10 Jun

Alles noch normal? Im Graubereich zwischen psychischer Gesundheit und psychischer Erkrankung

Dieser Blogbeitrag basiert auf einem Aufsatz, der in Ethik in der Medizin erschienen ist.


Von Tobias Skuban-Eiseler (München)


„Neulich habe ich kurz vor dem Einschlafen den Eindruck gehabt, komische Dinge zu sehen. Es war, als ob ich wirklich mitten in einem Film wäre. Bin ich noch normal oder schon psychisch krank?“ Diese Frage wurde mir neulich durch einen Patienten gestellt. Ich konnte ihn schnell beruhigen und darauf hinweisen, dass dieses bekannte Phänomen als „hypnagoge Halluzinationen“ bezeichnet wird und er nicht an einer psychischen Erkrankung leidet. Beim Nachdenken über dieses Gespräch hatte ich allerdings das Gefühl, dass da irgendetwas in der Kommunikation nicht ganz stimmig war. Völlig intuitiv hatte ich beigepflichtet, dass es sich bei den Begriffen „Normalität“ und „psychische Erkrankung“ um ein Gegensatzpaar handelt. Zumindest hatte ich an der Formulierung des Patienten keinen Anstoß in Bezug auf die Begriffslogik genommen. Dass ich damit nicht alleine stehe, zeigt sowohl der alltagssprachliche Gebrauch wie auch die wissenschaftliche Literatur. Auch hier wird „Normalität“ und „psychische Erkrankung“ durchaus als Gegensatzpaar verwendet. Ist dem aber wirklich so und wenn nicht – birgt eine solch möglicherweise ungerechtfertigte Verwendung der Begriffe auch Gefahren?

Was ist eigentlich eine psychische Erkrankung?

Es mag erstaunen, aber es ist gar nicht einfach zu konkretisieren, was man unter einer psychischen Erkrankung versteht. Zunächst kann eine psychische Erkrankung als Funktionsabweichung interpretiert werden. Damit findet man sich in guter Gesellschaft, denn in der somatischen Medizin ist dies der übliche Blick auf das Wesen von „Erkrankung“. Wenn eine psychische Erkrankung allerdings aus einer gestörten Funktion resultiert, muss erst einmal geklärt werden, was denn nun genau gestört ist (das Gehirn? der Geist? die Seele?) und was die natürliche Funktion sein soll, von der es offensichtlich eine Abweichung gibt. Und hier gerät man in nicht triviale Schwierigkeiten. Christopher Boorse etwa postuliert, dass der Funktionalitätsbegriff solche Aspekte integriert, die zum Überleben und zur Reproduktion notwendig sind. Doch was soll das in Bezug auf die Psyche bedeuten? Welche psychischen Funktionen sollen es sein, die zu diesen beiden Zielen benötigt werden? Und können Störungen dieser Funktionen tatsächlich die große Bandbreite an psychischen Erkrankungen erklären? Es scheint indes unzweifelhaft, dass zu einer Erkrankung ein gewisses Maß an Leiderfahrung gehört. Doch gibt es durchaus psychische Phänomene, die mit Leiden verbunden sind, denen wir aber keinen Krankheitswert zuweisen würden (man denke etwa an Liebeskummer). Psychische Krankheiten sind mit Einschränkung und Behinderung verbunden. Doch auch dieses Kriterium ist nicht unproblematisch, ist das Ausmaß der Behinderung durch eine Erkrankung doch stark davon abhängig, in welchem kulturellen Kontext diese auftritt. Schließlich kann eine psychische Erkrankung auch als nicht gelungene (evolutionäre) Adaptation verstanden werden, also als Einschränkung in Bezug auf Überleben oder Reproduktion. Hierbei begibt man sich allerdings in eine heikle Zone, denn so gesehen wären auch in manchen Gesellschaften drakonischerweise mit Todesstrafen geächtete Lebenswirklichkeiten (wie etwa Homosexualität) als Erkrankungen anzusehen.

Was verstehen wir unter „Normalität“?

Ebenso schwierig ist es, den Begriff der Normalität klar zu definieren. Zunächst bezieht sich „Normalität“ auf eine statistische Häufung. Insofern ist normal, was häufig ist. Normalität kann auch Indikator für eine nicht notwendige besondere Interventionsbedürftigkeit sein. Alles, was von der Normalität abweicht, erfordert dann ein gesteigertes Maß an Aufmerksamkeit. Turbulenzen beim Fliegen sind insofern „normal“, denn kaum ein Flug findet ohne solche statt. Die Piloten bleiben dabei auch vollkommen entspannt. Es sieht aber schon anders aus, wenn alle vier Triebwerke einer A380 gleichzeitig ausfallen. Dies wäre in diesem Sinne „unnormal“ und im Cockpit würde sich wohl alles auf die Lösung dieses Problems konzentrieren. Normalität ist immer auch mit dem Nimbus des Durchschnittlichen verbunden – und das Durchschnittliche hat immer schon eine gewisse Nähe zur Mittelmäßigkeit. Insofern ist die Einheitsbanane zwar normal, aber doch auch irgendwie mittelmäßig. Normalität legitimiert auch Professionsmacht. Wenn etwa ein körperlicher Aspekt als nicht normal empfunden wird, dann fällt dieser nicht selten in den Kompetenz- und Machtbereich der Medizin.

Zur Normativität von Normalität und psychischer Erkrankung

Sowohl der Begriff des Normalen als auch derjenige der (psychischen) Erkrankung sind nicht rein deskriptive, sondern auch normative Begriffe. Schon David Hume hat darauf hingewiesen, dass es einen naturalistischen Fehlschluss darstellt, wenn aus einem deskriptiven ein normativer Satz abgeleitet wird: Etwas, das sich in den philosophischen Lehrbüchern sehr verständlich ausmacht, uns im Alltag aber nicht selten unterkommt. Im Sinne eines solchen naturalistischen Fehlschlusses wären alle Dinge, die statistisch gehäuft vorkommen, als normativ vorzugswürdig, also als Sollwert zu betrachten. Ob wir das allerdings auch in Bezug auf eine Volkskrankheit wie Karies behaupten würden, ist mindestens fraglich. Auch beim Begriff der (psychischen) Erkrankung handelt es sich um einen mit hochgradig normativer Aufladung. Wenn etwas als erkrankt bezeichnet wird, ist es auch etwas, das so nicht sein soll und behandelt werden muss. Letztlich ist die Legitimation des gesamten medizinischen Handelns auf diese Axiologie zurückzuführen.

Begriffsvermischung

Nun kommen wir zum Problem der Begriffsvermischung. Wenn Anormalität mit psychischer Erkrankung gleichgesetzt wird, übersieht man, dass die beiden Begriffe in ihrer Bedeutung überhaupt nicht übereinstimmen. Außerdem gehorchen sie vollkommen unterschiedlichen Begriffslogiken. Während nach einer oft vertretenen Auffassung Gesundheit und Krankheit Pole eines Kontinuums darstellen, lässt sich Normalität in Form einer Glockenkurve abbilden. Wenn die Begriffslogik der Normalität unreflektiert auf das Konstrukt der psychischen Erkrankung übertragen wird, dann fällt umso mehr in den Professionsbereich der Psychiatrie, je enger der Bereich des Normalen definiert wird. Ob etwas als psychische Erkrankung zu bezeichnen ist, wäre dann das Produkt von Konventionen. Es ließen sich sehr schnell politisch brisante Interessenten für besonders enge Normalitätsbereiche finden. Die Pharmaindustrie etwa hat sicher ein gesteigertes Interesse daran, dass möglichst viele psychische Phänomene als Zeichen einer Erkrankung gesehen werden.

Und wo ist nun das Problem?

Fasst man psychische Gesundheit und Krankheit als Eckpunkte eines Kontinuums auf, dann ist es an den Rändern dieses Kontinuums leicht möglich, eine psychische Erkrankung zu identifizieren. Ausgeprägte psychische Störungen wie akute Schizophrenien oder massive Persönlichkeitsstörungen werden wohl zweifelsfrei den Erkrankungen zugeordnet. Hier reicht die Orientierung an einem bipolaren Kontinuum aus. Schwieriger wird es, wenn wir Phänomene betrachten, die im oder nahe des Graubereichs zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit liegen. Dann greift nicht selten eine Orientierung an der Normalität mit den eben erwähnten problematischen Konsequenzen, namentlich der möglicherweise ungerechtfertigten Ausweitung des psychiatrischen Machtbereiches. Es kann indes nicht im Sinne einer modernen und sozialen Psychiatrie sein, in zunehmender Weise psychische Phänomene als Teil ihres Verfügungsbereiches zu sehen, in Bezug auf welche wir uns möglicherweise schon mit dem Erkrankungsbegriff schwertun. Verhält es sich doch eher umgekehrt: Die Psychiatrie sollte stärker reflektieren, ob nicht auch (oder vielleicht gerade) das Un-Normale einem hohen Grad an Gesundheit entspricht.


Boorse C (1977) Health as a theoretical concept. Philos Sci 44(4):532-573

Heinz A (2014) Der Begriff der psychischen Krankheit. Suhrkamp, Berlin

Horstmann (2013) Ethik der Normalität. Zur Evolution moralischer Semantik in der Moderne. Dissertation. Technische Universität. Dortmund

Rössler W (2013) What is normal? The impact of psychiatric classification on mental health practice and research. Front Public Health 1(68):1-4


Tobias Skuban-Eiseler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet als Oberarzt die Institutsambulanz des Krisen- und Behandlungszentrums Atriumhaus in München (https://kbo-iak.de/standorte/atriumhaus). Als Sexualtherapeut leitet er zudem eine Sexualtherapeutische Spezialsprechstunde. Er ist Masterstudent an der Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ in München und seit seinem Studium des Konzertfaches Orgel begeisterter Organist.

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