sie gewinnen dabei an Selbstbewusstsein in ähnlichem Maße, wie sie an Macht gewinnen. Was sich aufhebungsartig umdreht und kippt ist vor allem die Art und Weise, in der Macht ausgespielt und Regeln außer Kraft gesetzt werden. Die Knechte aber bleiben Knechte, auch wenn der BBQ-Imbiss-Inhaber Freddy durchaus ein klares Bewusstsein seiner Lage und in gewisser Weise auch ein starkes Selbstbewusstsein hat. Boris denkt: Dieser Kampf auf Leben und Tod findet in House of Cards tatsächlich statt, wobei nur die Mörder wissen, dass tatsächlich Leben auf dem Spiel stehen. In der Logik von House of Cards ist dieser Kampf zwar unmoralisch, aber für die Protagonisten dennoch richtig. Er kann nur mit einem starken Bewusstsein geführt und gewonnen werden. Die Arbeit an diesem Bewusstsein wird immer wieder explizit thematisiert. Man könnte sagen, Claire und Frank arbeiten mit höchst unmoralischen Mitteln unentwegt an ihrem Herrenselbstbewusstsein.

Und Hegel? Hätte er House of Cards gemocht? Oder hätte er die Serie zu amoralisch gefunden? Oder zu unwirklich? Oder zu banal? War ihm überhaupt klar, wie ungeheuer anstrengend seine Reste sind? Waren sie auch für ihn anstrengend? Vielleicht waren sie etwas, was Hegel schlichtweg nicht vermeiden konnte? Ein Überschuss an Bewegung, den Hegel, der sich ja wünschte, dass alles mit ihm ende, versehentlich unentwegt auslöste? Die driftenden Reste wären dann das Unbewusste von Hegels Denken. Etwas, das ihm an seinem Text unheimlich war, das er verdrängte und das ihn doch umtrieb: Eine große Unruhe, die sich gegen seinen Willen in den Text hineinschrieb. So könnte es gewesen sein. Doch eigentlich glaubt Boris nicht daran. Er glaubt, dass Hegel die Reste wahrnahm und absichtlich im Text beließ; dass er die Reste heimlich liebte; dass ihm sein driftender Text reich und schillernd und größer als er selbst erschien. Dafür spricht auch der letzte Satz der Phänomenologie: Ein (leicht verfälschtes) Schillerzitat:

– aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit.

Diese schäumende Unendlichkeit kann sich Boris nur als unentwegt hervorsprudelnden Schaum vorstellen. Sie hängt für Hegel sicherlich mit einer unendlichen Abfolge von Aufhebungen zusammen. Doch wenn alle Aufhebungen ohne Reste aufgingen, ergäbe sich eine Kette. Schaum entsteht nur dann, wenn die Aufhebungen Reste hervorbringen. Dieser Gedanke gefällt Boris ziemlich gut, kurz erwägt er, ihn morgen im Seminar als Frage vorzutragen. Einen Moment später wird ihm klar, dass er seinen Dozenten damit nicht überzeugen würde und das gar nicht erst versuchen sollte. Der Abwasch ist fertig. Boris wischt noch einmal über die Arbeitsplatten und verlässt die Küche.


Die Erzählung stammt aus dem Band „Im Schaum dieser Sprache: Hegel lesen. Texte und Zeichnungen von Veronika Reichl“, herausgegeben von Sandra Potsch. Museum Hölderlinturm Tübingen, 2020.

Mehr zu dem Buch hier. Bestellbar ist es hier.


Veronika Reichl lebt als Künstlerin, Autorin und Dozentin in Berlin.

2008 veröffentlichte sie „Sprachkino: Zur Schnittstelle zwischen abstrakter Sprache und Bildlichkeit“ (Buch und experimentelle Animationsfilmen auf DVD). 2020 erschien der Band „Im Schaum dieser Sprache: Hegel lesen: Texte und Zeichnungen von Veronika Reichl“, herausgegeben von Sandra Potsch.

Veronika Reichl studierte Kommunikationsdesign und Media Art an der Merz Akademie, Stuttgart. Sie promovierte im Fach Art, Design and Media bei Diedrich Diederichsen an der University of Portsmouth zur Visualisierbarkeit von theoretischer Sprache.

Sie zeigt Vortragsperformances, Installationen, Animationsfilme und Im Kunst- und Theoriekontext.

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