06 Jun

Mehr als bloße Ansteckung? Wie Musik unsere Emotionen beeinflusst

Von Anja Berninger (Stuttgart)

Kunst vermag unsere emotionale Verfassung in vielfältiger Weise zu beeinflussen. Das Schicksal einer Romanfigur kann uns mit tiefer Trauer erfüllen, das Sehen eines Horrorfilmes kann in uns starke Furcht auslösen und das Betrachten eines Bildes kann uns erheitern. Kunst hat also in all ihren unterschiedlichen Formen Einfluss auf unser emotionales Erleben, jedoch scheint einer Gattung hier eine besondere Rolle zuzukommen. Kaum eine Kunstform wirkt so unmittelbar auf uns ein wie Musik, und kaum eine Gattung nutzen wir so intensiv, um unsere Emotionen zu beeinflussen. Man denke nur daran, wie oft Musik im Alltag zum Einsatz kommt (bzw. wie oft wir sie auch selbst verwenden) um unsere emotionale Verfassung zu verändern.

Musik stellt aber nicht nur wegen der Häufigkeit, mit der wir sie zur Emotionsinduktion benutzen, einen interessanten Fall dar. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Weise, in der Musik Emotionen hervorruft, von ganz eigener Art ist. Um dies zu verdeutlichen, können wir uns zunächst exemplarisch den Fall einer Emotionsinduktion durch die Rezeption eines Romans vor Augen führen. Nehmen wir beispielsweise an, ich lese den Roman Effi Briest und empfinde dabei tiefe Trauer. Wie komme ich nun zu dieser Emotion? Eine mögliche Erklärung ist, dass ich mich gedanklich in die Situation der Titelheldin Effi hineinversetzt habe. Dabei habe ich erkannt, dass diese Situation völlig ausweglos ist, und das erfüllt mich mit Trauer. Man könnte hier auch sagen: Ich empfinde Trauer, weil dies die Emotion ist, die auch Effi in dieser Situation empfinden sollte. Es ist die Emotion, die zu Effis Situation passt. Meine affektive Reaktion kommt also zustande, weil es hier einen bestimmten fiktionalen Charakter gibt, in dessen Situation ich mich gedanklich hineinversetze und auf dessen Situation ich emotional reagiere. Auch beim Schauen von Filmen und Betrachten von Bildern sind vermutlich ähnliche Mechanismen am Werk. Auch hier wird meine emotionale Reaktion meist etwas damit zu tun haben, dass ich mich in eine der dargestellten Figuren hineinversetze. Das skizzierte Modell der Emotionsübernahme lässt sich also über die Grenzen einzelner Genres hinweg anwenden. Allerdings stößt es schnell an seine Grenzen, wenn es um den Einfluss geht, den Musik auf unsere emotionale Verfassung ausübt. Absolute Musik zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie keine Geschichte erzählt bzw. keine narrative Struktur aufweist. So kann mich das Hören einer Mozart-Symphonie erheitern. Das geschieht aber vermutlich nicht, weil ich mich hier in die Situation einer anderen Person hineinversetze. Oft sieht es so aus, als würde die Musik mich einfach „mitreißen“, ohne dass ich selbst etwas dazu beitragen müsste. In der philosophischen Debatte ist bei solchen scheinbar automatisch ablaufenden Emotionsübernahmen auch die Rede davon, dass man es mit einer Form von emotionaler Ansteckung zu tun habe.

Emotionale Ansteckung ist kein Phänomen, das nur in Reaktion auf Musik auftritt. Vielmehr scheinen wir auch im Alltag oft unbewusst die emotionalen Reaktionen anderer zu übernehmen. Schon Säuglinge sind offenbar emotional ansteckbar, wenn sie beispielsweise auf das Weinen eines kleinen Kindes ebenfalls mit Weinen reagieren. Von emotionaler Ansteckung ist dementsprechend auch nicht nur in ästhetischen Kontexten die Rede. Vielmehr wird der Ausdruck immer dann verwendet, wenn es darum geht, eine rein automatisch ablaufende, vielfach unbewusste Emotionsübernahme zu beschreiben. Meist wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Emotionsübernahme körperlich vermittelt ist. Wir werden zum Beispiel traurig, wenn wir ein trauriges Gesicht betrachten, weil wir ganz automatisch dessen Mimik imitieren (also selbst einen traurigen Gesichtsausdruck annehmen). Dieses Übernehmen des Ausdrucks führt nach gängiger Meinung dann durch interne Feedbackmechanismen dazu, dass wir uns selbst auch traurig fühlen.

Tatsächlich ist es auf den ersten Blick plausibel, dass auch bei der Emotionsinduktion durch Musik ganz ähnliche Mechanismen eine Rolle spielen. Denken wir beispielsweise einmal an die Hintergrundmusik, die oft in Läden, Bars und Cafés gespielt wird. Oft verändert diese unsere Emotionen auf subtile Art und Weise. Auch hier ist es einleuchtend, dass dieser emotionale Prozess quasi automatisch und ohne unser Zutun abläuft, denn oft bemerken wir noch nicht einmal, dass wir Musik hören. Imitationsmechanismen scheinen hier zudem ebenfalls eine Rolle zu spielen, denn nicht selten ändern wir unbewusst unsere Körperhaltung, wippen im Takt, verlangsamen oder beschleunigen unseren Schritt. Es sieht also ganz so aus, als wäre es tatsächlich sehr passend, im Hinblick auf unsere Interaktion mit Musik von emotionaler Ansteckung zu sprechen.

Nun hören wir aber natürlich nicht nur in Cafés und beim Einkaufen Musik. Vielmehr gibt es noch eine ganz andere Form von Musikerfahrung, die wir hier berücksichtigen sollten, nämlich diejenige eines emotional involvierten Konzertbesuchers. Stellen wir uns beispielsweise vor, ein solcher Konzertbesucher hört eine Komposition von Ligeti und reagiert emotional auf diese. Auch dieser Hörer wird offenkundig unmittelbar durch die Musik emotional affiziert. Sollten wir also hier ganz analog sagen, dass wir es mit einem Fall emotionaler Ansteckung zu tun haben?

In manchen Fällen ist das vielleicht zutreffend, ich denke aber, dass wir nicht jede Form von emotionaler Reaktion seitens des Publikums so rubrizieren sollten. Aus meiner Sicht gibt es zumindest einen guten Grund, die emotionalen Reaktionen von Konzertbesuchern nicht pauschal unter dem Oberbegriff emotionale Ansteckung zu subsumieren. Nicht jede Form von Musik ist so gefällig, wie diejenige, mit der wir in Kaufhäusern und Bars konfrontiert sind. Oft ist eine emotionale Reaktion seitens der Konzertbesucher nicht einfach nur das Produkt einer automatisch ablaufenden, primär körperlich vermittelten Reaktion. Vielmehr muss man sagen, dass vielfach die emotionale Reaktion des Konzertbesuchers bereits eine intellektuelle Leistung darstellt. Wenn wir sie einfach als Fall einer „emotionalen Ansteckung“ verstehen, verlieren wir diesen Aspekt der Situation schnell aus dem Blick.

Wenn wir nun also die emotionale Reaktion eines Konzertgängers als intellektuelle Leistung darstellen wollen, wo können wir dann ansetzen? Wie lässt sich die fragliche kognitive Aktivität genauer beschreiben? Aus meiner Sicht müssen wir hier vorsichtig sein. Die Reaktion des Konzertgängers sollte immer noch als Ergebnis eines primär auditiven und emotionalen Prozesses (und damit eben nicht als Produkt rein intellektueller Abläufe) verstanden werden.

Der Schlüssel zu einem solchen Verständnis liegt aus meiner Sicht in der stärkeren Berücksichtigung einer basalen menschlichen Fähigkeit, nämlich unserer Aufmerksamkeit. Diese zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass wir sie aktiv steuern können. Wir sind etwa in der Lage, die eigene Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Objekt zu lenken oder diesem unsere Aufmerksamkeit wieder zu entziehen. Natürlich haben wir hier keine absolute Kontrolle, können aber dennoch steuernd eingreifen. Es ist deshalb interessant, diese Fähigkeit in den Blick zu nehmen, weil in der jeweiligen Distribution von Aufmerksamkeit eben zugleich auch der wesentliche Unterschied zwischen dem Fall des Kaufhausbesuchers, der mit Musik beschallt wird und unwillkürlich emotional darauf reagiert, und dem des Konzertbesuchers, der scheinbar aktiv auf die Musik eingeht, besteht. Nur letzterer lenkt seine Aufmerksamkeit gezielt auf die Musik. Man könnte also vermuten, dass genau darin, also in der Steuerung der eigenen Aufmerksamkeit, die fragliche kognitive Aktivität des Konzertbesuchers besteht.

Schön und gut, könnte man sagen, aber was hat das nun mit den emotionalen Reaktionen des Hörers zu tun? Warum soll denn diesbezüglich Aufmerksamkeit überhaupt eine Rolle spielen? Wenn wir davon ausgehen, dass diese emotionale Reaktion im Wesentlichen körperlich vermittelt ist (nämlich dadurch, dass wir quasi automatisch Imitationsverhalten an den Tag legen), dann müsste es für eben diese emotionale Reaktion ganz egal sein, wie viel Aufmerksamkeit wir der Musik nun schenken.

Tatsächlich ist aber die in der Literatur zu emotionaler Ansteckung gängige Fokussierung auf rein körperliche Parameter, die ich oben bereits erwähnte, ohnehin ziemlich überraschend, zumindest wenn man die Entwicklung der Emotionsphilosophie und -psychologie der letzten Jahre in den Blick nimmt. Betrachtet man nämlich die empirische Literatur zu Emotionen, dann fällt schnell auf, dass es ein vermehrtes Interesse für Änderungen in bestimmten kognitiven Parametern gibt, die mit emotionalen Zuständen einhergehen. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Emotionen wie Wut oder Trauer zentrale Parameter wie etwa die Denkgeschwindigkeit und die Variabilität des kognitiven Gehalts verändern. Diesen Studien zufolge ist beispielsweise Trauer mit einer Verlangsamung der Denkgeschwindigkeit und einer Einschränkung der kognitiven Variabilität verbunden.

Nimmt man nun weiterhin an, dass es sich bei diesen Veränderungen nicht um bloße Effekte einer Emotion handelt, sondern sie vielmehr Teil der Emotion selbst sind, dann lässt sich damit auch der Fall des Konzertbesuchers besser analysieren. Es fällt nämlich auf, dass viele der typischerweise angeführten kognitiven Parameter nicht nur auf unser Denken Anwendung finden können, sondern vielmehr auch eine unmittelbare Entsprechung im Bereich der Musik haben. Auch Musik kann eine geringere oder größere thematische Variabilität aufweisen, auch sie kann mit größerer oder kleinerer Geschwindigkeit voranschreiten. Wenn wir nun davon ausgehen, dass der Konzertbesucher seine Aufmerksamkeit auf die Musik lenkt, dann ist es naheliegend, dass er damit zugleich auch kognitiv diese Veränderungen in der Musik mitvollzieht. Das lässt es wiederum plausibel erscheinen, dass er somit indirekt auch seine eigenen kognitiven Parameter entsprechend beeinflusst. Da aber die Veränderung der kognitiven Parameter bereits Teil einer emotionalen Reaktion ist, führt die Person indirekt damit auch eine Änderung ihres emotionalen Zustands herbei.

Was wir hier sehen, ist dass es neben der vielbeschriebenen „emotionalen Ansteckung“ auch andere emotionale Reaktionen auf Musik gibt, die nicht rein körperlich vermittelt ablaufen, aber trotzdem von anderer Art sind als die oben beschriebenen Varianten der emotionalen Einfühlung, die offensichtlich sehr viel weitreichendere kognitive Ressourcen beanspruchen. Es gibt also nicht die eine Art, auf die Musik Emotionen hervorruft, sondern vielmehr unterschiedliche Formen der Emotionsinduktion. Und zugleich zeigt sich auch, dass man diese verschiedenen Varianten nur dann verstehen kann, wenn man auch die neueren Entwicklungen der Emotionstheorie im Blick behält. Somit ist dieser Beitrag auch als ein Plädoyer für eine enge Verknüpfung von ästhetischen Fragestellungen und Themen aus der Philosophie des Geistes zu lesen.


Für eine ausführlichere Behandlung der Thematik mit Verweisen auf weiterführende Literatur vergleiche: Anja Berninger,„Empathie, Emotionen und Musik“, in: Susanne Schmetkamp, Magdalena Zorn (Hg.), Empathie und Ästhetik, Schriftenreihe der Mainzer Akademie der Wissenschaften, Steiner Verlag: Stuttgart 2018, S. 53-64.


Anja Berninger ist Akademische Rätin am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart. Ihr Hauptarbeitsgebiet sind die Philosophie des Geistes und hier insbesondere die Themenfelder „Emotionen“ sowie „Erinnerung und Gedächtnis“. Zudem interessiert sie sich auch für chinesische Philosophie.

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