Ethik der Ernährung

„Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens“, sagt Epikur und man kann sich vorstellen, wie er in seinem berühmten Garten im Kreise seiner Freund*innen (zu denen übrigens auch Frauen und Nicht-Griech*innen gehörten) zufrieden ein frugales Mahl genießt und über die Götter und die Welt philosophiert. Ob er dadurch als Vorreiter einer heutigen „Gastrosophie“ oder gar als der erste Slow-Foody gelten kann, ist Gegenstand philosophiehistorischer Untersuchungen. Im Laufe der Geschichte wurde sein auf Zufriedenheit und Lebensglück zielender selbstgenügsamer Hedonismus durch stoische und später christliche Einflüsse häufig diffamiert, karikiert und als „Schweinephilosophie“ abgetan. Diese negative Konnotation haftet dem Hedonismus nach wie vor zu Unrecht an.

Heute hat die alltägliche Praxis der Nahrungsaufnahme in unserer schnelllebigen, auf Effizienz und Leistung ausgerichteten und technikgetriebenen Gesellschaft keinen sonderlich hohen Stellenwert mehr. Obwohl (oder gerade weil) populäre Kochshows, Ratgeber und Lifestyle-Kochbücher Konjunktur haben, wird Ernährung zumeist in erster Linie unter physiologischen und funktionalen Gesichtspunkten betrachtet. „Gute“ Ernährung soll gesund sein und neuerdings „nachhaltig“. Damit endet aber auch schon der Konsens. Obwohl Ludwig Feuerbachs Einschätzung, pflanzliche Kost führe zu „trägem Kartoffelblut“, aus medizinischer Perspektive nicht mehr überzeugt und es sicher andere Gründe für das verbreitete Phänomen der „Couch-Potato“ gibt, hält sich der hartnäckige Mythos vom Fleisch als einem „Stück Lebenskraft“. Fleischkonsum samt seiner bedenklichen sozio-ökonomischen Produktionsvoraussetzungen wird zwar zunehmend, zuletzt unter dem Brennglas der Corona-Pandemie, zum gesellschaftlichen Zankapfel. Allerdings gelten gerade traditionelle Ernährungsgewohnheiten immer noch als sakrosankt und Privatsache, in die sich in einer liberalen Gesellschaft niemand einzumischen hat. Gleichzeitig ist die Forschung über geeignete Ersatzprodukte im Aufwind. Um die fortschreitende Umweltzerstörung, den dadurch verstärkten Klimawandel, das persistente Armuts- und Hungerproblem des globalen Südens und tierethische Bedenken gegenüber der industrialisierten Massentierhaltung in den Griff zu bekommen, werden Fleischprodukte aus Stammzellen im Labor gezüchtet. Alternativ wird darüber spekuliert, ob die eigentlich überall auf der Welt außer in westlichen Gesellschaften verbreitete Praxis der Entomophagie, das Verzehren von Insekten, Abhilfe schaffen könnte, sofern man potenziellen Konsument*innen diese Neuerung irgendwie schmackhaft machen kann.

Aber was hat das alles mit Philosophie zu tun? Ist Essen nicht ein viel zu profanes Thema, um sich ausführlich und systematisch damit auseinanderzusetzen? Obgleich schon Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft die Frage nach einer „Philosophie der Ernährung“ aufwarf, steckt diese, zumindest in der deutschsprachigen Philosophie, noch in den Kinderschuhen. Dabei erscheint es plausibel, dass eine solche erstens tatsächlich eine gaia scientia ist (im doppelten Sinne: macht Spaß und hat bestenfalls praktische Auswirkungen auf den Umgang mit „Mutter Erde“), und zweitens die alltägliche Praxis Anlass zu ganz grundlegenden Überlegungen bietet. Hier nur einige Beispiele: Unter welchen deskriptiven und normativen Bedingungen werden Dinge und Lebewesen überhaupt als „Nahrungsmittel“ angesehen? Welchen Einfluss haben plurale Welt- und Menschenbilder auf die soziale und individuelle Normalität bestimmter Ernährungsgewohnheiten? Ist Essen tatsächlich Privatsache oder vielmehr ein politischer Akt? Müssen wir bei unseren Ernährungsentscheidungen moralische Pflichten bzw. Verantwortung gegenüber uns fernstehenden Personen und künftigen Generationen übernehmen? Führt eine „Moralisierung“ alltäglicher Ernährungsentscheidungen zu moralischer Überforderung? Welche impliziten Biases erschweren reflektierte und verantwortliche Ernährungsentscheidungen? Lassen sich ästhetische und ethische Aspekte bestimmter Ernährungsweisen ggf. gegeneinander aufrechnen? Was ist überhaupt unter einer Philosophie bzw. Ethik der Ernährung zu verstehen? Woher kommt es, dass sich noch so wenige Philosoph*innen mit dieser Thematik beschäftigt haben?

Solchen und ähnlichen Fragen möchten wir ab Juli 2021 im neuen Themenblock „Ethik der Ernährung“ auf den Grund gehen und freuen uns über Eure Ideen und Beiträge, die Ihr bitte einfach an blog@praefaktisch.de schickt!


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