06 Nov

Über das empirisch informierte Beleidigen von Kollegen

von Peter Königs (Karlsruhe)


Akademische Debatten unterliegen bestimmten Diskursregeln. Dazu zählen etwa die Pflicht, bereits existierende Forschungsliteratur zu berücksichtigen, die Pflicht, das Principle of Charity zu achten und auch die Pflicht, Argumente inhaltlich zu prüfen, anstatt einfach deren Urheber persönlich anzugreifen. Dass ad hominem-Attacken unzulässig sind, vielleicht sogar Fehlschlüsse, lernt jeder Philosophiestudent im ersten Semester. Was jedoch genau das Problem ist mit ad hominem-Attacken, ist – überraschenderweise – gar nicht so klar, wie man zunächst meinen würde. Und – vielleicht auch etwas überraschend − wirft eine aktuelle moralpsychologische Debatte genau diese Frage auf.

Eine prägende Figur des aktuellen moralpsychologischen Booms ist der Harvard-Professor Joshua Greene. Eine der Hauptthesen des Utilitaristen Greene ist, dass deontologische Moraltheorien das Resultat von post hoc-Rationalisierung sind. Deontologen, so die These, gelangen nicht durch ergebnisoffene Reflektion zu ihren deontologischen Theorien. Vielmehr werden sie von emotionalen deontologischen Intuitionen überwältigt, welche sie dann lediglich zu rationalisieren suchen. Erst kommt etwa die Intuition, dass man den dicken Mann nicht von der Brücke schubsen darf, dann kommt die Suche nach Gründen, mit denen man diese Intuition rechtfertigen könnte. Diese Vorgehensweise ist aber natürlich irrational und unzuverlässig. Wenn das Ergebnis der Überlegungen bereits vorher feststeht, wird man die vorliegende Evidenz kaum richtig bewerten. Entsprechend braucht man die Produkte dieser Überlegungen − deontologische Moraltheorien – nicht ernst zu nehmen.

Inwiefern Moraltheorien tatsächlich bloß dazu dienen, die eigenen Vorurteile zu rationalisieren, lässt sich schwer bestimmen. Einerseits möchte man meinen, dass ausgebildete Philosophen für post hoc-Rationalisierung nicht anfällig sind. Empirische Befunde werfen jedoch kein gutes Licht auf uns ‚Profi-Denker‘. Experimente von Eric Schwitzgebel und Fiery Cushman deuten darauf hin, dass auch ausgebildete Philosophen durchaus dazu tendieren, Intuitionen post hoc zu rationalisieren. Schwitzgebel und Cushman ließen Philosophen verschiedene Varianten des Trolley-Dilemmas bewerten und haben dabei zunächst Reihenfolge-Effekte nachgewiesen. Das heißt, die Antworten variierten in Abhängigkeit davon, welche Variante des Dilemmas als erstes gezeigt wurde. Darüber hinaus fanden Schwitzgebel und Cushman jedoch auch, dass die Reihenfolge der präsentierten Dilemmata Einfluss darauf hatte, welchen abstrakten moralischen Prinzipien − etwa dem Prinzip der Doppelwirkung − Philosophen anschließend zustimmten. Erstaunlicherweise war dieser Effekt bei Philosophen sogar ausgeprägter als bei philosophischen Laien.

Greenes Vermutung, dass Philosophen post hoc rationalisieren, lässt sich also zumindest nicht ohne weiteres als empirisch verfehlt zurückweisen. Kurios ist jedoch, dass es sich bei seinem Argument im Grunde eben um eine empirisch informierte Beleidigung handelt. Den deontologischen Kollegen wird unterstellt, sie würden nicht unbefangen und ‚ergebnisoffen‘ theoretisieren, sondern bloß ihre bereits feststehenden deontologischen Vorurteile zu bestätigen versuchen. Im Grunde wird ihnen also epistemische Irrationalität vorgeworfen. Kein Deontologe würde eine solche ad hominem-Attacke durchgehen lassen. Stattdessen würde er wohl erwidern: „Zeig mir lieber, wo der Fehler in meinem Argument ist, anstatt meine Theorie pauschal als post hoc Rationalisierung zu diffamieren.“ Und diese Erwiderung erscheint zunächst legitim. Schließlich würden wir auch keine anderen ad hominem-Argumente zulassen, die die philosophische Kompetenz des Urhebers einer Theorie oder eines Arguments infrage stellen. Man betrachte die folgenden ad hominem-Attacken, die zumindest ihrer Struktur nach Greenes Argument ähneln:

– Dein Argument ist wahrscheinlich falsch, denn du bist nur ein Doktorand einer mittelmäßigen Universität.

– Dein Argument ist wahrscheinlich falsch, denn bisher lagst du bei solchen Themen immer fürchterlich daneben.

– Dein Lösungsvorschlag für das Leib-Seele-Problem ist wahrscheinlich falsch. Schließlich sind bisher selbst die größten Geister an diesem Problem gescheitert.

Auch solche ad hominem-Argumente, die dem Argument Greenes ähneln, sind in akademischen Debatten natürlich nicht gestattet. Mit solchen Vorwürfen würde man durch kein peer review-Verfahren kommen. Will man ein philosophisches Argument angreifen, so muss man direkt Fehler im Argument nachweisen, statt pauschal die Kompetenz dessen Urhebers anzuzweifeln.

So weit, so unkontrovers. Die interessante Frage jedoch ist: warum?

Der erste Gedanke ist natürlich, dass es sich bei ad hominem-Argumenten um Fehlschlüsse handelt. Das ist argumentationstheoretisches Grundwissen. Bloß sind nicht alle ad hominem-Argumente auch Fehlschlüsse. So stimmt es zum Beispiel, dass jeder neue Lösungsvorschlag für das Leib-Seele-Problem wahrscheinlich falsch ist, weil Lösungen für das Leib-Seele-Problem nun mal einfach falsch zu sein pflegen. Eine nähere Analyse des Arguments ist daher gar nicht unbedingt nötig. Ähnliches gilt für Greenes ad hominem-Attacke auf Deontologen. Sollte es stimmen, dass die empirischen Daten nahelegen, dass Deontologen große post hoc-Rationalisierer sind, ist es völlig korrekt zu vermuten, dass deren Theorien wahrscheinlich falsch sind. So gemein das Argument sein mag, um einen Fehlschluss handelt es sich nicht.

Um zu verstehen, warum uns derartige ad hominem-Attacken unzulässig erscheinen, müssen wir uns deren Vor- und Nachteile vor Augen führen. Sie haben den Vorteil, dass sie zeit- und ressourcensparend sind. Beurteilt man ein Argument nach der philosophischen Kompetenz des Autors, kann man auf eine genaue inhaltliche Analyse des Arguments verzichten. Man nimmt quasi eine philosophische Abkürzung. Der Nachteil ist jedoch, dass man letztlich nur eine ungenaue Schätzung vornehmen kann. Anstatt das Argument en detail auf seine Stichhaltigkeit zu prüfen, schätzt man bloß, ob es wohl richtig ist oder falsch. Sicher sein kann man sich dann nicht. Auch Philosophen, deren Urteilskraft eingeschränkt ist, finden mal ein philosophisches Korn. Theoretisch könnte auch mal der mittemäßige Doktorand richtig liegen oder der Deontologe, der zu Rationalisierungen neigt. Gewissheit gibt es erst, wenn man das Argument inhaltlich prüft.

Ad hominem-Argumente sind also ökonomisch, aber ungenau. Die plausibelste Erklärung nun, warum sie nicht zulässig sind, ist, dass im akademischen Diskurs implizit davon ausgegangen wird, dass wir genügend Ressourcen haben, Fragestellungen abschließend zu klären, und dass wir zudem unter keinem Zeitdruck stehen. Es scheint keine Frist zu geben, innerhalb derer das Leib-Seele-Problem oder das Trolley-Problem gelöst werden müssen. Philosophen fühlen daher keinen Druck, irgendwelche Entscheidungen zu fällen. Und deshalb gibt es auch keine Not, auf ressourcensparende, aber ungenaue Heuristiken zurückzugreifen.

Verlassen wir jedoch den akademischen Kontext, ändern sich die Dinge: Man stelle sich vor, der Trolley rast tatsächlich gerade auf die Arbeiter zu und wir haben nur eine knappe Minute Zeit zu entscheiden, ob wir den dicken Mann runterschubsen oder nicht. In dieser Situation scheint es legitim, deontologische Argumente gegen das Schubsen des dicken Mannes als bloße post hoc-Rationalisierungen zu verwerfen. Niemand würde einwenden: „Moment mal, das ist zu ungenau. So können wir nicht vorgehen. Lasst uns die Argumente erst mal genau anschauen.“

Die Zulässigkeit von ad hominem-Attacken ist somit kontextabhängig. Letztlich lädt dieser Befund dazu ein, über die Struktur akademischer, speziell philosophischer Debatte zu reflektieren. Der Grund, warum ad hominem-Argumente normalerweise als unzulässig betrachtet werden, hat in letzter Konsequenz mit der ‚Abgehobenheit‘ akademischer Philosophie zu tun – damit, dass sie sich nicht für zeitkritische Entscheidungen zuständig sieht.


Greene, Joshua 2014: Beyond Point-and-Shoot Morality: Why Cognitive Neuroscience Matters for Ethics, Ethics (124, 4), S. 695-726.

Königs, Peter 2018: Two Types of Debunking Arguments, Philosophical Psychology (31,3), S. 383-402.

Schwitzgebel, Eric/Cushman, Fiery 2012: Expertise in Moral Reasoning? Order Effects on Moral Judgments in Professional Philosophers and Non-Philosophers, Mind & Language:(27, 2), S. 135-153


Peter Königs ist Post-Doc am KIT. Der Blog-Beitrag basiert auf einem Aufsatz, der aus seiner Doktorarbeit über moralische Debunking-Argumente hervorgegangen ist. Er hat darüber hinaus zu Themen in der politischen Philosophie gearbeitet, speziell zu Toleranz, und forscht nun zum Problem staatlicher Überwachung.

 

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