26 Jan

Habermas und die Medien: Überlegungen zum neuen Strukturwandel der Öffentlichkeit

von Hans-Henrik Dassow (Universität Bremen)

Wenn von Personen der Öffentlichkeit akademische Arbeiten erneut hervorgeholt werden, ist dies für die Betroffenen häufig nicht sehr erfreulich: Zu treffsicher sind die Algorithmen von Plagiat-Software darin, akademische Verfehlungen von Autor*innen aufzudecken. Der Philosoph der Öffentlichkeit, Jürgen Habermas (*1929), muss zunächst nicht um seine akademischen Titel fürchten: Das wiedererwachte Interesse an seiner Habilitationsschrift aus dem Jahr 1962 mit dem Titel Strukturwandel der Öffentlichkeit steht ebenfalls im Zusammenhang mit Algorithmen, wenngleich mit solchen, die unseren digitalen Alltag maßgeblich prägen. Hierbei schweben mir die Empfehlungsalgorithmen von Facebook und Twitter, die Algorithmen hinter Social Bots oder Algorithmen zur Enttarnung von Falsch- und Hassnachrichten vor.

Unter dem Einfluss von Hegel, Marx und Adorno zeichnet der junge Habermas den historischen Entwicklungsprozess der Öffentlichkeit von der Antike bis in die Nachkriegsgesellschaften der 1950er und 1960er Jahre nach. Im Sinne einer Kritischen Theorie der Öffentlichkeit beschreibt er die Öffentlichkeit des 20. Jahrhunderts als eine ökonomisierte Öffentlichkeit der Massenmedien, deren zentrale Funktion die Werbung sei. Die Trennung von Wirtschaft, Staat und politischer Öffentlichkeit würde immer mehr aufgehoben. Die einst politische Öffentlichkeit büße ihre bedeutende Funktion im Prozess der demokratischen Willensbildung ein.

Man fragt sich nun, was uns der junge Habermas zur digitalen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts zu sagen hätte. Aus meiner Sicht ist seine Ausarbeitung eines materialistischen Begriffs der Öffentlichkeit von zentraler Bedeutung. Unter materialistisch verstehe ich die Fokussierung auf ökonomische Machtverhältnisse und die Betonung der Geschichtlichkeit der Öffentlichkeit im Sinne einer sich stets wandelnden Kategorie. Implizit folgt für mich hieraus, dass demokratische Gesellschaften für die herausragende Bedeutung der Öffentlichkeit im Sinne eines Korrektivs sensibilisiert werden müssen, erst dann könne die Öffentlichkeit gegenüber Einflussnahmen von Staat und Wirtschaft verteidigt werden. Vor dem Hintergrund dieses materialistischen Begriffs der Öffentlichkeit sollen nun zeitgenössische Phänomene der digitalen Öffentlichkeit eingeordnet werden.

Von Gutenberg zu Zuckerberg

Ein historischer Vergleich setzt bei Johannes Gutenberg dem Erfinder des Buchdrucks und Mark Zuckerberg dem Gründer des Sozialen Netzwerks Facebook an. In einer verbreiteten Analogie wird seine Erfindung in der Form des Buchdrucks mit der „Erfindung“ Sozialer Netzwerke verglichen: Durch Gutenberg wurden Alle zu potentiellen Leser*innen, Zuckerberg machte aus uns Allen potentielle Journalist*innen. Sicherlich hinkt dieser historische Vergleich an vielen Stellen. In einer Hinsicht kann er für unsere Überlegungen jedoch dienlich sein: Die Menschen mussten erst das Lesen lernen, so wie wir werden lernen müssen, verantwortungsvoll mit der neuen Reichweite unserer Gedankenschnipsel in der digitalen Öffentlichkeit umzugehen.

Welche Rolle könnte die philosophische Ethik in diesem Lernprozess spielen? Neben der Deontologie und dem Konsequentialismus (häufig synonym für Utilitarismus) gilt die Tugendethik als ein bedeutendes ethisches Paradigma der westlichen Philosophie. Die Tugendethik fragt in Abgrenzung zu Deontologie und Konsequentialismus nicht: Was soll ich tun? Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Charakterdispositionen (Tugenden) wir an einem Menschen schätzen – also: Wie soll ich sein?

Die Tugendethikerin Shannon Vallor wendet die Tugendethik auf ethische Fragen der Digitalisierung an. So fragt sie sich, welche Tugenden wir bei Nutzer*innen Sozialer Netzwerke als wünschenswert betrachten. Nach ihren Überlegungen sind Geduld, Ehrlichkeit und Empathie die zentralen Tugenden für das gute Leben in den Sozialen Netzwerken. Denken wir an die rasante Beschleunigung der Kommunikation durch Soziale Netzwerke, grassierende Falschnachrichten und Desinformationskampagnen sowie an Cybermobbing, könnten wir Vallor entgegnen, dass ihre tugendethischen Überlegungen wenig Gehör fänden. Dies mag in Teilen zutreffen, doch nehmen wir Habermas Überlegungen zur Geschichtlichkeit der Öffentlichkeit ernst, müssen wir uns eingestehen, höchstwahrscheinlich erst am Beginn eines langwierigen Prozesses zur Ausbildung einer digitalen Öffentlichkeit unter demokratischen Vorzeichen zu stehen. In diesem Prozess sollte ethischen Überlegungen eine bedeutendere Rolle eingeräumt werden als bisher.

Ethik, Recht und Politik – ein Widerspruch?

Doch haben wir überhaupt die Zeit dafür, uns über eine Ethik für das digitale Zeitalter zu verständigen? Rennt uns nicht die Zeit davon? Sind sofortige Maßnahmen in Recht und Politik nicht viel wirksamer und effizienter? Dies ist ein häufig hervorgebrachter Zweifel gegenüber den Vertreter*innen einer digitalen Ethik. Diesem Zweifel unterliegt die Annahme, Vertreter*innen einer digitalen Ethik würden diese als ein Alleinheilmittel betrachten und rechtliche sowie politische Maßnahmen außer Acht lassen. Diese Annahme halte ich für ein Missverständnis: Digitale Ethik ist komplementär und sollte stets im Zusammenspiel mit Recht und Politik betrachtet werden.

Das Beispiel der Hassnachrichten in Sozialen Netzwerken soll diese Ansicht kurz illustrieren. Unabhängig davon, welcher ethischen Denkschule wir uns verpflichtet fühlen, würden wir ohne große intellektuelle Bemühungen Hassnachrichten aus ethischer Perspektive verurteilen: Wir haben die Pflicht gegenüber uns und unseren Mitmenschen, die Würde der Menschen zu achten (Deontologie). Der Schaden, der aus der sprachlichen Herabsetzung anderer Menschen resultiert, ist nicht wünschenswert (Konsequentialismus). Hassnachrichten widersprechen einer empathischen Haltung gegenüber unseren Mitmenschen (Tugendethik). Dennoch werden Menschen tagtäglich zu Tausenden Opfer von Hassnachrichten in Sozialen Netzwerken.

Versagt nun also die digitale Ethik? Mitnichten! Zugleich gibt es eine Vielzahl an Menschen, die sich mit Opfern solidarisieren und sich der menschenfeindlichen Hetze entgegenstellen. Ebenso kommen einzelne Staaten ihrer Pflicht nach, ihre Bürger*innen zu schützen, indem sie die Sozialen Netzwerke zu einer strikteren Verfolgung von Straftaten animieren. Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) kann als Beispiel für diese staatlichen Bemühungen herhalten, indem es den Sozialen Netzwerken erhebliche Geldbußen androht, wenn diese ihre Pflichten vernachlässigen.

Wem gehört die digitale Öffentlichkeit?

Doch halten sich die Sozialen Netzwerke an diese staatlichen Maßgaben oder kochen sie über dem Recht schwebend ihr eigenes Süppchen? Tagtäglich werden wir mit Enthüllungen konfrontiert, die beispielsweise den unethischen und rechtswidrigen Umgang von Facebook mit Daten betreffen. An anderer Stelle entlässt der neue Twitter CEO Mitarbeiter*innen, die sich in ihrer Arbeitszeit der Verfolgung von Hassnachrichten widmen. Die Gesetzestreue der Sozialen Netzwerke scheint vor diesem Hintergrund beliebig zu sein und verkommt zu einem Marketinginstrument.

Dass öffentliche Infrastruktur unter eine gewisse Form demokratischer Kontrolle gehört, würden wir aus einer demokratischen Perspektive bejahen. Öffentlich-rechtliche Medien sind aus meiner Sicht immer noch ein gutes Beispiel dafür, dass es gute Gründe gibt, die öffentliche Meinungsbildung nicht alleinig von den Gesetzen des Marktes bestimmen zu lassen. Und auch jede*r Marktradikale müsste sich eingestehen, dass Monopole wie Facebook, Twitter oder TikTok jedem Gedanken an einen freien Markt widersprechen.

Die Verlagerung der öffentlichen Debatte auf die Sozialen Netzwerke gleicht einer Monopolisierung der demokratischen Öffentlichkeit. Um es mit Habermas zu sagen, ist die Öffentlichkeit endgültig der Werbeindustrie ausgeliefert. Doch wem sollte die digitale Öffentlichkeit gehören? Ein Verfassungsorgan ist die Öffentlichkeit nicht. Es gibt keine Bundesgerichte, die über ihre Ausgestaltung vollends richten und keine festen Verfahren wie im Bundestag. Letztendlich werden die Bürger*innen demokratischer Gesellschaften für die Rückeroberung der Öffentlichkeit einstehen müssen.


Quellen:

Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Originalausgabe. Berlin: Suhrkamp.

Habermas, Jürgen (2021) [1962]: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft : mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990. 17. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 891).

Vallor, Shannon (2010). Social networking technology and the virtues. Ethics and Information Technology 12 (2):157-170.


Hans-Henrik Dassow hat Recht, Wirtschaft, Politik und Philosophie in Kiel, Bremen und Berlin studiert. Er forscht zu philosophischen Aspekten der Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche mit einem Fokus auf Gesundheitsdaten, Gamification, Machine Learning, Demokratie und Solidarität. Momentan arbeitet er an der Universität Bremen an seiner Dissertation zur Ethik von digitalen Gesundheitstechnologien unter dem Brennglas der Solidarität. Finanziert wird seine Forschung durch den Leibniz Science Campus Digital Public Health. Ihn fasziniert der interdisziplinäre Blick auf die digitale Welt. Gelegentlich verbringt er zu viel Zeit auf Twitter und YouTube.

Link zur Person: https://www.lsc-digital-public-health.de/ecra/projekte/ecra-hans-henrik-dassow.html

Kontakt: hdassow@uni-bremen.de

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