03 Aug

Die Rolle der Ernährung im menschlichen Leben

Von Ursula Wolf (Mannheim)


Dass wir essen und trinken, ist lebensnotwendig. Weil das so ist, hat die Natur uns mit Begierden ausgestattet, die auf einen Mangel an Flüssigkeit und Nahrung hinweisen, und mit Lustgefühlen, die mit der Auffüllung des Mangels einhergehen. Die klassischen griechischen Philosophen haben diese Art des Begehrens und der Lust abgewertet, weil eine solche sinnliche Lust auch bei Tieren vorkommt und daher nicht zu dem gehören kann, was ein gutes menschliches Leben ausmacht. Platon argumentiert, das Gute und die Lust müssten zweierlei sein, weil das Gute nicht mit Schlechtem gemischt sein kann, sinnliche Lust aber immer mit Unlust gemischt ist, da die Unlust-Empfindung des Mangels und die Auffüllungslust gleichzeitig erfahren werden. Ähnlich scheidet Aristoteles das Leben des sinnlichen Genusses aus den Kandidaten für ein gutes menschliches Leben aus, weil wir es mit Tieren teilen, während es beim Menschen nur mit einer Vorbedingung des guten Lebens, der körperlichen Gesundheit, zu tun hat. Die Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse ist mit der Tugend der Mäßigkeit vorzunehmen, d.h. so weit, wie es für ein gutes Leben notwendig ist. Das gute Leben für den Menschen beginnt seiner Auffassung nach dort, wo solche lebensnotwendigen Voraussetzungen (zu denen nicht nur die Nahrung gehört, sondern alle materiellen Lebensbedingungen) gegeben sind und die Menschen ungestört durch Mangelempfindungen und Begierden ihr Leben in vernunftgeleiteten Tätigkeiten aktualisieren können, die nun nicht sinnliche Lust bewirken, sondern unbehinderte, frei vollzogene in sich selbst lustvoll sind.

Nun hat diese Abwertung der Lust am Essen mit Aspekten der antiken Metaphysik zu tun, wonach das Einfache, Reine, Ungemischte wertvoller ist als das Gemischte, und die praktische Relevanz dieser metaphysischen Lehre ist für uns nicht mehr unbedingt einsichtig. Dass die bloße Befriedigung sinnlicher Begierden nicht das gute menschliche Leben ausmachen kann, ist aber auch unabhängig davon plausibel. Man denke an den bekannten Satz von John Stuart Mill: „Es ist besser, ein unzufriedener (unsatisfied, wörtlich: unaufgefüllter) Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein…“ Doch die Befriedigung durch die Auffüllung körperlicher Mangelzustände ist sicher nicht der einzige Aspekt, welchen die Ernährung im menschlichen Leben hat. Natürlich kennt schon die Antike verfeinerte Speisen, die nicht nur Sättigung, sondern besonderen Genuss bieten, den man als eine Art ästhetischen Wert ansehen kann. Ebenso ist die soziale Bedeutung des Essens präsent. Gastfreunde werden ausgiebig bewirtet. Gemeinsame Gastmähler und Trinkgelage bilden den Rahmen für Gespräche und philosophische Diskussionen, wie etwa in Platons Symposion. Auch der Opferkult wird manchmal erwähnt, also die Rolle von Speisen in religiösen Praktiken.

Auch wenn diese Bedeutungsdimensionen des Essens im Alltag und in der Literatur präsent sind, werden sie in der antiken Philosophie kaum berücksichtigt, ihre Betrachtung der Ernährung beschränkt sich auf die Voraussetzungen des guten Lebens. Auch moralische Aspekte, die mit der Ernährung verbunden sind, spielen dort keine wesentliche Rolle, abgesehen von einigen philosophischen Positionen, welche wie diejenige der Pythagoräer die Seelenwanderung lehrt und daher das Essen von Tieren ablehnt. Heute ist die Frage der Ernährung hingegen enorm moralisch aufgeladen, und das in vielfältigen Hinsichten: Umweltbelastung durch intensiven Anbau oder Pestizide, Tierleid durch Massentierhaltung, Welthunger, ungerechte Arbeitsbedingungen in der Nahrungsproduktion. Um eine Philosophie der Ernährung zu schreiben, müsste man alle diese Dimensionen des guten Lebens und der Moral durcharbeiten und einen systematischen Zusammenhang zwischen ihnen entwickeln. Dass dies noch nicht geschehen ist, ist allerdings nicht verwunderlich. Denn wo man nach praktischen Ratschlägen und Regeln für Anwendungsfragen sucht, ist man häufig mit einer komplexen Menge an Sachverhalten, Begriffen und Bewertungen konfrontiert, die sich nicht leicht sortieren und handhaben lässt. Hinzu kommt etwas anderes. Alle die genannten Teilfragen sind nicht speziell Fragen im Zusammenhang mit der Ernährung. Für die Gesundheit ist nicht nur die Ernährung relevant, sondern ebenso Bewegung, Schlaf und anderes mehr. Ästhetischen Wert haben nicht nur raffiniert komponierte Speisen, sondern ebenso oder mehr noch Kunstwerke und Natur. Sozial und kulturell bedeutend ist nicht nur das gemeinsame Essen, sondern vieles andere. Tiere werden nicht nur zur Nahrungsproduktion gequält, sondern auch in Tierversuchen und weiteren Praktiken; die Umwelt wird nicht nur durch intensive Tierhaltung und Landwirtschaft geschädigt, sondern auch durch Industrie, Autoabgase und vieles mehr; schlechte Arbeitsbedingungen gibt es auch in Berufen, die nicht mit Nahrungsproduktion zu tun haben. Das heißt, dass die Suche nach einer Ethik der Ernährung nicht ein umgrenztes Problemfeld herausgreift, dass wir hier kein handhabbares Thema einer philosophischen Untersuchung vor uns haben, sondern sich überschneidende Aspekte vieler und breiter praktischer Problemdimensionen.

Tatsächlich ist die Frage nach der richtigen Ernährung wie alle Fragen, die nach Entscheidungskriterien für konkrete Situationen suchen, letztlich Bestandteil der praktischen Frage überhaupt, der praktischen Grundfrage, auf der Sokrates in Platons Dialogen immer wieder insistiert: Wie soll man leben, wie zu leben ist gut und richtig? Eine informierte Beantwortung dieser Frage würde zunächst ein vollständiges Sachwissen voraussetzen, ein umfangreiches Faktenwissen über die eigene Situation, die Lage der Gesellschaft und der Welt im ganzen, sodann eine Kenntnis der Naturgesetze und der menschlichen Handlungsfähigkeiten und technischen Möglichkeiten, um zu wissen, was wir erreichen können und mit welchen Kosten und welchem Aufwand.

Schon die einfachste Frage bezüglich der Ernährung, die Frage, welche Nahrung gesund ist, setzt in der Tat in hohem Maß Sachwissen voraus: Wissen über Physiologie, darüber, welche Nährstoffe, in welchen Anteilen, welche Vitamine, Spurenelemente usw. optimal für die menschliche Natur sind, Information darüber, wie die fertigen Nahrungsmittel, die wir kaufen, zusammengesetzt sind. Wir müssten, um auszuwählen, souveräne Verbraucher sein, die über vollständige Produktinformationen in allen diesen Punkten verfügen. Über die Frage, was notwendig und gesund für den Menschen ist, können wir uns aktiv wissenschaftliche Information beschaffen. Für die weiteren Punkte sind wir auf politische Regelungen angewiesen, welche anordnen, dass Verbrauchern die für die freie Konsumwahl nötigen Informationen verfügbar sind, wie das in der Pflicht zur Deklaration der Inhaltsstoffe gegeben ist.

Doch das Ideal des vollständig informiert handelnden Konsumenten ist eine Illusion; wir erreichen nie ein vollständiges Sachwissen, da dieses ständig wächst und sich ändert. Würden wir ein solches anstreben, bliebe keine Zeit zum Leben übrig. Die Frage für die handelnde Person ist, an welcher Stelle man die Suche nach Wissen vernünftigerweise abbricht. Das lässt sich nicht allgemein beantworten. Die Frage der Ernährung ist nur eine von vielen Fragen des Lebens, und daher hängt, wie viel Zeit man mit der Nachforschung über Nahrung zubringt, auch davon ab, wie wichtig man sie im Vergleich mit anderen Dingen nimmt. Das aber ist eine Frage der Bewertung. Das Sachwissen alleine liefert keine Entscheidungskriterien, solange nicht Bewertungen hinzukommen. Manche messen bei der Wahl der Nahrung der Sorge um die Gesundheit den höchsten Stellenwert bei, andere machen hier Abstriche zugunsten der ästhetischen und geselligen Seite des Essens.

Das sind subjektiv unterschiedliche Bewertungen, über die man nicht streiten kann. Schwierig wird es, wenn man die moralischen Probleme hinzunimmt, die ich oben erwähnt habe. Ich greife aus den zahlreichen Fragen, die man hier diskutieren könnte, zwei Beispiele heraus, erstens die Tiere und zweitens den Welthunger.

In der Tierethikdebatte gibt es das Argument, wir seien berechtigt, Fleisch zu essen, weil das kulturell verankerte Praxis ist, die bei gemeinsamen Mahlen eine Bedeutung im Zusammenleben hat. Nun ist das Verbot der Leidenszufügung eine moralische Grundnorm, die niemand, der sich überhaupt moralisch versteht, bestreiten würde, und moralische Gründe beschränken gerade unsere Praxis. Doch praktische Probleme sind komplex und vielschichtig, und entsprechend würde hier eine umfangreiche praktische Überlegung erforderlich sein, ehe man zu einer Entscheidung in einem konkreten Fall kommt. Zunächst müsste man auch hier empirische Fakten feststellen, insbesondere ob alle Tiere leiden, ob alle auf dieselbe Weise, ob es möglich ist, Tiere leidensfrei zu töten. Die ethische Überlegung beginnt danach. Sie müsste genau genommen ausführlich und genau philosophisch explizieren, was das Tötungsverbot als solches und unabhängig vom Leiden bedeutet, welche Eigenschaften von Tieren in der Moral relevant sind, wie wir mit der mangelnden Reziprozität unserer Pflichten gegen Tiere umgehen, ob es in der Nutzung einen grundlegenden Unterschied zwischen Tieren geben sollte, die wir halten, und solchen, die frei leben, ob für die moralische Relevanz nur die Eigenschaften der Wesen zählen oder ob die Existenz oder der Grad moralischer Verpflichtungen auch mit der Art der Beziehung zusammenhängt, in der wir zu den betroffenen Wesen stehen, und schließlich welche Stellung und welches Gewicht die Moral im guten Leben der Person hat, da sie nur ein Aspekt des Lebens neben anderen ist. Eine solche moralphilosophische Untersuchung kann man aber von Personen, die im Alltag mit Entscheidungssituationen konfrontiert sind, nicht verlangen. Vermutlich wird meistens der zuletzt genannte Punkt, die Bedeutung, welche eine Person der Moral innerhalb ihres Lebens beimisst, sowie die Art ihrer Beziehung zu Tieren eine Rolle spielen. Dann wird es schwierig sein, die Person, wenn man ihre Sicht für unangemessen hält, mit Argumenten zu überzeugen. Es müsste hier eher darum gehen, der Person den Sinn und die Implikationen ihrer Lebensweise explizit vor Augen zu führen.

Dürfen wir allein oder gemeinsam Gourmetessen genießen, obwohl andere hungern? Das ist eine Frage anderer Art. Der Zusammenhang mit dem Leben der handelnden Personen ist hier indirekt. Wenn niemand mehr Fleisch essen würde, würden keine Tiere mehr zur Fleischproduktion gehalten und getötet. Wenn alle auf das Vergnügen am Kochen, am Essen von Spezialitäten, an gemeinsamen Festmählern verzichten würden, würde die Welt dadurch nicht gerechter. Sie würde ein Stück gerechter, wenn niemand mehr Nahrung essen würde, die unter ausbeuterischen Bedingungen produziert wird. Aber die individuellen Verbraucher haben weder die Mittel noch die Zeit, das Wissen darüber einzuholen. Dieses Wissen können wir nur bekommen, wenn es politische Regelungen gibt, welche die Offenlegung dieser Bedingungen durch die Produktionsfirmen vorschreiben oder diese verpflichten, nur unter moralisch angemessenen Bedingungen zu produzieren, wie es ansatzweise das Lieferkettengesetz versucht. Hier zeigt sich, dass die Fragen der angewandten Ethik nicht nur umfangreich und komplex sind, sondern dass sie häufig die Handlungsmacht des Individuums überschreiten und so über die Ethik hinaus in Probleme führen, die zu lösen Aufgabe der Politik ist.  

In diesem Zusammenhang möchte ich zum Schluss ein Buch empfehlen, das mir, obwohl es schon einige Jahre alt ist, unter der umfangreichen angelsächsischen Literatur an Substanz herauszustechen scheint, weil es zwar klar moralisch Stellung gegen Tierquälerei und Ungerechtigkeit bezieht, aber doch gegen die in der Philosophie traditionell verankerte Sinnenfeindlichkeit die positiven Werte des Nahrungsgenusses herausarbeitet und gegen die heute verbreitete utilitaristische Forderung der altruistischen Aufopferung die Einzigkeit des Lebens betont, durch die das Individuum nur einmal und kurze Zeit die Möglichkeit hat, sein eigenes Leben in der Entwicklung seiner Talente und der Verfolgung seiner eigenen Projekte zu leben: Elizabeth Telfer, Food für Thought. Philosophy and Food, London 1996.


Ursula Wolf ist Seniorprofessorin für Philosophie an der Universität Mannheim.

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